Die Verfassung und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen

Ist die Umwelt in der Verfassung ausreichend geschützt? Ist der Schutz der Umwelt im Grundgesetz gleichrangig mit entgegenstehenden Interessen? Ausgabe 14 der Reihe Vordenken blickte aus ökologischer Perspektive auf das Grundgesetz. ➤ Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Ökologie und Nachhaltigkeit.

Der 15. Abend der von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie veranstalteten Reihe „Vordenken, Ökologie und Gesellschaft“ am 24.11.2010 war der Frage gewidmet, inwiefern unsere Verfassung in der Lage ist, zur Lösung der drängenden ökologischer Fragen beizutragen, die für das Überleben der Menschheit von zentraler Bedeutung sind.

Der Moderator Dr. Manfred Linz, Autor wichtiger ökologischer Veröffentlichungen und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Wuppertal Instituts, führte in das Thema ein und wies darauf hin, dass das Grundgesetz von 1949 aus einer Zeit stamme, in der das Thema Umwelt kaum keine Rolle gespielt habe. Ökologisches Bewusstsein sei erst 1962 durch das die Gemüter erregende Buch Silent spring der bekannten amerikanischen Biologin Rachel Carsons geweckt worden, während heute die Wichtigkeit der Ökologie nicht mehr in Zweifel stünde. Daher sei heute die Rolle der Verfassung in der Umweltpolitik von großem Interesse.

Referent des Abends war Georg Hermes, Professor für öffentliches Recht an der Universität Frankfurt am Main und ausgewiesener Kenner des Grundgesetzes. In einem konzentrierten, höchst anregenden und das Problem in allen Facetten beleuchtenden Vortrag wies er nach, das die Bedeutung des Grundgesetzes für konkretes umweltpolitisches Handeln nicht zu unterschätzen ist.

Gleich zu Anfang machte er deutlich, dass er das Grundgesetz nicht als „System rechtsstaatlicher Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit“ sehe sondern es für ihn ein „grundlegender, auf bestimmte Sinnprinzipien ausgerichteter Strukturplan für die Rechtsgestalt unseres Gemeinwesens“ (Konrad Hesse) sei, von dem Antworten auf Fragen, die das Schicksal der Menschheit betreffen, zu erwarten seien.

Er unterschied zwischen zwei Funktionen der Verfassung, einmal als Grundsatzformulierung dessen, was wir sind, welche Ziele wir haben, wo wir stehen, zum andern als Maßstab verfassungsgerichtlicher Entscheidungen.

Sodann ging er der doppelten Frage nach, welche bremsenden Elemente das Grundgesetz für eine ökologische Politikgestaltung hat, und welche eine solche Politik fördernden Elemente es gerade durch die jüngere Entwicklung enthalte. Er hielt dabei fest, dass unsere Verfassung aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte in der Tradition des Liberalismus in der Ära der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts vor allem darauf ausgerichtet gewesen sei, dem Bürger Erwerbs- und Gewerbefreiheit zu gewährleisten, ihn vor staatlichen Eingriffen zu schützen und die politische Gestaltungsbefugnis des Staates einzuschränken. Aus dieser Perspektive müsse man vermuten, dass das Grundgesetz einem gezielt ökologisch handelnden Gesetzgeber hinderlich ist. Die Entwicklung unserer Verfassung sei aber angesichts der zunehmenden Umweltprobleme nicht stehen geblieben, was besonders in dem ihr 1994 zugefügten und 2002 ergänzten Artikel 20a zum Ausdruck komme, an dem eine vorsichtige Neuinterpretation der Grundrechte zu erkennen sei.

Seit 1949 lasse sich ein dynamischer umweltpolitischer Prozess beobachten, bei dem durch gesetzliche Maßnahmen Probleme von Umwelt-, Naturschutz und Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen einer Lösung nähergebracht worden seien. Dabei sei es immer wieder zu Konflikten gekommen, da von den umweltpolitischen Maßnahmen betroffene Eigentümer, Unternehmer, Bauern und andere sich unter Berufung auf die Wirtschaftsgrundrechte wie Eigentumsrecht und Berufsfreiheit vor Gericht gezogen seien. Als prominente Beispiele nannte Hermes den Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie durch die Rot-Grüne Regierung, die Einführung des Emissionshandels, das Gentechnikgesetz, das Energiespargesetz. In keinem dieser Fälle habe es Entscheidungen des Verfassungsgerichts gegeben, die dem Umweltgesetzgeber Steine in den Weg gelegt hätten, und bei fortschrittlicher Umweltgesetzgebung habe es bisher noch keinen ernsthaften Widerstand unter Berufung auf Grundrechte gegeben. (Es werde allerdings im Zusammenhang mit der Erweiterung des Energiespargesetzes in der Frage der Altbausanierung noch zu Konflikten kommen, da auf die Eigentümer teilweise erhebliche Kosten zukämen, die sie kaum würden bezahlen können. Bei Neubauten stünden die gesetzlichen Auflagen bereits fest, seien aber im Sinn der Eigentümer, die per se Interesse am Einsparen von Energie hätten.) Die Verfassung behindere eine Politik, die umweltpolitisch gebotene, sinnvolle, nachvollziehbare und plausible Gesetze erarbeite, kaum.

Die Frage, ob die Verfassung auch Elemente enthält, die politische Organe zu umweltpolitischen Aktivitäten motivieren, beantwortete Hermes positiv und verwies auf den bereits erwähnten Artikel 20a GG, der grundlegend Neues enthalte. Es sei die erste Vorschrift im Grundgesetz, die den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verfassungsrechtlich zum Ausdruck bringe und damit den Übergang von einem ökonomischen Vorsorgestaat zu einem ökologischen Verfassungsstaat kennzeichne. Schutz der natürlichen Lebensgrundlage in Verantwortung für die künftigen Generationen stecke den Rahmen für eine konkrete Gesetzgebung ab. Das Gentechnikgesetz habe der BGH in einem aktuellen Urteil vom 24.11.2010 u.a. unter Berufung auf den Nachweltschutz bestätigt, der als Rechtfertigung für Eingriffe in die Berufsfreiheit der Bauern anerkannt worden sei.

Bezüglich der zweiten Funktion der Verfassung als Maßstab gerichtlicher Entscheidungen könnten die Erwartungen an § 20a GG nicht allzu hoch sein. Immerhin seien bisher jedoch zwei juristische Konturen des Staatsziels des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen zu erkennen, zum einen das Verschlechterungsverbot, nach dem der bisherige Stand an Umweltgesetzgebung und Normierung gewahrt werden müsse, zum andern das Staatsziel Berücksichtigungsgebot, das von der Gesetzgebung verlange, bei Entscheidungen, die sich negativ auf die natürlichen Lebensgrundlagen auswirkten, eine Kompensation für das, was der Gesetzgeber an negativen Folgen hervorgerufen habe, zu gewährleisten. Hierzu gab Hermes ein negatives Beispiel: Bei der Abwrackprämie von 2008 seien hohe Subventionen für die deutsche Automobilindustrie gezahlt worden, eine Kompensation der umweltschädigenden Folgen, wie es der Paragraph 20a eigentlich verlange, habe es jedoch nicht gegeben. Im Kommunal- und Verwaltungsrecht habe es ein Umdenken gegeben, auch hier könne inzwischen das Berücksichtigungsgebot gelten. Hätten Kommunen früher nur beschränkende Maßnahmen verlangen dürfen, wenn es um lokale Belange gegangen sei, können sie dies jetzt auch tun, wenn ihr Ziel über solche hinausgehe und sie einen Beitrag zum Umweltschutz leisteten, zum Beispiel beim Verbot von Heizpilzen.

Folgendes führte der Referent zum Problem interner Konflikte aus: Als Beispiele nannte er die Errichtung von Windlagen sowie den Ausbau von Leitungen, die mit Zielen des Naturschutzes unvereinbar sei. Hier kollidiere eine klimaschützende fortschrittliche Energiepolitik mit dem klassischen Naturschutz. Wie dieser Konflikt zu lösen sei, dazu gäbe es in Artikel 20a keine Vorschläge und er enthalte keinen Maßstab für konkrete gerichtliche Entscheidungen.

Das hochaktuelle Problem Leitungsausbau für bessere Energieversorgung habe auch eine soziale Dimension, nämlich eine möglicherweise drastische Erhöhung der Strompreise, mit der die Kosten für neue Leitungen auf die Bürger umgelegt würden. Einer Lösung werde man nur durch gemeinsames Nachdenken, bessere Information, Aufklärung und Beteiligung der Öffentlichkeit näher kommen.

In einem weiteren Schritt ging Hermes der Frage nach, ob im Zuge einer Dynamisierung des Umweltschutzes die in Artikel 12 und 14 thematisierten Grundrechte Berufsfreiheit und Eigentumsfreiheit von Abwehrrechten gegen umweltpolitische Maßnahmen zu Schutzpflichten werden könnten. Eine positive Entwicklung sei zu erkennen. Wenn sich vor dreißig Jahren ein Unternehmer mit emittierenden Industrieanlagen auf diese Artikel berufen habe, dann habe ein Nachbar, dessen Gesundheit und Leben dadurch beeinträchtigt worden sei, dem nichts entgegenzusetzen gehabt. Die Beeinträchtigung sei ja nicht durch den Staat verursacht worden und Grundrechte richteten sich gegen diesen.

Man habe erst spät versucht, die Dreiecksbeziehung zwischen Staat, Verursacher und beeinträchtigtem Dritten „grundrechtsdogmatisch“ in den Griff zu bekommen. Anlagenbetreiber hätten ein Abwehrrecht gegenüber staatlichen Eingriffen, wenn sie übermäßig, unverhältnismäßig und sinnlos seien, zugleich habe aber der betroffene Nachbar einen Anspruch darauf, dass ihn der Staat vor übermäßigen Beeinträchtigungen von Industrieanlagen schützt. Die sogenannte grundrechtliche Schutzpflicht, ursprünglich für den Schutz ungeborenen Lebens in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs entwickelt, sei inzwischen auch auf Umweltprobleme wie friedliche Nutzung der Kernenergie ausgedehnt worden und setze Maßstäbe für staatliche Risikofürsorge.

Allerdings könnten grundrechtliche Schutzpflichten beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen nur begrenzt hilfreich sein. Sie ermöglichten lediglich einen Umweltschutz, der im individuellen Interesse geltend gemacht werden könne und nur, wenn es um dramatische Beeinträchtigungen gehe, die individuell messbar seien.

Beim Klimaschutz gehe es aber nicht um individualisierbare, zuzurechnende Ereignisse, sondern um Entwicklungen, die alle gleich beträfen und mit Einzelgrundrechnen nicht in Griff zu bekommen seien. Grundrechtliche Schutzpflichten müssten evident und in krasser Weise verletzt sein, stark und nachweisbar sein, damit ein Einzelner klagen könne. Der Staat habe vielfältige Möglichkeiten, auf solche Beeinträchtigungen zu reagieren: Verbote, räumliche Trennungen, Beschränkungen, ihm steht das ganze Instrumentarium des Umweltrechts zur Verfügung. Welche Maßnahmen zu ergreifen sind, könne das Bundesverfassungsgericht nicht sagen. Daher sei die konkrete juristische Wirkung dieser Grundrechtsfunktion begrenzt.

Die Frage, ob wirtschaftliche Entwicklung, Mobilität, Bequemlichkeit einerseits und Umweltschutz auf gleicher Augenhöhe sind, verneinte Hermes. Grundrechte seien traditionell auf die Freiheit des einzelnen bezogen, die staatliche Kompetenz begrenzt. Grundrechte seien, erklärte er, ein Erbe der Aufklärung und der rechtsstaatlichen Entwicklung und es sei problematisch, um dem Staat in Umweltfragen mehr Handlungsspielraum zu geben und damit den Freiheitsbegriff zu relativieren. Eine Symmetrie zwischen Belangen der Umwelt und grundrechtlichen Freiheiten herzustellen, hält Hermes für problematisch und erläuterte das Problem an zwei Beispielen. Ende der 80er Jahre, als es noch kein Gentechnikgesetz gab, wurde vor dem Verwaltungsgericht Kassel ein Fall verhandelt, bei dem es um eine gentechnische Anlage ging, gegen die geklagt wurde. Das Gericht beauftragte damals den Gesetzgeber, Schutzpflicht und Gewerbefreiheit ins das richtige Verhältnis zu setzen. Die Anlage wurde verboten mit der Begründung, ihre Errichtung müsse vorher vom Gesetzgeber erlaubt werden. Die Konsequenz daraus sind gerichtliche Verbote im Interesse Dritter ohne Entscheidung des Gesetzgebers, eine weitgehende Konsequenz, die der Referent skeptisch beurteilt.

Zweites Beispiel ist die Vorstellung, die grundrechtliche Freiheit, Luft, Wasser und Boden in Anspruch zu nehmen, durch den Anspruch des Staates zu ersetzen, diese Rechte zu verteilen. Hier wird Freiheit, so meint Hermes kritisch, in den Anspruch auf staatliche Zuteilung von Freiheitschancen umgemünzt.

Unter der Voraussetzung, dass das Grundgesetz, wie bisher gezeigt, umweltpolitischer Gestaltung Raum gibt, nicht zu große Pflichten auferlegt aber den umweltpolitisch aktiven Gesetzgeber auch nicht in erheblichem Maß behindert, stellte der Referent die Frage, wie groß die Leistungsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems in Umweltfragen ist, und kam zu dem Schluss, dass Natur und Gemeingüter keinen institutionalisierten Platz in unserem System haben und im Demokratieprinzip nicht vorgesehen sind.

Er nannte zwei Alternativen, die in der aktuellen Diskussion stehen. Zum einen die zusätzliche Einführung plebiszitärer Elemente, um möglicherweise zu vernünftigeren und vorsichtigeren Entscheidungen zu kommen. In diesem Zusammenhang nannte er Großprojekte wie Stuttgart 21, Wackersdorf, Flughafen Frankfurt und sah plebiszitäre Elemente hier positiv. Er stellte aber zugleich die Frage, ob es sinnvoll sei, mehr solcher Elemente ins Grundgesetz aufzunehmen, wenn wie zu erwarten bei energetischer Sanierung und andere umweltpolitisch bedeutenden Maßnahmen, bei denen Bürger Beeinträchtigungen hinnehmen müssen, nicht mit deren Zustimmung zu rechnen ist.

Als zweite Alternative verwies er auf eine Entwicklung in Europa, bei der zunehmend unabhängige Experten die Politik beeinflussen wie es bei der Regulierung von Post, Telekommunikation und Eisenbahnen bereits der Fall ist. Regulierungsbehörden, so sagte Hermes, agierten unabhängig von ministerieller Weisung und unterstünden folglich keiner Kontrolle mehr durch Parlamente. Die Übertragung umweltpolitischer Aufgaben an solche Expertengremien, die möglicherweise fachbezogener und kompetenter entscheiden, sei vorstellbar. Diese könnten ökologische Fragen regeln, doch für die Folgen ihrer Maßnahmen für Wasser, Klima und Umwelt seien sie nicht verantwortlich. Hermes äußerte sich skeptisch zum Souveränitätsverlust, der mit solchen Expertengremien verbunden ist.

Zusammenfassend sagte der Referent, die programmatische Wirkung der Verfassungsänderung durch Art 20a sei nicht zu unterschätzen und kennzeichne den Übergang zum ökologischen Verfassungsstaat.

Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen im GG bringe die Möglichkeit der Einschränkung von Freiheitsrechten mit sich. Man dürfe aus ökologischer Perspektive von der Verfassung nicht zu viel erwarten, die in erster Linie die Aufgabe habe, Ordnung herzustellen und politische Prozesse zu stabilisieren. Das Grundgesetz lasse der gesetzlichen Ausgestaltung einer ökologischen Politik jedoch weiten Raum, wie das neue Umweltrecht, das Umweltinformationsgesetz und der Emissionshandel bewiesen. Deshalb solle man eher das Umweltverwaltungsrecht in den Blick nehmen als das Umweltverfassungsrecht.

Auch für Möglichkeiten, Öffentlichkeit und Sachverständige einzubeziehen lasse die Verfassung einen weiten Rahmen. Hermes betonte die Offenheit der Verfassung, die Experimente ermögliche und die Suche nach besseren Lösungen offen lasse.

In der anregenden Diskussion wurden zentrale und weiterführende Fragen erörtert, z.B. ob es sinnvoll ist, den Klimaschutz in Artikel 20a GG aufzunehmen, künftige Generationen mit Klagerechten auszustatten, Klagerechte für NGOs einzuführen, ob man das Problem des Atommülls juristisch genügend beachtet, oder wie der Begriff der Verantwortung für künftige Generationen in Artikel 20a zu verstehen sei. Ein wichtiger Hinweis aus dem Publikum war der Vorschlag des früheren Verfassungsrichters Mahrenholz, eine Regulierungsbehörde vergleichbar dem Bundesverfassungsgericht zu gestalten, deren Mitglieder vom Parlament gewählt werden.