Von Christopher Flavin
Die Hitzewelle, die im Sommer 2010 über dem westlichen Russland lag, sah auf den ersten Blick nach einer lokal begrenzten Krise aus. Die Temperaturen erreichten für einige Wochen 40 Grad Celsius oder mehr und ließen Moskau eher wie Dubai erscheinen. Die Bevölkerung, die in der Mehrheit nicht über Klimaanlagen verfügt, verging fast vor Hitze.
Die äußeren Umstände verschlechterten sich noch, als die Hitzewelle ausgedehnte Waldbrände auslöste, die Vorortviertel zerstörten und die Moskauer mehr als eine Woche lang heftig Rauch schlucken ließen. Bevor das Desaster vorbei war, zeigte sich Ministerpräsident Wladimir Putin am Steuerknüppel eines Feuerlöschflugzeugs, um mit dieser thea - tralischen Geste zu demonstrieren, dass die Regierung die Lage weiterhin im Griff habe.
Für den Rest der Welt war die für Russland ungewöhnliche Wetterlage zunächst nicht mehr als ein Fernsehschauspiel – bis bekannt wurde, dass die Hitzewelle und die sie begleitende Dürre die Weizenernte des Landes vernichtet hatte. Nach wenigen Tagen kündigten die russischen Amtsträger die Einstellung der Weizenexporte an, was die Weltmarktpreise auf der Stelle um mehr als ein Drittel in die Höhe schießen ließ, mit Folgeeffekten für Mais, Sojabohnen und den Rest des globalen Nahrungsmittelmarktes.
Diese zweite Steigerung bei den Nahrungsmittelpreisen in gerade mal zwei Jahren hat brutal an die Verletzlichkeit eines Welternährungssystems erinnert, das beinahe 6,9Milliarden Menschen satt machen soll – und zwar innerhalb der von unserer Umwelt gesetzten Grenzen und unter den Bedingungen eines zunehmend instabilen Weltklimas. An vorderster Front stehen in dieser landwirtschaftlichen Krise die 925 Millionen unterernährter Menschen – viele von ihnen Kinder in Afrika und Südasien, die sich mit der Aussicht vertraut machen müssen, dass ihr Leben in den kommenden Monaten noch schwieriger wird.
Ironischerweise ist die Weltlandwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten in mancher Hinsicht eine beeindruckende Erfolgsstory gewesen. Die Bemühungen, die Ernteerträge durch Investitionen in neue landwirtschaftliche Technologien und in die Infrastruktur zu steigern, sind in vielen Belangen erfolgreich gewesen. Die Produktivität ist bei den Hauptgetreideproduzenten wie Australien und den Vereinigten Staaten ständig gestiegen; große Gebiete Asiens, darunter auch China, waren ebenso bei der Steigerung der Erträge erfolgreich und haben so die ländliche Armut und den Hunger reduzieren können.
Doch das ist nicht die ganze Geschichte. In großen Teilen Südasiens und im Afrika südlich der Sahara hat die Landwirtschaft nur geringe Fortschritte gemacht, weil hier nationale Regierungen und die internationale Gemeinschaft über die letzten Jahrzehnte zu wenig investiert haben. Das Versäumnis, die Landwirtschaft in einigen der ärmsten Regionen der Welt voranzutreiben, hat es für die dortigen Ökonomien unmöglich gemacht, sich zu entwickeln, und hält Hunderte von Millionen Menschen im Teufelskreis der Armut gefangen. Die Landwirtschaft stellt Arbeitsplätze für 1,3Milliarden Kleinbauern und landlose Arbeiter und ist die Haupterwerbsquelle für ungefähr 86 Prozent der 3Milliarden Menschen in den Entwicklungsländern. Ob sie eine bessere Zukunft haben werden, hängt wesentlich davon ab, was auf den Bauernhöfen in den notleidendsten Teilen der Welt geschehen wird.
Bis vor kurzem glaubten die meisten Politiker und Verantwortlichen, der einzige Weg zur Entwicklung der Landwirtschaft in Afrika sei der, die Anstrengungen der Grünen Revolution zu verdoppeln – also mehr ertragreiche Saaten und Düngemittel einzusetzen und so die Erträge zu steigern. Das ist eine verführerisch einfache Formel, doch in vielen Fällen hat sie nicht funktioniert. Die Saaten und Düngemittel sind für die überwiegende Mehrheit der armen Bauern oft zu teuer, oder sie sind einfach für sie nicht verfügbar. Die Vorteile vieler solcher Projekte kommen oft nur einer kleinen Zahl von Großbauern zugute, die Nahrung im Überfluss produzieren mögen, jedoch für die Förderung der ländlichen Entwicklung wenig tun.
Zum Glück wird der Gedanke, dass der Hunger in der Welt allein mit Geld und Technologie abgeschafft werden kann, nicht nur durch seine eigenen Schwächen diskreditiert, sondern auch durch die Erkenntnis korrigiert, dass neue Ansätze für den Aufbau einer nachhaltigen und alle ernährenden Landwirtschaft die Innovationen des herkömmlichen landwirtschaftlichen Instrumentariums effektiv ergänzen oder ersetzen können. Das trifft besonders auf das Afrika südlich der Sahara zu, wo Tausende von Kleinbauern sich auf alte kulturelle Weisheiten ebenso wie auf intelligente neue Technologien stützen, um hinreichend Nahrung zu produzieren, ohne dabei weder den örtlichen Boden noch das globale Ökosystem zu zerstören.
Das ist die Geschichte dieses Buches und des Worldwatch-Projekts »Nourishing the Planet«. In den Jahren 2009 und 2010 ist Danielle Nierenberg, eine der Projektleiter, durch 25 afrikanische Länder gereist, hat Bauern besucht und sich mit ihren Erfolgen auf allen Gebieten vertraut gemacht: von der Tropfbewässerung über die Dachbegrünung, von der Agroforstwirtschaft bis zu neuen Projekten zum Schutz des Bodens. Zurück in Washington hat unser Forscherteam im Internet nach noch mehr innovativen landwirtschaftlichen Projekten gesucht und die gewonnenen Informationen an ein rasch wachsendes Publikum von Lesern des Blogs »Nourishing the Planet«, an YouTube-Nutzer und Twitterer weitergegeben.
Das so entstandene Gesamtbild, ist höchst aufregend. Obwohl wir beim Stichwort »Innovation« an die neueste Suchmaschine oder das neueste Videospiel zu denken gewohnt sind, zeigen arme afrikanische Bauern, dass Innovation derzeit vor allem in einigen der ärmsten Gemeinschaften der Welt zu finden ist – und dass sie für die Menschen und den Planeten von größerer Bedeutung sein können als die Mehrzahl der Hightech-Erfindungen. Ein schneller und produktiver Wandel ist möglich, wenn man Kleinbauern durch einfache, aber entscheidende Innovationen stärkt insbesondere die Frauen, die die Landwirtschaft in Afrika dominieren. Wenn auch nur ein Bruchteil der Ressourcen, die man heute für Agrarfabriken in den Vereinigten Staaten und Sojaboh nenplantagen in Brasilien verwendet, in die innovative Arbeit von Kleinbauern investierte, würde die Welt nicht so mickrige Fortschritte bei der Erreichung des UN-Ziels der Halbierung des Welthungers bis 2015 machen.
Was bei der Auseinandersetzung mit den landwirtschaftlichen Problemen in der Welt auf dem Spiel steht, geht weit über das aktuelle Problem des Hungers hinaus. In einer Zeit, in der die Welt in vielen Regionen bei den Ressourcen an Ackerland und Wasser an ihre Grenzen zu stoßen beginnt, wird wachsende landwirtschaftliche Produktivität noch lebenswichtiger als bisher, um ausreichend Nahrung zu produzieren. Deshalb sind Neuerungen
wie der Einsatz von Zwischenfrüchten als natürliche Düngemittel oder von vor Ort produzierten Biokraftstoffen als Ersatz für Diesel so aufregend.
Die Landwirtschaft hat zudem auf die Natur enorme Auswirkungen. Viele der in diesem Buch beschriebenen Innovationen können den Schaden, den die Nahrungsmittelproduktion so oft dem Grundwasser und dem Boden zufügt und dem Ökosystem, von dem wir alle abhängig sind wieder beheben.
Die Nahrungswirtschaft steht im Mittelpunkt der weltweiten Umweltproblematik.
Die Landwirtschaft von heute trägt mit ihrer starken Abhängigkeit von fossilen Energien nicht nur zur globalen Erwärmung bei - manches von dem Kohlenstoff, der heute in der Atmosphäre ist, lag einst tief unter den Feldern und Grasflächen Nordamerikas und Mitteleuropas –, sie ist auch selbst durch den Klimawandel stark gefährdet. Der Sommer 2010 war der heißeste, seitdem Daten erhoben werden, und Wissenschaftler sagen, dass die außergewöhnlichen Wetterphänomene, die ihn gekennzeichnet haben – darunter auch die Überschwemmungen 2000 km südlich von Moskau in Pakistan, die 1,4 Millionen Morgen bester Anbaufläche überflutet haben –, ohne die 30-prozentige Steigerung der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre seit Beginn der Industriellen Revolution vermutlich nicht passiert wären.
Eine ermutigende Nachricht in Bezug auf die landwirtschaftlichen Innovationen, die in diesem Buch dokumentiert werden, ist die Tatsache, dass neue Ansätze in der Landwirtschaft zur Lösung einiger dringlicher Probleme beitragen können: vom Schutz bedrohter Wasserreservoire über die Sanierung der Fischerei bis zur Verlangsamung des Klimawandels. Landwirtschaftliche Innovationen helfen auch bei der Verbesserung der menschlichen Gesundheit, nicht nur durch die angemessene Ernährung der Armen dieser Welt, sondern auch durch die Reduzierung der Fettsucht, die von der reichen auf die arme Welt übergreift.
Wir sind ganz besonders glücklich über die Partnerschaft mit der Bill&Melinda Gates-Stiftung bei diesem buchstäblich bahnbrechenden Projekt »Nourishing the Planet«. Indem wir die Verpflichtung der Stiftung, zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion beizutragen, mit unserem Schwerpunkt der Fixierung nachhaltiger Ansätze in der Landwirtschaft verbinden, bauen wir eine neue Brücke, die für Hunderte von Millionen armer Bauern in Afrika und anderswo in eine bessere Zukunft führen könnte.
Die Ernährung der Menschen und die Nährkraft des Planeten sind heute unauflöslich miteinander verbunden und lebenswichtig für unsere Zukunft. Wir hoffen, dass Zur Lage der Welt 2011 zu einem systematischeren – und einem radikaleren – Nachdenken über die Zukunft unseres Ernährungssystems beiträgt. Wir müssen einfache Slogans wie »Größer ist besser« in den Papierkorb werfen und für komplexe Probleme nicht länger nach Patentlösungen suchen. Wenn wir uns dazu entschließen, könnte die Landwirtschaft noch einmal zu einem Zentrum menschlicher Innovation werden – und die Ziele der Abschaffung des Hungers und der Schaffung einer nachhaltigen Welt wären ein wenig näher gerückt.
Christopher Flavin ist Präsident des Worldwatch Institute in Washington