Nach den weitgehend friedlichen Umstürzen in Tunesien und Ägypten bietet sich in Libyen, in Syrien oder im Jemen ein anderes Bild: Hart schlagen die Regime dort gegen die Protestbewegung zurück. In Libyen intervenierte gar eine internationale militärische Koalition mit Luftschlägen zugunsten der Gegner des Diktators Muammar al-Gaddafi und bewahrte sie damit wohl vor einer blutigen Niederlage.
Die sich daraus ergebenden Fragen umriss Bernd Asbach, der Leiter des Nahost-Referats der Heinrich-Böll-Stiftung, zu Beginn der Podiumsdiskussion über die Bürgerrevolutionen in der arabischen Welt am 29. März: „Was kommt danach? Hat die Nato eine Exit-Strategie? Wie müsste eine politische Lösung aussehen?“ Eine transparente Gegenregierung gebe es in Libyen bisher nicht, und die Vorstellungen, wie ein künftiges Libyen aussehen könnte, blieben vage, sagte er. In der Folge debattierten die Journalistin Ghania Mouffok aus Algerien, der Politikberater Mouin Rabbani und die deutsche Nahost-Expertin Muriel Asseburg mit Joachim Paul, dem Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah über mögliche Antworten.
Mouffok beschrieb, was die heutigen Akteure von früheren Generationen unterscheide. Das Durchschnittsalter der 35 Millionen Algerier, 31 Millionen Marokkaner und zehn Millionen Tunesier liege bei 22 Jahren. Alle zehn bis 20 Jahre suche eine neue Generation ihren Platz in einer von Diktatur und Arbeitslosigkeit geprägten Gesellschaft. Sie finde jeweils ihre eigenen politischen Ausdrucks- und Protestformen.
Die heutige Generation sei die erste, deren Eltern zum größten Teil alphabetisiert waren, bei denen Individualität nicht den Zwängen einer Großfamilie geopfert wurde und die die heutigen technischen Möglichkeiten nutze, sich über die Welt jenseits der eigenen Grenzen zu informieren. Deshalb seien die heutigen Aktivisten weniger ideologisch, weniger dogmatisch und besser fähig, schnell zu reagieren. Ihr Erfolg beim Sturz der Diktaturen in Tunesien und Ägypten sei deshalb eine historische Zäsur für die arabische Welt.
Zwei große Herausforderungen stellten sich nun: eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes zu erreichen und demokratische Institutionen aufzubauen. Für diesen Prozess gebe es bislang keine Wegbeschreibung. Die aktuelle gewalttätige Entwicklung in Libyen gefährde dabei auch zukünftige Fortschritte in den übrigen Ländern. Die Menschen dort würden wieder in die Rolle von Zuschauern zurückgedrängt, beklagte Mouffok.
Nicht wie 1989, sondern eher wie 1848
Auch Mouin Rabbani sieht eine tiefe Veränderung in der arabischen Welt, vergleichbar mit den bürgerlich-revolutionären Erhebungen von 1848 in Europa. Der Vergleich mit Osteuropa nach 1989 führe eher in die Irre, denn in den arabischen Staaten gebe es große Unterschiede in den gesellschaftlichen Strukturen und Herrschaftsformen. Die tiefe soziale Spaltung sei allerdings allen diesen Staaten gemeinsam. Es gebe in der Bevölkerung das ungewohnte Gefühl, dass vieles nun möglich sei. Doch es gebe keinen linearen oder zwangsläufigen Weg hin zu demokratischeren Gesellschaften.
Rabbani sprach von „Willkürstaaten“, in denen die Regime Gesetze und Verfassungen ignorierten und dessen Institutionen allein die Funktion hätten, die Herrscherfamilie zu bereichern. Die Regime hätten sich nicht einmal mehr auf das Militär stützen können, sondern nur auf die Geheimpolizei. In allen wesentlichen Fragen jüngerer Zeit, sei es der israelisch-palästinensische Konflikt oder die US-Invasion im Irak, hätten arabische Regierungen am Rande gestanden. Israel, die Türkei und der Iran seien die wahren regionalen Schlüsselmächte.
Eine echte Reformierung dieser Herrschaftssysteme könne kaum durch Wahlen zustande kommen, nötig sei vielmehr eine fundamentale Neugestaltung der Beziehung zwischen der Gesellschaft und dem Militär. Die Streitkräfte müssten ziviler Kontrolle unterstellt werden.
In einer zweiten Runde ging es um den politischen Reformprozess und die Vorbereitung von Wahlen in Ägypten. Rabbani sah die Gefahr, dass die geplanten raschen Wahlen dort die Herausbildung einer pluralistischen politischen Landschaft behindern. Mouffok sagte, man müsse sich zunächst darüber verständigen, wer die Träger der Transition sein sollten. Die Institutionen des alten Regimes seien dazu nicht fähig.
Auch für die Opposition scheint noch ein längerer Klärungsprozess erforderlich zu sein. Selbst bei der bisher wichtigsten Kraft, den Muslimbrüdern, ist offenbar ein Generationenkonflikt ausgebrochen, außerdem müssen sie sich nun mit ungewohnter säkularer wie religiöser Konkurrenz auseinandersetzen, wie Muriel Asseburg, die Leiterin der Forschungsgruppe Naher Osten/Nordafrika bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, erläuterte.
Europas Verantwortung
Asseburg sagte, in Europa sei nicht begriffen worden, wie wichtig die historische Zäsur sei, die die Länder Nordafrikas gerade erleben. Europa könne ihnen Angebote machen, dürfe sich aber nicht aufdrängen. Solche Angebote könnten sein, beim Umbau der schwerfälligen Staatsbürokratien, der wirtschaftlichen, sozialen und Bildungssysteme beratend zur Seite zu stehen. Ziel müsste sein, Jobs zu schaffen und soziale Ungerechtigkeit abzubauen. Europa müsste auch bestehende Handels- und Migrationshemmnisse für die arabischen Reformstaaten rasch abbauen, ebenso jene Agrarsubventionen in der EU, die die nordafrikanischen Produzenten benachteiligen. Bislang sehe sie wenig Enthusiasmus, sondern eher Ängste, etwa vor Migranten oder einer Unterbrechung der Ölversorgung.
Ghania Mouffok sähe es gern, wenn man in Europa die arabischen Bevölkerungen nicht als Objekte betrachtete, sondern als menschliche Wesen ernstnähme. In Algerien habe man über das französische Fernsehen verfolgen können, welche Fragen den Europäern angesichts der arabischen Protestbewegungen offenbar wichtig gewesen seien: „Wird dies unsere Stabilität bedrohen? Wird dies für Israel gefährlich? Bekommen wir weiter Benzin? Werden wir jetzt nicht von Migranten überrannt?“ Solche Fragen könnten nur Abscheu vor Europa produzieren. „Ich und meine Kinder und Enkel sind doch nicht nur auf dieser Erde, damit Europa in Stabilität leben kann!“ rief sie. Statt Bevormundung wünschte sie sich einen echten Erfahrungsaustausch: Wie habe Europa den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg bewerkstelligt? Wie sei der Wandel in Osteuropa und die Wiedervereinigung Deutschlands gelungen?
Dilemma Libyen
Kontrovers wurde es bei der Bewertung der militärischen Intervention zur Durchsetzung einer Flugverbotszone über Libyen. Ghania Mouffok hatte grundsätzlich Unbehagen gegenüber dem Einsatz von Militär in einer derartigen Situation, in der die Informationen aus Libyen selbst so bruchstückhaft seien. Niemand habe auch nur die geringste Sympathie für Gaddafi, aber die Erfahrungen im Irak legten nahe, dass ein militärisches Vorgehen die Probleme nicht lösen könne, formulierte sie ihr Dilemma. Mouin Rabbani fand die Intervention nicht ausreichend begründet und auch durch Institutionen wie die Arabische Liga oder selbst den Uno-Sicherheitsrat nicht ausreichend legitimiert. Er sagte eine längerfristige Präsenz ausländischer Truppen in Libyen voraus, mit ungewissen Folgen. Dabei sei es im Vorfeld der Intervention nicht unbedingt weise gewesen, den Internationalen Strafgerichtshof mit den Verbrechen Gaddafis und seines engsten Zirkels zu betrauen, denn damit sei eine politische Beilegung des libyschen Bürgerkriegs erschwert worden.
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Von Stefan Schaaf