Die demokratischen Kräfte in Belarus brauchen unsere Solidarität

 Verletzter Demonstrant in Minsk am 19. Dezember. Foto: mb7art Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

6. Januar 2011
Wolfgang Templin und Max Rust.
In den Herbstmonaten vor der belarussischen Präsidentschaftswahl schien das Land auf ungewöhnliche Entwicklungen zuzutreiben. Unter der Wirkung von EU-Sanktionen und in Fortsetzung seines geopolitischen Schaukelkurses hatte „Europas letzter Diktator“ Alexander Lukaschenko nach 2008 politische Gefangene in Freiheit gesetzt und zwei vorher verbotene oppositionelle Zeitungen – Nascha Niva und Narodnaja Volja - zugelassen. Er zürnte immer stärker mit Russland und gab deutliche Signale in Richtung Europäischer Union.  

Vertreter/innen der weiterhin zersplitterten politischen Opposition konnten ungehinderter auftreten, ihre Reisefreiheit wurde nur noch selten eingeschränkt. Optimisten unter den Beobachtern und ausländischen Politikern sahen bereits Chancen auf halbwegs freie und faire Wahlen. Andere Stimmen wollten von einer Amtsmüdigkeit Lukaschenkos wissen und handelten Nachfolgekandidaten aus den moderneren Teilen des Machtapparates.

In einer geschlossenen Runde von EU-Botschaftern ließ die litauische Präsidentin ihren Amtskollegen zum Garanten der wirtschaftlichen und politischen Stabilität sowie der Unabhängigkeit von Belarus werden. Oppositionelle Internetseiten des Landes quittierten das als „politische Prostitution Europas“.

Wer in den Monaten vor der Wahl in Belarus unterwegs war, spürte auf Schritt und Tritt Anzeichen für Veränderungen. Kandidaten der Opposition, die von Benachteiligungen und Einschränkungen sprachen und nicht an wirklich freie Wahlen glaubten, gaben sich dennoch gute Chancen. Vertreter der offiziellen Seite, ob der Präsidialadministration, regionaler oder lokaler Behörden, ließen moderate und europafreundliche Töne vernehmen. Junge Vertreter einer selbstbewussten Zivilgesellschaft, die sich von den Streitereien der alten Oppositionellen distanzierten, sahen die Tage von Lukaschenko gezählt.

Bei ihrem Besuch von Anfang November drängten die Außenminister Polens und Deutschlands Alexander Lukaschenko für freie und faire Wahlen Sorge zu tragen. Der nutzte die Gelegenheit zu gemeinsamen Fernsehauftritten und erklärte, dass die Präsidentschaftswahlen in Belarus immer frei und fair waren. Darüber hinaus versprach er alles und nichts. Bis kurze Zeit vor den Wahlen schien dennoch vieles offen zu sein.

Anfang Dezember stattete der russische Präsident Medwedjew Polen einen Blitzbesuch ab, sprach vom Durchbruch in den russisch-polnischen Beziehungen und übte sich in eindrucksvollen Gesten historischer Versöhnung. Kaum nach Moskau zurückgekehrt, kam es dort zum Blitzbesuch von Alexander Lukaschenko. In verschlossenen Verhandlungen rang der belarussische Präsident der russischen Seite erhebliche wirtschaftliche Zugeständnisse ab und zeigte danach triumphierend sein altes Gesicht. Er hatte sich bei den Bedingungen für die Vergabe weiterer Kredite und den Preisen für Erdöllieferungen weitgehend durchgesetzt und dafür den Beitritt Belarus zur Zollunion mit Russland und Kasachstan akzeptiert. Es konnte keine Rede davon sein, dass Moskau einen anderen Kandidaten als ihn, für die erneute Präsidentschaft favorisieren würde.


Wahlausgang, Proteste, Prügelorgien und Massenrepressalien
In den vorangegangenen Jahren waren es einzelne Integrationsfiguren, wie Alexander Milinkiewitsch, die als Präsidentschaftskandidaten das politische Gesicht der belarussischen Opposition prägten. Diesmal versuchten weit über ein Dutzend mehr oder weniger bekannter Oppositioneller die Hürde von hunderttausend Unterstützerunterschriften zu nehmen. Neun von ihnen schafften es. Sie wurden damit zu Konkurrenten Alexander Lukaschenkos. Alexandr Milinkiewitsch trat nicht wieder an, Personen wie der Grüne Juri Gluschakov scheiterten knapp an der Unterschriftenhürde. Zu den bekanntesten Oppositionskandidaten zählten der DichterVladimir Nekljajev und der ehemalige stellvertretende Außenminister und Leiter der Kampagne „Europäisches Belarus“ Andrej Sannikov.

Alle Kandidaten der Opposition waren mit den gleichen Problemen konfrontiert. Der fehlende oder erschwerte Zugang zu den Massenmedien, ihre fehlende Verankerung in den Regionen und die äußerst beschränkten Ressourcen, über welche sie verfügten, machten das Ganze zu einem Kampf von David gegen Goliath. Der Idealismus eines Heeres von Freiwilligen für einzelne Kandidaten und der Weg über moderne Medien sollten hier einen gewissen Ausgleich schaffen. Ein absoluter Sieg von Lukaschenko bereits im ersten Wahlgang war - anders als früher - alles andere als sicher. Sollte er die absolute Mehrheit verfehlen, wäre es aus gewesen mit der Aura des allmächtigen und allgeliebten Landesvaters. Was ihm blieb, war der bewährte Weg, dem gewünschten Wahlergebnis rechtzeitig nachzuhelfen. Die einseitige Zusammensetzung der Wahlkommissionen, fehlende Kontrollen bei der Stimmenauszählung und der Zusammenfassung der Ergebnisse und ein ausuferndes System der vorzeitigen Stimmabgabe boten diversen Manipulationen Raum. Dazu kam die massierte Wahlempfehlung für staatliche Angestellte, Studenten und Militärangehörige.

Alexandr Lukaschenko konnte sich eines großen Teils der Wähler sicher sein, die mit dem Argument „Ich habe Arbeit, ein Haus und ein Auto“ für ihn stimmen würden und das belarussische Modell als Alternative zu Ländern wie der krisengeschüttelten Ukraine sahen. Die Frage war nur, wie viele diesem Argument folgten und nicht doch von den realen Veränderungen im Land, von der Sehnsucht nach Freiheit und europäischer Entwicklung angesteckt waren.


Strategie der präventiven Gewalt
Um die Ursachen der Provokationen, des brutalen Zuschlagens, der Verhaftungen und Repressalien wird bis heute viel gerätselt. Kenner der Situation und der inoffiziellen Prognosen, die es am Wahlabend gab, gehen davon aus, dass Lukaschenko erstmals mit der realen Situation konfrontiert war, vorn zu liegen aber die absolute Mehrheit verfehlt zu haben und sich einem zweiten Wahlgang stellen zu müssen. Er konnte zwar das Ergebnis manipulieren, musste aber bei der Anwesenheit ausländischer Wahlbeobachter und zahlreicher unabhängiger Freiwilliger, die den Wahlgang begleiteten, eine Flut von Folgeprotesten befürchten. Was blieb, war die Flucht in die Variante der Gewalt. Auf seiner Seite wusste er dabei die Teile des Sicherheitsapparates und der Administration, deren Schicksal untrennbar mit seiner Person verbunden war. Vor der Gefahr der Gewaltvariante hatte der oppositionelle Dichter und Gegenkandidat Nekljajev, bereits eine Woche vor der Wahl, in einem Interview mit der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza gewarnt. „Später wird und muss er jedoch erneut mit dem Westen verhandeln“, fügte er hinzu und blieb auch dabei prophetisch.

Alexandr Lukaschenko erklärte sich noch am Wahlabend mit 79% der Stimmen zum Wahlsieger, während ihm unabhängige Beobachter nicht mehr als 40% gaben und damit die Wahl in Frage stellten. In der größten Massendemonstration seit vierzehn Jahren belagerten kurze Zeit später Zehntausende das Parlamentsgebäude in Minsk. Rekonstruktionen der Ereignisse, Fotoaufnahmen und Zeugenaussagen belegten, dass es Provokateure waren, die Steine warfen und den Vorwand für die folgenden Exzesse lieferten. Nekljajev wurde bereits auf dem Weg zur Demonstration, eine Stunde vor den Ausschreitungen zusammengeschlagen, ein weiterer Beleg für die Inszenierung.

Noch am Abend und im Laufe der Nacht gab es nach den Prügelorgien sowie hunderte von Verhaftungen und Razzien. Neben Andrej Sannikov, der ebenfalls schwer verletzt wurde und in Haft kam, traf es noch weitere Präsidentschaftskandidaten. Über die unglaubliche Brutalität hinaus zeigte sich aber noch ein anderes Phänomen, dass erhebliche Risse in den Machtstrukturen offenbarte. Insgesamt waren Teile der Armee, Spezialeinheiten der Miliz, des Sicherheitsdienstes KGB, der OMON und der Anti-Terroreinheit Almaz eingesetzt. Damit wurde die Einstufung der Demonstranten als Terroristen nahegelegt. Ein Teil der Einheiten handelte nach genauem Plan und griff zielgerichtet ein, andere wirkten völlig uninformiert, desorientiert und agierten eher wie Statisten.

In den Folgetagen wurde deutlich, dass dies kein Zufall war, da Mitglieder und Kommandeure einzelner Einheiten versetzt und kaltgestellt wurden. Abgelöst wurde auch der Chef der Sondereinheit Almaz. Die Säuberungen machten vor den zivilen Teilen der Staatsgewalt nicht halt, reichten in die Ministerien und den Regierungsapparat hinein. Alles Anzeichen dafür, dass dort sehr wohl bereits nach einer Alternative zu Lukaschenko gesucht wurde.


Peitsche und Zuckerbrot
Den selbstgekürten Präsidenten musste die Hoffnung umtreiben, dass die Weihnachtsfeiertage und der Jahreswechsel Proteste des Westens verzögern und abschwächen würden. Anhaltende Repressionen und die Androhung hoher Strafen sollten den entschiedenen Teil der Opposition paralysieren und ruhigstellen. Für kompromissfähige Vertreter, die sich zu Schuldeingeständnissen und Ergebenheitsgesten treiben ließen, wurden baldige Freiheit und Milde in Aussicht gestellt. Sie selbst oder ihre abgepressten Erklärungen wurden in den Massenmedien präsentiert und sollten die Legende von der unverantwortlichen, gewalttätigen Opposition untermauern. Wie die Vergangenheit zeigte, gelang es damit nur allzu oft, einen weiteren Keil in die Opposition zu treiben.

Über den Jahreswechsel hinaus, bestimmte ein dramatisches Auf und Ab die Folgeereignisse. Am 5. Januar waren nur noch einundzwanzig der ursprünglich über sechshundert Inhaftierten im Gefängnis, andere wurden unter Auflagen freigelassen oder unter Hausarrest gestellt. Dafür gab es jeden Tag neue Hausdurchsuchungen und Konfiskationen in Redaktionen und Parteibüros der Opposition, als letztes im Büro des Belarussischen Helsinki –Komitees, dessen Vorsitzender Aleh Hulak, massiv bedroht wurde. Die Schließung des Minsker – OSZE-Büros bedeutete hier einen vorläufigen Höhepunkt.   

Den vier noch in KGB-Gefängnissen festgehaltenen Präsidentschaftskandidaten, darunter Neklajev und Sannikov und einigen anderen Oppositionellen, die als Rädelsführer angesehen werden, droht die Anklage wegen Staatsverrats, worauf bis zu fünfzehn Jahre Haft stehen. Eine weitere Verschärfung der Anklage lässt eine Haftstrafe von fünfundzwanzig Jahren zu.

Wenigstens ließen sich Meldungen, dass den Inhaftierten die Todesstrafe drohe, nicht bestätigen. Ihr Zugang zu Familienangehörigen und Anwälten ist weithin unterbrochen, weniger bekannten Oppositionellen und Anhängern der Opposition droht das gesamte Spektrum ziviler Repressionen. Dazu gehören der Verlust des Arbeits- oder des Studienplatzes, der Bewegungsfreiheit im Land und der Auslandspässe. Nicht alle sind bereit zu Märtyrern zu werden; sie resignieren und versuchen sich zu arrangieren.

Auch nach außen setzte Lukaschenko erneut auf seine Doppelstrategie, riskierte höhnische Töne gegenüber Moskau, gab nebelhafte Ankündigungen für wirtschaftliche Liberalisierung und nahm die vereinzelten Glückwünsche, wie des venezolanischen und des iranischen Präsidenten Chavez und Ahmadinedschad entgegen. Lange wird dieser Beistand nicht tragen, neue Manöver des Diktators werden fällig sein.


Solidarität der Demokraten
In den folgenden Wochen und Monaten wird eine Menge davon abhängen, zu welcher Strategie und Konsequenz sich die Europäische Union, einzelne europäische und außereuropäische Länder gegenüber Lukaschenko entschließen. Nach einer kurzen Pause der Erschütterung und verzögerter Reaktionen, unmittelbar nach dem 19.12. kam es bereits über die Weihnachtsfeiertage zu Stellungnahmen und Initiativen, die Hoffnung machen können. Vertreter von EU-Institutionen, einzelne Politiker und zahlreiche Vertreter des öffentlichen Lebens zeigten Solidarität und forderten politische Schritte ein, deren Konsequenzen die Richtigen treffen, ohne Belarus erneut zu isolieren, auszugrenzen und die Bevölkerung für das Regime in die Haftung zu nehmen.

Die Inkonsequenzen und Sackgassen bisheriger europäischer Belaruspolitik, dürfen sich nicht wiederholen. Bei allen Fehlern, welche die Vertreter der belarussischen Opposition erneut machten, ihrer anhaltenden Zersplitterung und fehlenden Koordinierung, erkämpften sie eine neue Situation. Sie zeigten dem belarussischen Diktator und seinem Anhang in alles andere als fairen Wahlen die Grenzen ihrer Macht. Mit der vollen Gewalt des Regimes konfrontiert und zur Kapitulation aufgefordert trotzen die meisten von ihnen mit unglaublichem Mut und Standhaftigkeit den Haftbedingungen und Repressalien. Die Freilassung der Inhaftierten muss deshalb das erste Ziel aller Anstrengungen sein.

Angehörige und Anhänger der inhaftierten Oppositionellen riefen mittlerweile eine Bürgerinitiative „Befreiung“ ins Leben, in der sie die Vereinigten Staaten und die Europäische Union aufrufen, sich für die Schaffung einer internationalen Untersuchungskommissionkommission über die Ereignisse des 19. Dezember einzusetzen.

Allen Oppositionellen, die in Freiheit und dennoch bedroht sind, ihren Unterstützern und den Vertretern der belarussischen Zivilgesellschaft, die sich für demokratische Verhältnisse und Werte einsetzen, muss jede nur denkbare Unterstützung zu Teil werden. Dafür gibt es bereits jetzt wichtige Möglichkeiten und Instrumente. Vorschläge und Initiativen, wie die Aufnahme belarussischer Studenten, die von Exmatrikulation betroffen oder bedroht sind, sowie schnelle Visaerleichterungen für die belarussische Bevölkerung, gehören dazu.

Umgekehrt werden die gezielten Reisesperren und Sanktionen, die sich jetzt gegenüber hundert Personen des Führungskerns um Lukaschenko und den Präsidenten selbst richten sollen, eine empfindliche Wirkung zeigen.

Viele weitere mögliche politischen und wirtschaftlichen Sanktionen, müssen nach ihren Wirkungen sorgfältig diskutiert werden. Für die Kompliziertheit dieser Fragen steht die EU-Initiative der östlichen Partnerschaft. Polen setzte sich seiner eigenen Freiheitstradition folgend, in den letzten zwanzig Jahren unter wechselnden Regierungen immer wieder für die Freiheit seiner östlichen Nachbarn ein und verstand sich als Brücke in den Osten. Folgerichtig wurde es 2008 zum Mitbegründer der EU-Initiative der „östlichen Partnerschaft“. Über den Rahmen bisheriger Nachbarschaftspolitik hinaus, versucht hier die EU den Annäherungsprozess und den möglichen europäischen Weg von sechs heterogenen Staaten zu fördern. Ländern, die als Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion in die Zerreißprobe gestellt sind, im alten oder neuen postsowjetischen Autoritarismus zu verharren oder sich ihren eigenen Weg zur Demokratie und damit zu einer Beitrittsperspektive für die EU zu bahnen. In dieser offiziellen EU-Initiative nehmen erstmals Vertreter der Zivilgesellschaften aller beteiligten Länder einen entscheidenden Platz ein, besitzen dort ein eigenes Forum und sind in alle Aktivitäten der Initiative einbezogen. Eine besonders aktive Rolle spielen hier die selbstbewussten Vertreter der belarussischen Zivilgesellschaft. Ein jetzt bereits andiskutierte Ausschluss Belarus aus der östlichen Partnerschaft, würde sie empfindlich treffen. Vielleicht müssen jedoch die Strukturen und Förderinstrumente der Partnerschaft neu diskutiert werden?

Diese und andere Fragen zeigen die Dringlichkeit einer koordinierten EU-Politik gegenüber dem östlichen Europa und damit auch Belarus. Einer Politik, die ein gutes Verhältnis zu Russland einschließt, ohne dass es die Spielregeln dieser Beziehung bestimmen darf. Die erste Tagung der EU-Kommission unter ungarischer Ratspräsidentschaft findet am 7.01. statt und wird sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Ihre Beschlüsse werden zeigen, wie es um die Solidarität europäischer Demokratien bei brutalsten Menschenrechtsverletzungen vor der eigenen Haustür bestellt ist.  


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