Erklärung der russischen NGOs vom 20.09.2010
Vom 13. – 16. September 2010 wurden in Moskau und einer Reihe anderer russischer Städte bisher in Ausmaß und Zielstrebigkeit beispiellose unangekündigte Massenüberprüfungen von Nichtregierungsorganisationen durchgeführt. Vertreter der Staatsanwaltschaft besuchten gleichzeitig die Büros einiger Dutzend führender russischer Organisationen, die in den Arbeitsbereichen Menschenrechte, Verteidigung öffentlicher Interessen und sozialökonomische Fragen tätig sind, darunter die Moskauer Helsinki-Gruppe, Memorial Moskau, die Vereinigung zur Verteidigung der Rechte von Wählern „Golos“, die Stiftung „Gesellschaftlicher Verdikt“, das Zentrum zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten, die russische Niederlassung von Transparency International, das Komitee gegen Folter, das Zentrum für Soziale und Arbeitsrechte, die Agentur für Soziale Information und das Institut für die Ökonomie der Stadt. Auf der Liste der auf diese Weise überprüften NGOs befinden sich die Namen von etwa 40 Organisationen.
Die Überprüfungen passierten gleichzeitig und unter Verletzung von Gesetzen. In einigen Fällen waren die Vertreter der Staatsanwaltschaft in Begleitung von Milizionären, gaben sich als Kuriere aus und erlaubten den Mitarbeitern, die sie hereingelassen hatten, nicht, ihren Besuch bei der Organisationsleitung anzukündigen. Den Zweck ihres Besuchs konnten die Vertreter der Staatsanwaltschaft und ihre Begleiter nicht wirklich erklären. Erst nach hartnäckigen Forderungen wurde den NGOs ein Fax mit Begründungen der Überprüfung zugeschickt. Aus diesem Fax ging aber lediglich hervor, dass die Überprüfung im Auftrag der Generalstaatsanwaltschaft, der Staatsanwaltschaft der Stadt Moskau oder der Staatsanwaltschaft des zentralen Stadtbezirks von Moskau geschehe und dazu diene, die „Übereinstimmung der Tätigkeit der Organisation mit den gesetzlichen Vorschriften für nichtkommerzielle Organisationen“ zum Inhalt habe. Die Prüfer verlangten die Bereitstellung einer großen Menge kopierter und beglaubigter Dokumente in kaum einzuhaltender kürzester Frist, darunter nicht nur die Satzungen der Organisationen und ihre Registrierungsdokumente, sondern auch Sitzungsprotokolle, Unterlagen der Buchhaltung, Steuererklärungen, und Finanzberichte. In einigen Fällen wurde den Betroffenen bis zum nächsten Morgen Zeit gewährt, in anderen wurde die auf der Stelle Bereitstellung der Dokumente verlangt.
Die Form der Überprüfung erinnerte an die Beschlagnahme von Beweisdokumenten auf Grundlage des Verdachts eines Gesetzesbruchs oder Verbrechens und entsprach in keiner Weise der angegebenen Begründung einer „Überprüfung auf Einhaltung der Gesetzgebung“. Dabei verwiesen die Prüfer auf Anweisungen ihrer Vorgesetzten bezüglich des außerordentlich dringenden Charakters der Aktion, „besonderer Kontrolle“, strenger Befehle der Vorgesetzten, auf sie erwartende Strafen, sollten sie die Dokumente ihren Chefs nicht fristgerecht liefern, und dass sie selbst nicht verständen, was geschehe. Einige der Prüfer erklärten, dass „irgendwelche Regelverletzungen finden müssen“.
Über die wahren Beweggründe dieser beispiellosen Überprüfungskampagne kann man nur spekulieren. Die offizielle Begründung hält keiner Kritik stand – üblicherweise werden Kontrollen der Gesetzmäßigkeit der Satzungen und Tätigkeiten von NGOs nicht so dringend und zeitgleich in Dutzenden von Organisationen durchgeführt. Insgesamt erweckt das Vorgehen der Staatsanwaltschaft den Eindruck einer Einschüchterungsstrategie zu folgen – auch wenn dies nicht ihre Zielsetzung gewesen sein sollte.
Dem NGO-Gesetz nach ist das Justizministerium das bevollmächtigte Kontrollorgan. In diesem Gesetz „Über nichtkommerzielle Organisationen“ sind die Regeln und Prozeduren für vom Justizministerium durchgeführte Prüfungen festgeschrieben. Unter anderem ist das Justizministerium verpflichtet, Prüfungen einige Tage im Voraus anzukündigen, eine konkrete Liste der verlangten Dokumente aus bestimmten Zeiträumen vorauszuschicken, zudem ist die Dauer der Überprüfungen begrenzt. Entsprechende Normen, die Überprüfungen durch die Staatsanwaltschaft reglementieren würden, fehlen in der Gesetzgebung. Die Forderungen der Staatsanwaltschaft in den jetzt erfolgten Prüfungen enthielten weder eine Aufzählung der verlangten Dokumente, die überprüften Organisationen wurden nicht über ihre Beschwerderechte aufgeklärt, noch über die voraussichtliche Dauer der Überprüfungen informiert. Die Prüfungen der Staatsanwaltschaft geschahen ganz offensichtlich parallel zu den Kontrollfunktionen des Justizministeriums und der Steuerbehörden.
Das Gesetz der Russischen Föderation über die Staatsanwaltschaft, insbesondere sein Paragraph 22, auf den sich die Vertreter der Staatsanwaltschaft bei ihren Anfragen beriefen, berechtigt nur beim Vorhandensein von konkreten Hinweisen auf einen Gesetzbruch zu Überprüfung. Von möglichen Gesetzesverletzungen ist unterdessen in den Anforderungen der Staatsanwaltschaft nicht die Rede. Es ist schwer vorstellbar, dass plötzlich, an einem einzigen Tag 40 führende Organisationen in den Verdacht gesetzeswidriger Tätigkeiten gerieten.
Es ist offensichtlich, dass die Behörden der Staatsanwaltschaft bei der Durchführung staatlicher Kontrolle das von der russischen Verfassung garantierte Recht auf Vereinigungsfreiheit, gegen das NGO-Gesetz und das Gesetz zum Schutz der Rechte juristischer Personen bei staatlichen Kontrollen verstoßen haben.
In den zwanzig Jahren der Existenz von Nichtregierungsorganisationen im demokratischen Russland, ist eine solche Überprüfungskampagne beispiellos. Eine solche Praxis ist in den Beziehungen zwischen Regierung und Zivilgesellschaft unzulässig. Wir sind von dieser präzedenzlosen Kampagne des Drucks auf Nichtregierungsorganisationen empört und verlangen von der Leitung der Generalstaatsanwaltschaft und der Leitung der Staatsanwaltschaft der Stadt Moskau Aufklärung über Gründe und Begründung Überprüfungen. Wir bestehen auf die Einhaltung der Rechte von Nichtregierungsorganisationen in Einklang mit der Gesetzgebung der Russischen Föderation und den internationalen Rechtsnormen für Vereinigungsfreiheit.
- Мoskauer Helsinki-Gruppe
- Zentrum zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten
- Vereinigung zur Verteidigung der Rechte von Wählern „Golos“
- Stiftung „Gesellschaftliches Verdikt“
- Memorial Moskau
- Russische Niederlassung von Transparency International
- Agentur für Soziale Information
- Zentrum für Sozial- und Arbeitsrechte
- Regionale gesellschaftliche Organisation der Invaliden „Perspektive“
- Stiftung „Institut für die Ökonomie der Stadt“
- Stiftung „Nachhaltige Entwicklung“
- Unabhängiges Institut für Sozialpolitik
- Internationales Komitee gegen Folter
- Assoziation AGORA, Nischnij Nowgorod
- Internationale Jugendbewegung für Rechtsschutz
- Bürgerrechtsorganisation „Bürgerkontrolle“, St. Petersburg
- Stiftung zur Verteidigung von Glasnost
- „Offene Alternative“, Togliatti
- Komitee zur Hilfe von Flüchtlingen und Zwangsumsiedler „Bürgerbeteiligung“
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Lesen Sie auch die Pressemitteilung der Heinrich-Böll-Stiftung zum Thema.