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Ein Plädoyer für nachhaltige Stadtpolitik

Stadtarchiv Freiburg im Breisgau, Quelle:commons.wikimedia, Lizenz: CC BY-SA 3.0 

12. April 2011
Dieter Salomon
Dieter Salomon

Helmut Schmidt hat einmal aufmüpfigen Jusos empfohlen, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Heute müsste die Empfehlung heißen: Wer Visionen hat, soll in die Stadtentwicklung gehen. Denn die aktuelle Diskussion über die Zukunft der Städte bietet mehr Raum für Visionen als jeder andere Sektor der Politik. Die düstere Prognose von Alexander Mitscherlich über die „Unwirtlichkeit der Städte“ (1965) ist längst durch die Realität widerlegt. Heute heißen die Visionäre Charles Landry, Richard Florida oder Albert Speer, um nur drei von vielen Namen zu nennen. Ihnen ist eines gemeinsam: Sie zeichnen, anders als Mitscherlich, die Zukunft der Stadt positiv, und sie nennen – zu Recht – das Modell der europäischen Stadt ein zukunftsfähiges Lebensumfeld von hoher Qualität, mit positiven Entwicklungsmöglichkeiten und einer Impulswirkung für alle Bereiche des politischen, gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens. Um es einfacher zu sagen: Städte machen Staat.


Der Deutsche Städtetag hat vor einigen Jahren seine Hauptversammlung unter das Motto „Zukunft der Stadt“ gestellt und die Antwort dazu gegeben: Die Zukunft der Stadt ist die „Stadt der Zukunft“, nämlich eine urbane Entwicklung, die dem gesellschaftlichen Wandel nicht nur folgt, sondern ihn aktiv gestaltet und selbst Motor der Veränderung ist. Solange es Städte gibt, sind sie Orte für Innovationen, für Freiheit, Gestaltung, Kreativität und Neuerungen gewesen. Demokratie hat kommunale Wurzeln, und die von Landesherren unabhängigen Hansestädte betrieben Austausch mit der ganzen Welt.
Das ist auch das Wesen der Stadt von morgen. In Städten entstehen neue Konzepte für Mobilität und Energie, für andere Formen des Zusammenlebens, soziales Miteinander und kulturelle Entwicklung. In diesen Städten probieren Bürger und politische Akteure lebenslanges Lernen oder die Integration anderer Kulturen und Lebensstile in der Praxis aus. Es sind Stadtbürgerinnen und -bürger, die ein Miteinander statt Nebeneinander mehrerer Generationen, Nachbarschaftshilfen oder andere soziale Modelle erproben und damit Vorreiter für die Politik in Bund und Ländern sind.

Man muss sich beim Blick nach vorn dieses innovativen Potentials und der großen Kreativität von Stadtpolitik immer aufs Neue bewusst werden. Die Vision einer Stadt und ihrer Bürger, die Nachhaltigkeit als Richtschnur des eigenen Lebens und der Stadtentwicklung verstehen, ist in vielen Bereichen längst Realität. Deshalb geht es weniger darum, das Rad neu zu erfinden, sondern Ideen zu vernetzen und sie für viele nutzbar zu machen, um falsche Entwicklungen zu vermeiden und gute zu fördern. Dies ist eine vorrangig politische Aufgabe. Sie kann aber nur mit den Bürgerinnen und Bürgern gestaltet werden. Ohne das Engagement der Menschen entsteht aus politischem Willen im günstigen Fall Flickwerk, und im ungünstigen Fall ein Desaster wie „Stuttgart 21“.

Europäische Städte und Megacities

Schließlich lohnt auch der Blick über den eigenen Tellerrand. Namentlich in Asien erleben wir ein explosionsartiges Wachstum der Megacities. Die Zahlen sind beachtlich: In Deutschland haben vier Städte mehr als eine Million Einwohner. In den USA sind es zehn, und in China 170. In Shanghai wird jede Woche ein Hochhaus mit mehr als 30 Stockwerken fertiggestellt.
Ist dies das Modell der Stadt von morgen? Es ist ehrlich anzuerkennen, dass in den asiatischen Metropolen Staat und Städte, was die Kursänderung hin zu mehr Nachhaltigkeit, zu neuen Verkehrssystemen, zu einem behutsamen Umgang mit Energie angeht, häufig weiter sind als wir Europäer. In Südkorea ist das größte öffentliche Investitionsvorhaben der Bau der neuen Verwaltungs- und Dienstleistungsstadt Sejong: Eine Stadt vom Reißbrett, für 500 000 Menschen, mit einem durchdachten und CO2-freien (!) Mobilitäts- und Energiekonzept. China fördert massiv den Ausbau der Solarenergie und investiert in Elektromobilität, um den Ressourcenverbrauch einzudämmen und die Lebensqualität zu verbessern. Es war kein Zufall, dass die Weltausstellung 2010 in Shanghai unter dem Motto „Better Cities – Better Life“ stand und 50 Städte dazu eingeladen wurden, eigene Konzepte einer nachhaltigen Entwicklung zu präsentieren. Freiburg gehörte in diesen Kreis.

So spannend die Entwicklung in Asien auch ist, auf Europa ist sie nur bedingt zu übertragen. Das Zukunftsmodell der europäischen Stadt wird nicht die Megacity wie Seoul, Tokio oder Mumbai sein. Ein im Oktober 2010 veröffentlichtes Ranking der deutschen Städte (Untersuchung des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts HWWI) bestätigt die These des amerikanischen Stadtsoziologen Richard Florida, dass die Zukunftsaussichten einer Stadt wesentlich durch das attraktiven Umfeld bestimmt sind, welches sie einer „kreativen Klasse“ bieten kann. Florida nennt die „drei T“ als Schlüsselbegriffe: „Technologie“ für zukunftsträchtige Arbeitsmöglichkeiten in interessanten Berufen. „Talent“ für einen Bevölkerungsmix, der Netzwerke des Wissens und der Kultur und den Austausch mit anderen Menschen möglich macht. Und „Toleranz“ schließlich für Lebensstil und Lebensgefühl, Vielfalt und Buntheit, Stadtkultur und Atmosphäre.

Nachhaltigkeit vor der eigenen Haustür

Weiteres kommt hinzu: Nachhaltigkeit als Leitlinie der Stadtentwicklung, aber auch als eigenes Lebensprinzip der Menschen. Je intensiver um die großen Zukunftsthemen gestritten wird (Stichwort: Atomausstieg), desto mehr wollen die Menschen wissen, wie es im eigenen Haus um die Versorgung mit sauberer Energie bestellt ist. Woher kommt der Strom der eigenen Stadtwerke, und wie kann der Bürger als Verbraucher Einfluss darauf nehmen, dass regenerative Energien besser genutzt werden? Viele Städte haben den Atomausstieg geschafft und liefern Ökostrom aus regenerativen Quellen, oder betreiben (wie in Freiburg) ihre Stadtbahnen mit Ökostrom. Damit wird nachhaltige Energiepolitik konkret und begreifbar. Ähnliches gilt für die Verkehrspolitik: Ist die Stadtbahn eine umweltfreundliche und kostengünstige Alternative zum Auto, wird das Fahrrad ernst genommen? Die Reihe ließe sich fortsetzen: Die „Stadt der kurzen Wege“ ist Ausdruck eines nachhaltigen Umgangs mit Flächen.
Nachhaltigkeit geht über Ökologie hinaus. Zu Recht müssen wir uns die Frage nach dem Umgang mit öffentlichen Geldern gefallen lassen. Denn in der jungen Generation schwindet die Akzeptanz für öffentliche Schulden, die sie eines Tages zurückzahlen muss. Die Erfahrung unserer Stadt mit dem so genannten Beteiligungshaushalt zeigt, dass Bürgerinnen und Bürger ein feines Gespür dafür haben, wenn die Stadtfinanzen aus dem Lot geraten. und viel eher als die Politik bereit sind, Dinge zurückzustellen statt Schulden aufzunehmen.

Ein drittes Beispiel: Wie gelingt es uns, unsere Städte mit einer sozial ausgewogenen und auf die veränderten Bedürfnisse zugeschnittenen Infrastruktur für die demographischen Veränderungen fit zu machen? 2030 wird die Bevölkerung nicht nur geringer sein, sondern auch eine andere Struktur aufweisen. Der Anteil der über Sechzigjährigen wird in einer heute noch vergleichsweise jungen Stadt wie Freiburg deutlich über einem Drittel liegen. Was bedeutet dies für das Gefüge der urbanen Gesellschaft?
Wir brauchen rechtzeitig nachhaltige Antworten auf die sozialen Fragen: Wie schaffen wir für andere Lebensformen auch andere und flexible Wohnformen bis hin zu Mehrgenerationen-Häusern? Ist unsere Infrastruktur darauf vorbereitet? Heute investieren alle Städte Millionenbeträge in die Betreuung für Kinder unter drei Jahren. Werden die Einrichtungen in 13 oder 15 Jahren noch gebraucht? Dieselben Fragen stellen sich auch für die Schulen. Wie kann in den Quartieren ein ausgewogenes Verhältnis zwischen jungen und alten Menschen gewährleistet werden? Die Menschen werden sich dorthin orientieren, wo die Infrastruktur ihnen die besten Möglichkeiten für ein selbstständiges Leben gibt, mit Einkaufsmöglichkeiten, gutem Nahverkehr, mit sozialen und kulturellen Einrichtungen und funktionierender Nachbarschaft.
Wenn sich die Gesellschaft verändert, ändern sich auch die Ansprüche an Kultur und Bildung. Um es einfacher zu sagen: Finden Jugendkulturfestivals irgendwann in halbleeren Räumen statt? Und vor allem: Was wird es für unsere Systeme der sozialen Sicherung bedeuten, wenn die Zahl der Erwerbstätigen immer kleiner und die Zahl derer, die soziale Leistungen in Anspruch nehmen, immer größer wird? Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und damit auf den Wirtschaftsstandort, der den Bedarf an Arbeitskräften decken muss. Dies bewegt übrigens auch öffentliche Arbeitgeber wie die Stadtverwaltung, die inzwischen mit der Wirtschaft um den potentiellen Nachwuchs konkurriert.

Städte erneuern sich, seit es sie gibt

Die Frage nach der Zukunft der Stadt und ihrer Attraktivität stellte sich immer aufs Neue. Ob Nachhaltigkeit ernsthaft als Maßstab einer Stadtentwicklung gewollt und praktiziert wird, wird mehr und mehr zu einem Entscheidungskriterium dafür, wie sehr Menschen sich in einer Stadt wohl fühlen und sich aktiv am öffentlichen Leben beteiligen wollen. Für viele Menschen wird es zu einem Kriterium, um sich mit „ihrer“ Stadt zu identifizieren. Ohne das Engagement der Bürgerinnen und Bürger verliert jedes Gemeinwesen an Lebendigkeit und Kreativität. Deshalb berührt dieser innere Zusammenhang von nachhaltigem Denken und Handeln einerseits, und Akzeptanz und aktiver Partizipation andererseits die Zukunftschancen eines jeden urbanen Gemeinwesens genau so wie Richard Floridas These der „drei T“ Technologie, Talent und Toleranz als Standortfaktoren.
Dies bedeutet: Die Stadt des Jahres 2050 ist eine Stadt, der es bis dahin gelungen ist, diese Faktoren mit einer Politik der ökologischen, ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeit zu verknüpfen und daraus urbane Lebensqualität zu schaffen. Dies gilt – mehr oder minder – für die Kleinstadt in der Provinz genauso wie für die Megacity mit mehreren Millionen Einwohnern. Die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger sind überall die gleichen, nur die Maßstäbe sind andere.
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Wer behauptet, man dürfe das 21. Jahrhundert als das „Jahrhundert der Städte“ nicht als bloße Verlängerung der Gegenwart denken, der verkennt die eingangs genannte geschichtliche Entwicklung. Städte haben immer über die Gegenwart hinaus gedacht, aber dabei nie ihre Vergangenheit vergessen, um überleben zu können – im Unterschied zu manchen längst untergegangenen Reichen und Herrschaften. Stadtentwicklung ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts, sondern Städte erneuern sich, wie bereits gesagt, seit es sie gibt. Die europäischen Städte, namentlich in Deutschland und Oberitalien, zeigen bis heute, welche visionäre und schöpferische Kraft dort zu Hause war und ist.
Wir sind gut beraten, heute die Visionen eines Richard Florida, Charles Landry, Albert Speer und anderer mit eigenem politischen Engagement und dem Gestaltungswillen der Bürger zu verknüpfen, um das „Jahrhundert der Städte“ zu gestalten.

Dieter Salomon

wurde am 9. August 1960 in Melbourne/Australien geboren und wuchs im Allgäu auf. Von 1981 bis 1986 studierte er Politikwissenschaft, Finanzwissenschaft, Wirtschaftspolitik und französischer Literatur an der Universität Freiburg; 1991 promovierte Dieter Salomon zum Dr. phil. in Politikwissenschaft.

Er ist seit 1980 Mitglied der Grünen und gehörte von 1990 bis 2000 dem Freiburger Gemeinderat an. 1992 wurde er erstmals im Wahlkreis Freiburg-West in den Landtag gewählt und war bis zu seiner Wahl als Oberbürgermeister 2002 Abgeordneter des baden-württembergischen Landtags, von 2000 bis 2002 als Vorsitzender der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Dieter Salomon wurde 2002 zum ersten grünen Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt gewählt und trat sein Amt zum 1. Juli 2002 an. Am 25. April 2010 wurde er im 1. Wahlgang für weitere acht Jahre im Amt bestätigt. Er ist Mitglied des Präsidiums des Deutschen Städtetags, stellvertretender Vorsitzender des Städtetags Baden-Württemberg, Vorsitzender des Kommunalen Arbeitgeberverbands (KAV) Baden-Württemberg und Mitglied des World Executive Comittee ICLEI (International Council of Local Environmental Initiatives).

Dieter Salomon ist verheiratet und Vater einer Tochter.

Dossier & Konferenz

Urban Future 2050

Szenarien und Lösungen für das Jahrhundert der Städte

Mit „Urban Futures 2050“ knüpfen wir an die Konferenzen „Urban Futures 2030“ (2009) und „Die große Transformation“ (2010) an. Es geht darum, die Zukunft der Städte neu zu denken und praktisches Handeln zu inspirieren. „Urban Futures 2050“ bringt Stadttheoretiker/innen und Stadtpolitiker/innen, Architekt/innen und Planer/innen zusammen, die den Übergang ins post-fossile Zeitalter gestalten wollen.