Was geschieht mit Ungarn?

Sind sich nicht immer einig: Vizepräsident des Europaparlaments Lambrinidis, Staatspräsident von Ungarn Schmitt, Präsident der Europäischen Kommission Barroso und Ministerpräsident von Ungarn Orbán. (v.l.n.r.)
Bild: Europäische Kommission, Dudás Szabolcs. Lizenz: Creative Commons BY 2.0. Original: Flickr.

13. Januar 2011
Peter Rauschenberger
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Mein Land, Ungarn, war für seine Region einst eine Insel der Beständigkeit und des Konstitutionalismus. Durch die, von manchen als „verfassungsgemäße Revolution“ bezeichneten Ereignisse von 1989/90, hielt die liberale Demokratie Einzug. Statt Führer, gleich wie charismatisch, an die Macht zu bringen, entstand während des Übergangsprozesses eine Mehrparteiendemokratie mit Gewaltenteilung, Pressefreiheit, unabhängiger Justiz und einem ausgewogenen System von Verfassungsorganen. Der Wandel war dramatisch genug, um zu Recht als Revolution bezeichnet zu werden. Dennoch erfolgte all dies im Rahmen rational geführter Verhandlungen, deren Ergebnis der Verfassungszusatz von 1989 war, durch den 1990 freie Wahlen möglich wurden. Abgeschlossen wurde der Übergang durch mehrere wichtige Gesetze, die, gemäß der neuen Verfassung, im Parlament eine Zwei-Drittel-Mehrheit benötigten. Die Regierung musste deshalb mit der Opposition Kompromisslösungen finden. Hinzu kam eine Reihe wichtiger Entscheidungen des Verfassungsgerichts. Und obwohl von rechts außen lange schon gegen die Verfassung von 1989 gehetzt wurde, da sie formal nichts weiter sei, als eine Erweiterung der alten Verfassung aus den Zeiten des Kommunismus, hielten sich während der letzten zwei Jahrzehnte doch alle wichtigen politischen Kräften weitgehend an ihren Wortlaut und Geist. Nun auf einmal, nach zwei Jahrzehnten, macht mein Land Schlagzeilen, nicht weil es die rotierende Präsidentschaft der EU übernimmt, sondern weil die neue Regierungspartei, nach ihrem überwältigenden Wahlsieg 2010, nun entscheidende Teile der Verfassung in Frage stellt.

In Bezug darauf haben Einige zuletzt mein Land „einen hässlichen kleinen Staat“ genannt. Für andere ist Ungarn ein zweites Weißrussland und Premierminister Orbán ein zottiger Barbar, der die Türen der EU in Brüssel eintritt. Zwar bin ich entschieden gegen die aktuelle Regierung, sehe solche Bemerkungen aber dennoch als beleidigend an. Die Regierung international unter Druck zu setzen, kann helfen – aber nur dann, wenn die dahinter stehende Kritik auf Fakten beruht, objektiv und gerecht ist. Ungarn ist keine Diktatur, Orbán kein Ungeheuer. Was er und seine belanglosen Ja-Sager (und sehr wenigen Ja-Sagerinnen), die mehr als Zweidrittel der Sitze im Parlament halten, tun, gefährdet die Grundlagen, auf denen unsere Republik vor zwanzig Jahren errichtet wurde. Im Folgenden will ich nichts weiter tun, als einen sehr knappen Überblick darüber zu geben, welche bedeutenden Änderungen sich bislang ereignet haben.

Seit den Wahlen vom April 2010 hat das Parlament eine gewaltige Anzahl von Gesetzen verabschiedet. Nur eine geringe Zahl davon wurde von der Regierung eingebracht; die Mehrheit kam von Abgeordneten der Regierungspartei. Durch diesen Kniff werden die Verfahrensvorschriften, die das Informationsfreiheitsgesetz und weitere Gesetze vorsehen, ausgehebelt, denn sie gelten nur für Gesetzesvorschläge, die von der Regierung kommen und haben das Ziel, dass der Prozess der Gesetzgebung angemessen und transparent abläuft und Betroffene ein Mitspracherecht haben.

Wiederholt wurden verfassungswidrige Gesetzentwürfe zusammen mit Vorschlägen für Verfassungsänderungen eingebracht. Da das Bündnis von Fidesz und KDNP im Parlament eine Zweidrittelmehrheit hat, wurde die Verfassung bereits mehrfach geändert, um so zu verhindern, dass das Verfassungsgericht neue Regelungen kassiert. Ein bedeutendes Beispiel ist der Fall rückwirkender Gesetze. Die neue Regierung beschloss eine rückwirkend ab 1. Januar 2010 geltende Steuer von bis zu 98 Prozent auf Entschädigungen für den Verlust des Arbeitsplatzes für den Fall, dass die entlassenen Personen im öffentlichen Dienst beschäftigt waren und die Höhe ihrer Entschädigung als „unanständig“ angesehen wurde. Diese Regelung wurde vom Verfassungsgericht kassiert. Als Reaktion darauf beschnitt die Regierung die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts in Fragen, die Haushalt und Steuern betreffen. Zudem wurde ein Verfassungszusatz verabschiedet, demzufolge Einkommen, die sich aus öffentlichen Mitteln speisen, bis zu fünf Jahre im Nachhinein besteuert werden können. Anschließend wurde das Gesetz über die Sondersteuer erneut ins Parlament eingebracht und verabschiedet. Durch einen weiteren Verfassungszusatz wurden die Regeln für die Ernennung von Verfassungsrichtern geändert. Bislang wurden diese Richter von einem Ausschuss vorgeschlagen, in dem alle im Parlament vertretenen Parteien durch ein Mitglied vertreten waren. Nun aber wird der Ausschuss entsprechend der Mehrheitsverhältnisse im Parlament besetzt, das heißt, solange Fidesz/KDNP eine Zweidrittelmehrheit im Parlament hat, schlägt sich dies entsprechend auch in der Zusammensetzung des Ausschusses nieder.

Die Regierung ändert aber nicht nur die aktuelle Verfassung, manchmal fast wöchentlich, sie bereitet auch eine neue Verfassung vor, die in einigen Monaten bereits verabschiedet werden soll. Darüber, ob eine neue Verfassung notwendig ist, gab es so gut wie keine Diskussion, und es ist schwer zu verstehen, warum die neue Regierung so rasch ans Werk geht. Nachdem die Befugnisse des Verfassungsgerichts, nach dessen Entscheidung gegen die rückwirkende Besteuerung, beschnitten wurden, verweigerten die Oppositionsparteien die Mitarbeit an dem Entwurf einer neuen Verfassung. Der Entwurf wird demnach, im Unterschied zu 1989, keine Grundsätze enthalten, über die sich sämtliche Parteien einig sind, sondern sie wird nur die Interessen der Regierungskoalition widerspiegeln (und da die KDNP eine abgestorbene Partei ist, die nur von Fidesz pro forma noch am Leben gehalten wird, wird es die Verfassung einer Partei sein).

In einem parlamentarischen System, in dem die Regierung vom Parlament ernannt wird, sind Legislative und Exekutive eng miteinander verzahnt. Die anderen Institutionen haben demnach die Bürde zu tragen, diese Machtkonzentration zu überwachen und zu begrenzen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten war hierbei das Verfassungsgericht am wichtigsten. Gleichfalls von Bedeutung sind jedoch die Befugnisse des Präsidenten und die Unabhängigkeit der Justiz.

Pál Schmitt, unser gegenwärtiger Präsident, war früher stellvertretender Vorsitzender von Orbáns Partei. Da der Präsident vom Parlament gewählt wird, mag es nicht ungewöhnlich scheinen, dass ein prominenter Politiker der Regierungspartei das Amt bekommt. Allerdings ist die Rolle des Präsidenten, der relativ geringe legislative Befugnisse hat, vor allem als moralische Autorität angelegt. Bislang galt stillschweigend, der Präsident solle eine angesehene Persönlichkeit sein, jemand, der über der Politik und dem Widerstreit der Parteien steht. Pál Schmitt hat kein Interesse an einer derartigen Unabhängigkeit. Eines der wenigen Mittel, mit denen der Präsident die Gesetzgebung beeinflussen kann, ist es, vom Parlament verabschiedete Gesetze an dieses zur Überarbeitung zurückzureichen oder sie dem Verfassungsgericht zur Begutachtung vorzulegen. Der vorige Präsident, László Sólyom, hatte davon häufig Gebrauch gemacht. Schmitt jedoch erklärte vor seiner Ernennung bei der Anhörung im Parlament, er wolle „der Gesetzgebung nicht im Wege stehen“. Und so hat er es auch gehalten. Er ist dabei so weit gegangen, dass er den Punkt „Prüfung der Verfassungskonformität von Gesetzen“ gleich ganz von der Website des Präsidenten Ungarns entfernen ließ.

Was die Unabhängigkeit der Justiz angeht, ist es merkwürdig, dass ein Unterausschuss des Parlamentsausschusses für Menschenrechte gebildet wurde, der Menschenrechtsverletzungen während der letzten zwei Wahlperioden (in denen Fidesz/KDNP in der Opposition war) untersuchen soll. Dieser Ausschuss lädt Richter vor, die sich vor ihm für ihre Entscheidungen rechtfertigen müssen. Der Ausschuss beschäftigt sich vor allem mit Gefängnishaft vor einem Prozess und speziell mit Fällen, in denen die Verhafteten gegen die Regierung protestiert hatten. Ich denke, dass die Praxis in unserem Lande, Angeklagte vor ihrem Prozess festzusetzen, in seiner gegenwärtigen Form haarsträubend ist, und das gilt vermutlich für die meisten Fälle, die der Unterausschuss untersucht. Hier muss sich etwas ändern. Dennoch ist mir nicht begreiflich, wie ein Ausschuss des Parlaments für sich in Anspruch nehmen kann, individuelle juristische Entscheidungen zu überprüfen – dies verstößt ganz offensichtlich gegen den Grundsatz der Gewaltentrennung.

Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang auch, dass die Amtszeit des Generalstaatsanwalts von sechs auf neun Jahre verlängert wurde, und ein ehemaliges Mitglied von Fidesz in dieses Amt gewählt wurde – dieselbe Person, die schon im Jahr 2000 das Amt inne hatte, als Fidesz erstmals einen eigenen Kandidaten benennen konnte.

Pressefreiheit ist für eine Demokratie so unverzichtbar wie die Gewaltentrennung und die Unabhängigkeit der Kontrollinstitutionen. Im Ausland hat das neue Mediengesetz für die größte Aufmerksamkeit gesorgt, wobei die Regierung Ungarns ihren Kritiker/innen vorwirft, dass sie den tatsächlichen Inhalt des Gesetzes nicht kennen. Ich denke, es ist am besten, wenn ich im Folgenden die Teile der neuen Regelungen, die ich für problematisch halte, im Einzelnen vorstelle.

Die neuen Regularien bestehen aus drei Teilen: aus einem Verfassungszusatz, aus der Verordnung 185/2010 zu Mediendiensten und Massenmedien und aus der Verordnung 104/2010 zur Pressefreiheit und grundlegenden Regeln der Medienberichterstattung. Alle drei Teile wurden, wie oben beschrieben, eingereicht – als Gesetzesvorschläge einzelner Abgeordneter und nicht als Gesetzesvorhaben der Regierung.

Die Regularien betreffen Radio, Fernsehen, Print- und Online-Medien, inklusive kommerzieller Blogs, das heißt solcher Blogs, die durch Werbung Einnahmen erzielen. Damit gehen sie weit über bisherige Regelungen hinaus, denn für Druckerzeugnisse und das Internet gab es bislang so gut wie keine inhaltlichen Vorschriften. Wie umfassend die neuen Regelungen sind, sieht man daran, dass sich nun alle Inhalte-Anbieter – dazu gehören auch Print und Online – bei einer neuen Medienaufsichtsbehörde registrieren lassen müssen (Artikel 41 von Verordnung 185/2010). Ziel der neuen Regelung scheint nicht weniger zu sein, als alle Mittel der gesellschaftlichen Kommunikation unter Aufsicht zu stellen.

Unglücklicherweise gelten für die Regulierung der Inhalte sehr allgemein gehaltene Richtlinien. In Artikel 4 von Verordnung 104/2010 heißt es beispielsweise, dass die Ausübung der Pressefreiheit nicht „gegen die öffentliche Moral verstoßen“ darf. In Artikel 17 (2) steht, dass „Medieninhalte Personen ... nicht beleidigen dürfen ..., noch irgendeine Mehrheit oder eine Kirche.“

Dazu kommen Richtlinien, die die meisten Medien unmöglich werden einhalten können. In Artikel 13 derselben Verordnung findet sich die Vorschrift, dass „alle Anbieter von Medieninhalten wahrhafte, zeitnahe und exakte Informationen über solche örtlichen, nationalen und EU-Angelegenheiten anbieten müssen, die für Bürger der Republik Ungarn und Angehörige der ungarischen Nation von Bedeutung sind.“ Da am Anfang der Verordnung der Begriff „Anbieter von Medieninhalten“ ausgesprochen weit definiert wurde, wird es den meisten davon betroffenen Medien nicht möglich sein, dies umzusetzen.

Wie die OSZE in ihrem Bericht über die neuen Regularien sehr treffen feststellte, handelt es sich dabei um „Fallstricke, denen die meisten Anbieter von Inhalten nicht entgehen können, was den Behörden die Möglichkeit gibt, sie zu bestrafen.“ Strafen können von der Medienaufsichtsbehörde verhängt werden, und, solange die Regeln so unklar und uneinhaltbar sind wie gegenwärtig der Fall, wird diese Behörde praktisch jederzeit jeden beliebigen Anbieter abstrafen können. Die Höhe der Strafen wie in Artikel 187 von Verordnung 185/2010 festgelegt, kann leicht Print- und Online-Medien, Radio- und Fernsehsender in den Bankrott treiben, vor allem dann, wenn sie wiederholt verhängt werden. Theoretisch kann die Verordnung dazu dienen, dass die Aufsichtsbehörde Medien, die ihr nicht passen, zum Schweigen bringt.

Problematisch an der Aufsichtsbehörde ist, dass ihre Mitglieder ausschließlich von Fidesz nominiert wurden. Die fünf Mitglieder wurden vom Parlament entsprechend des Vorschlags eines Ausschusses für neun Jahre gewählt (mit Ausnahme des Vorsitzenden, der vom Premierminister nominiert wurde). In diesem Ausschuss waren die Parteien entsprechend der Sitzverteilung im Parlament vertreten, und da Fidesz alle Mitglieder der Aufsichtsbehörde selbst bestimmen wollte, geschah dies auch. Zuvor hatten vergleichbare inhaltliche Bestimmungen nur für Radio- und Fernsehsender gegolten, und ihre Einhaltung wurde von einem Gremium überwacht, in dem Regierung und Opposition gleich viele Stimmen hatten.

Natürlich kann es sein, dass die Aufsichtsbehörde ihre Sanktionsmöglichkeiten nie gezielt politisch einsetzen wird. Selbst dann aber, durch die Drohung, dass ein Gremium, das eng mit der Regierung verbandelt ist, quasi nach Belieben harte Strafen verhängen kann, ist es gut möglich, dass Selbstzensur die Folge ist – etwas, das in Ungarn eine lange Tradition hat.

Hinzu kommt, dass Artikel 155 von Verordnung 185/2010 vorsieht, dass die Aufsichtsbehörde, wenn es darum geht, festzustellen, ob gegen Regelungen verstoßen wurde, die Geschäftsräume von Medienanbietern durchsuchen darf und „sämtliche Medien, die Daten enthalten, Dokumenten und Urkunden prüfen, untersuchen und kopieren darf – selbst dann, wenn diese gesetzlich geschützte Geheimnisse enthalten – solange sich diese auf das Anbieten von Mediendiensten oder die Veröffentlichung oder Ausstrahlung von Medienprodukten beziehen.“

Gemäß Artikel 6 (3) von Verordnung 104/2010 kann ein Gericht oder eine Behörde (ohne das weiter ausgeführt würde, welche) Anbieter von Medieninhalten und deren Angestellte auch dazu verpflichten, die Identität von Quellen preiszugeben – und zwar aus Gründen, die so vage sein können wie die Absicht, die „öffentliche Ordnung“ aufrechtzuerhalten.

Dies sind nur einige der Besorgnis erregenden Einzelheiten der neuen Regularien. Dessen ungeachtet findet die neue Ordnung bereits begeisterte Anhänger unter den neu ernannten Leitern der staatlichen Medien, so den Geschäftsführer der staatlichen Nachrichtenagentur, der kürzlich in einem Interview erklärte: „Ein Journalist im öffentlichen Dienst darf nicht der Feind der Regierung sein und sollte die Befugnisse des frei gewählten Kabinetts nicht anzweifeln. Man kann kein Amt annehmen und sich dann gegen die wenden, die einen ernannt haben.“ Was soll man da noch sagen?

Ich bin mir noch nicht sicher, wie ich die Entwicklungen einschätzen soll. Ich möchte sie nicht herunterspielen, aber ich bin mir ganz sicher, dass Premierminister Orbán nicht versucht, eine Diktatur zu errichten. Er gehörte zu denen, die persönlich viel aufs Spiel gesetzt haben, um unsere letzte Diktatur zu stürzen, und er hat sicher kein Interesse daran, eine neue zu errichten. Ich glaube beispielsweise nicht, dass ihm sehr daran gelegen ist, eine neue Verfassung einzuführen, die sich sehr stark von der aktuellen unterscheidet – zumindest nicht im Hinblick auf die Machtverteilung im Staat. Die Verfassung von 1989 gibt dem Premierminister, im europäischen Vergleich, eine sehr mächtige Position, und ich denke, Orbán ist damit ganz zufrieden. Die Änderungen werden, so vermute ich, vor allem symbolischer Natur sein, das heißt man wird die Präambel um klare Bezüge auf das Christentum, die Stephanskrone und andere Dinge, die Orbáns Wählerschaft wichtig sind, ergänzen. Viel mehr wird nicht passieren. Zwar bin ich mir sicher, dass Orbán die Rechtsextremisten verabscheut, dennoch steht er mit ihnen im politischen Wettbewerb. Als ein Führer, der die Verfassung um wesentliche christliche, nationale und traditionelle Elemente ergänzt hat, wird es ihm leichter fallen, die Rechten auf einige Zeit an den Rand des politischen Spektrums zu drängen. Auch glaube ich nicht, dass er die Beschränkungen und Kontrollmechanismen, denen die staatliche Macht unterliegt, aushebeln will. Eher denke ich, er hält sie für wenig wichtig, solange nur er selbst an der Macht ist.

Dadurch, dass er vermeintlich unabhängige Institutionen zum Teil auf neun Jahre hinaus kontrolliert, indem er Posten an seine Kumpane vergibt, sichert er sich einen großen politischen Handlungsspielraum – auch über seine Amtszeit hinaus, wenn dies die Möglichkeiten einer Regierung anderer Couleur deutlich beschneiden kann. Damit dies nicht allzu bald, möglicherweise schon bei den nächsten Wahlen, geschieht – da bin ich mir sicher – ist Orbán durchaus bereit, harte Bandagen anzulegen. Dazu gehört, Kernpositionen in den Medien zu besetzen. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte die politische Rechte in Ungarn stets das Gefühl, von den Medien benachteiligt zu werden. Orbán will dies ändern, und ich denke, für ihn ist das ein langfristiges strategisches Ziel.

Aber selbst dann, wenn Orbáns Motive nachvollziehbar sind und er nicht die Absicht hat, eine Diktatur zu errichten, hat er doch großen Schaden angerichtet. In einer politischen Kultur ohne lange demokratische Tradition ist es schwierig, Verständnis für und Vertrauen in eine gerechte, ausgewogene Verfassung herzustellen und die Menschen dazu zu bringen, diese zu verteidigen. Viel leichter lässt sich all das zerdeppern. Viele Normen, von denen wir glaubten, fast alle politischen Akteure ständen hinter ihnen, beginnen sich nun in Luft aufzulösen. Beschädigt wird so die moralische Basis unserer Demokratie, und der Schaden wird nur sehr schwer wieder gut zu machen sein. Wichtig wäre es, zu verstehen, wie wir an diesen Punkt gelangen konnten – und wie es möglich ist, dass eine derartige Politik breite öffentliche Unterstützung genießt. Solche Überlegungen, allerdings, sind jenseits dessen, womit sich dieser Artikel auseinandersetzen kann.

Peter Rauschenberger (Ecopolis Foundation) ist Mitbegründer der grünen Partei LMP („Lehet Más a Politika“/„Politik kann anders sein“).

Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Herrmann.

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