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Rebecca Harms: "Ein koordinierter Ausstieg aus Kohle- und Atomkraft ist europaweit möglich"

Lesedauer: 5 Minuten
 Rebecca Harms ist Mitglied des Europäischen Parlamentes. Auf ihrer Website betreibt sie auch ein Blog.

 

18. März 2011
Die EU-Strategie 2050 sieht bisher Atomkraft als „Clean Technologie“ vor, die notwendig ist, um Europas Emissionen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent zu reduzieren. Brauchen wir die Atomkraft in Europa um unsere Klimaschutzziele einzuhalten?

Nein, überhaupt nicht. Es ist sogar ganz im Gegenteil ein regelrechter Systemwiderspruch gleichzeitig auf Atom und auf Erneuerbare setzen zu wollen. Atomkraftwerke sind unflexibel und verstopfen in Zeiten hoher Verfügbarkeit von Erneuerbaren die Netze. Außerdem ist es nicht zuletzt die Atomlobby, die sich in Europa für wenig ambitionierte Klimaziele bis 2020 einsetzt, denn in diesem wichtigen Zeitraum wird es keinen relevanten Zubau von Atomkraftwerken in Europa geben können, da die Planungs- und Bauzeiten viel länger sind. Wir können es uns aber nicht leisten dringend notwendigen Klimaschutz zu vertagen.


Heißt ein Abschalten der Atomkraftwerke nicht, dass mehr Kohlekraftwerke gebaut werden? Oder ist ein paralleler Ausstieg aus der Kohle und aus der Atomkraft möglich?

Wir wollen ja nicht von heute auf morgen alle Atom- und Kohlekraftwerke gleichzeitig abschalten. Was wir wollen, ist ein koordinierter Ausstieg aus beiden Technologien. Wir haben im Januar unser vision scenario bis 2050 für Europa vorgelegt, das vom Öko-Institut erstellt wurde. Darin kommen die Experten zu dem Ergebnis, dass wir auch ohne Zubau von Kohle auf Laufzeitverlängerungen von Atomkraftwerken verzichten können. Bereits in 2030 würden Atom und Kohle kaum noch eine Rolle bei der Stromversorgung spielen. Voraussetzung dafür sind aber natürlich rigorose Energieeinsparungen und ein schneller Ausbau der erneuerbaren Energien.


Wie viele Länder setzen zurzeit in Europa auf den Ausbau der Atomkraft? Glauben Sie der nukleare Unfall in Fukushima wird dies ändern?

Die Neubaubegeisterung ist in den europäischen Mitgliedsstaaten in den vergangenen Jahrzehnten nicht so ernorm groß gewesen, wie es in Ankündigungen der Atomlobby scheint. Echte Neubauprojekte gibt es aktuell nur in Frankreich und Finnland. In beiden Ländern ist jeweils ein neuer Reaktor in Bau. Beide Projekte machen vor allem durch Bauverzögerungen und Kostenüberschreitungen von sich reden. Der Olkiluoto 3 Reaktor in Finnland ist bereits dreieinhalb Jahre in Verzug und übersteigt das Budget um etwa 90%. Statt der veranschlagten 3 Milliarden Euro schlägt das Projekt bereits mit 5,7 Milliarden Euro zu Buche. In der Slowakei und in Bulgarien werden Uralt-Projekte aus den Achtziger Jahren aufgewärmt, die auf veralteter Technologie beruhen und unter großen Finanzierungsschwierigkeiten leiden. Andere Länder wie Polen, Italien und Großbritannien haben Neubauprojekte angekündigt, sind in der praktischen Planung aber noch nicht weit fortgeschritten.

Ob die Politik in der Lage sein wird aus dieser erneuten Katastrophe zu lernen, muss sich erst noch zeigen. So wie während der Tschernobylkatastrophe, als die Welt schon mal den Atem angehalten hat, tut sich wegen des großen Erschreckens über die furchtbaren Folgen der japanischen Katastrophe jetzt wieder eine Tür auf. Die Menschen wollen diese Hochrisikotechnologie nicht. Dieses Mal müssen wir es schaffen, dass die Tür nicht wieder zuschlägt. Und anders als 1986 haben wir heute die Technik und das Wissen für eine risikoarme und klimafreundliche Energiewirtschaft.


Was müssen wir jetzt unmittelbar tun, um so schnell wie möglich 100 Prozent erneuerbare Energien europaweit zu ermöglichen?

Als allererstes müssen wir endlich Energie sparen. Das Thema Effizienz wurde viel zu lange stiefmütterlich behandelt und auch von Kommissar Oettinger jetzt wieder auf die lange Bank geschoben. Hier muss endlich was passieren. Wenn wir weniger verbrauchen werden unsere Probleme die Versorgung sicher zu stellen sofort kleiner. Wenn wir außerdem jetzt den Weg vorzeichnen, dass wir bis 2050 europaweit eine 100 Prozent Erneuerbare Energieversorgung erreichen wollen und die notwendigen Zwischenziele dafür festlegen, werden auch die richtigen Entscheidungen zum Energieinfrastrukturausbau und zum Neubau von Erzeugungskapazitäten erst möglich.


Wo erwarten Sie die größten Widerstände und Probleme bei dieser Transformation?

Der Wunsch nach einer sicheren und sauberen Energieversorgung hat in der Bevölkerung schon viele Anhänger gefunden. Doch in Regierungen, Parlamenten und Vorständen von Energieunternehmen sitzen noch die Vertreter der alten Energiewirtschaft. Es ist schwer ein System von Grund auf zu verändern, das über Jahrzehnte Milliardengewinne für einflussreiche Energieunternehmen bedeutet hat. Doch es ist Zeit für einen sparsameren Verbrauch von sauberer und sicherer Energie. Das sichert die Energieversorgung, schont den Geldbeutel der Verbraucher, vermeidet unnötige atomare Risiken und ermöglicht ambitionierten Klimaschutz und schafft zukunftsfähige Arbeit in Europa.

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Das Interview führte Dorothee Landgrebe.
 
 
 

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