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„Ich bin mir sicher, meinem Vater waren Meinungs- und Pressefreiheit egal”

Lesedauer: 12 Minuten
Abasin Azarm. Foto: privat.

7. Juni 2011
Können Sie uns berichten, wie es ist, als junger Journalist in Afghanistan zu leben?

Die Presse- und Meinungsfreiheit, die wir gegenwärtig in Afghanistan genießen, ist eine Neuerung, die erst mit der neuen Regierung, 2001, begann. Das heißt, es ist eine neue Erfahrung, sowohl für die Menschen im Land, wie auch für die Journalisten.

In der Vergangenheit gab es nur einen Fernsehsender, einen Radiosender und beide waren abhängig von der Regierung. Private Medien gab es keine. Dazu kam, dass es für Journalisten in Afghanistan, gleich ob sie im Dienste der Regierung oder als „Freie“ arbeiteten, keine Pressefreiheit gab. Natürlich gab es Einzelne, die ihre Meinung frei äußern wollten, aber sie mussten in hohem Maß Selbstzensur üben. Selbst heute ist das noch so, da die Lage für Journalisten schwierig ist. Das zeigt, dass wir nicht im selben Maß Pressefreiheit haben, wie im Westen.

Unter der neuen Regierung sind viele neue elektronische und Printmedien entstanden. Es gibt neue, junge Journalisten, die an die Pressefreiheit glauben und die von unterschiedlichen Medien ausgebildet worden sind. Diese jungen Journalisten bilden einen Großteil der gegenwärtig Aktiven.

In den vergangenen zehn Jahren haben afghanische Journalisten sich darum bemüht, die Pressefreiheit auszuweiten. Dieser Kampf ist jedoch nicht ohne Opfer geblieben. Afghanistan ist das Land, in dem Journalisten am meisten um Leib um Leben fürchten müssen. Da die Pressefreiheit so neu ist, haben Journalisten oft auch Probleme mit den Menschen vor Ort, vor allem dann, wenn sie sich mit der Religion und mit Traditionen und Bräuchen beschäftigen. Journalisten, die die Pressefreiheit ernst nehmen, sagen was sie denken und glauben. Dadurch können ihnen jedoch ernste Schwierigkeiten entstehen.

Würden Sie demnach sagen, dass die Berichterstattung nach wie vor beschränkt ist? Gibt es Themen, über die Journalisten nicht berichten dürfen, die als anstößig gelten?
 
Ja. Wie gesagt, eine der wesentlichen Errungenschaften der letzten zehn Jahre ist eine begrenzte Art von Pressefreiheit. Es gibt einige hundert private Radiostationen, Dutzende Fernsehkanäle, Hunderte Zeitungen und Tausende von Websites. Dennoch gibt es viele Themen, an die die Medien, die Journalisten nicht rühren dürfen. Zwei davon sind die Religion und Traditionen. Berichte und Kommentare hierzu führen zu starken Reaktionen – und zwar sowohl aus dem Volk als auch von Seiten der Regierung.

Der Rat der Ulema (der Religionsgelehrten) übt Druck auf die Regierung aus, die Medien zu regulieren. Vor einiger Zeit wurde so eine Fernsehsendung abgesetzt, in der der Moderator, ein Mann, Frauenkleider trug, tanzte und sang. Der Rat der Ulema war der Meinung, ein Mann dürfe keine Frauenkleider, eine Frau keine Männerkleider tragen – beides sei ein Verstoß gegen afghanische Traditionen und leite die Jugend zu Sittenverstößen an.

Will man beispielsweise über die Praxis der Mehrehe berichten, muss man die kulturellen und religiösen Empfindlichkeiten berücksichtigen und wird im Zweifel mit seiner Meinung lieber hinterm Berg halten.

Würden Sie sagen, dass der politische Druck auf Journalisten weniger der Berichterstattung über Korruption und Misswirtschaft gilt und eher in Fragen der Religion und Tradition zum Tragen kommt?
 
Tradition und Religion geben der Regierung, Führern, den Mudschaheddin und selbst einfachen Leuten einen Vorwand, unsere Arbeit zu beschneiden. Gefällt es jemandem nicht, dass wir über Korruption und Misswirtschaft berichten, werden sie einen dafür nicht offen kritisieren, denn schließlich gilt ja die Pressefreiheit. Sie werden sich stattdessen etwas herauspicken, wofür sie einen aus Gründen der Tradition oder Religion angreifen können. Auf diese Art ist es sehr einfach, jemanden zu zensieren. Die Mediengesetze sagen, es gibt keine Zensur – außer in Fragen der Tradition und Religion. Dadurch ergibt sich eine riesige Gesetzeslücke, die jederzeit dazu genutzt werden kann, Medien und Journalisten mundtot zu machen. Berichtet man also über irgendetwas, das Tradition und Religion auch nur berührt, macht man sich sofort angreifbar.

Wie würden sie die Medienlandschaft in Afghanistan beschreiben?

In städtischen Gebieten sind Radio, Fernsehen und Zeitungen gute Informationsquellen. Auf dem Lande hingegen ist das Radio aus einer Reihe von Gründen Medium Nr. 1. Zum einen bezahlen die Leute dort ungern für Zeitungen, auch gibt es sehr viele Analphabeten. Das Fernsehen wird in einigen Provinzen von Vielen abgelehnt, da indische Fernsehsendungen und Musikvideos als unmoralisch gelten. Zudem benötigt man Strom, und Fernsehapparate sind vergleichsweise teuer. Radios hingegen sind billig und können auch mit Batterien betrieben werden. Das Radio ist für uns Journalisten deshalb nach wie vor das beste Medium, da wir so die größte Zahl von Menschen erreichen können. Die meisten Medienorganisationen konzentrieren sich dementsprechend auf das Radio. Die US-amerikanische Nicht-Regierungsorganisation (NRO/NGO) Internews beispielsweise hat bislang über 40 Radiostationen in Afghanistan aufgebaut.

Die jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten haben die Neuen Medien und die Sozialen Netzwerke ins Schlaglicht gerückt. Wie werden solche Netzwerke in Afghanistan genutzt?

Neue Medien wie Facebook oder Twitter werden in Afghanistan anders genutzt als in Ägypten. In Ägypten gibt es sehr viel mehr junge, gut ausgebildete Leute mit Internetzugang. In Afghanistan wird dergleichen vor allem von einer kleinen Gruppe von jungen Akademikern genutzt, die für NROs, Ministerien, Botschaften etc. arbeiten und entsprechend Zugang zum Internet haben. Genutzt wird Facebook und Ähnliches fürs gesellschaftliche Leben, Konzerte organisieren zum Beispiel, aber auch für andere Versammlungen oder Kampagnen, beispielsweise eine Baumpflanzaktion in Kabul. Darüber hinaus finden dort politische und gesellschaftliche Diskussionen statt, denn das Internet ist in der Regel der einzige Raum, in dem man sich über alles und jedes austauschen kann, ohne dass man gleich Ärger bekommt. Online braucht man keine Genehmigung, kann Decknamen verwenden und über die Taliban, die Regierung, Religion, Tradition, alles sprechen. Die Neuen Medien werden dafür genutzt, neue Ideen zu entwickeln. Aber mit Ägypten oder anderen Ländern im Nahen Osten kann man die Lage in Afghanistan ganz sicher nicht vergleichen.

Welche Rolle spielt der Journalismus für den Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens und im Hinblick auf die Beziehungen zu den Nachbarstaaten?
 
Ganz klar, die Medien sind eines der wesentlichen Mittel um die Einstellungen der Menschen zu verändern. Und Journalisten in Afghanistan versuchen das zu tun. Ich arbeite an einem Projekt, das den Austausch zwischen pakistanischen und afghanischen Journalisten verbessern soll, denn auf beiden Seiten gibt es große Missverständnisse. Aus afghanischer Sicht kommen alle Terroristen aus Pakistan; in Pakistan gibt es viel anti-afghanische Propaganda, die mehr oder weniger behauptet, Afghanen seien keine Moslems und hätten sich mit dem Westen gegen den Islam verschworen. Das ist einer der Gründe, warum so viele Pakistanis nach Afghanistan gehen, um dort einen heiligen Krieg zu führen. Wenn es den Medien gelingt, hier ein differenzierteres Bild zu verbreiten, könnte das die Leute zum Nachdenken bewegen. Wenn jemand in Pakistan sieht, wie Afghanen in der Moschee beten, dann fragt er sich vielleicht: „Moment mal, die soll ich umbringen, wenn ich nach Afghanistan gehe?“ Auf diese Art lässt sich effektiv etwas verändern.

Sie sind in den 1980er Jahren inmitten des Chaos von Kabul aufgewachsen. Wie beurteilen Sie die Veränderungen in Ihrem Land?

Ich bin Jahrgang 1983, also mitten im Krieg geboren. Ich habe sowohl noch einen Teil des kommunistischen Regimes erlebt, die Mujaheddin, die Taliban und die neue Regierung. Für mich und diejenigen, die wie ich denken, hat sich viel zum Besseren gewandelt. In den letzten zehn Jahren hat es viele Entwicklungen, viele Errungenschaften gegeben. Die Taliban waren eine Diktatur, und unter einer Diktatur kann sich niemand entwickeln, kann niemand etwas erreichen, kann keiner so leben, wie er oder sie es gerne will. Wir durften nicht einmal Musik hören, wir mussten uns kleiden wie vorgeschrieben, mussten tun und lassen, was man uns vorschrieb. Sämtliche Entscheidungen wurden für uns getroffen. Unter den Taliban lebten wir entsprechend dem Willen anderer.

Unter den Mujaheddin war es nicht wie unter den Taliban, aber es gab beständig Krieg. Die Folge war, dass man nichts im Voraus planen konnte. Täglich waren wir auf der Flucht; es gab keine Sicherheit, keine Bildung – es ging ums bloße Überleben. Zu dieser Zeit haben die Menschen an nichts anderes gedacht. Ich bin mir sicher, meinem Vater waren Meinungs- und Pressefreiheit egal. Ihm ging es allein darum, dass sein Sohn, dass er selbst überlebt. Heute können wir leben, denken, planvoll handeln und entsprechend entwickeln sich auch andere Werte: Freiheit, Bildung, das Recht auf Zugang zu Information, das Recht, Fragen zu stellen, zu kritisieren, über Dinge wie Frauenrechte zu sprechen. Solche Werte sind uns heute wichtig und wir wissen, dass wir ein Recht darauf haben.

Wir hatten die Chance, in den vergangen zehn Jahren dafür zu kämpfen und zum Teil haben wir sie erkämpft. Im Hinblick auf die Anzahl ausländischer Truppen im Land, die Gelder, die ausgegeben werden, könnte man sagen, dass zu wenig erreicht wurde. Aber für uns gibt es in allen Bereichen der Gesellschaft neue Errungenschaften. Es gibt die großen Themen – Bürgerrechte, den Wiederaufbau – und viele kleine Dinge wie einfach die Möglichkeit, in ein Café oder ein Restaurant zu gehen. Diese kleinen Dinge sind für unser Leben gleichfalls sehr wichtig.
 
Interessieren sich die jungen Menschen für Politik? Nehmen sie aktiv daran teil?

Wenn die Angst nicht mehr da ist, jeden Moment getötet zu werden, hat man die Chance, sein Leben zu planen. Tut man das, stellt man fest, dass man andere Dinge will, andere Rechte. So verhält es sich in den größeren Städten, in denen die Regierung die Macht hat. Im Süden ist es immer noch schwierig. Die Menschen dort können nicht so leben, wie sie es gerne würden. Aber in den sicheren Provinzen haben junge Afghanen Vorstellungen davon, wie sie leben wollen – und sie kämpfen dafür. In Schulen, in Cafés reden die Leute über Politik. Sie haben eine Meinung, und ganz gleich ob sie etwas dafür tun, diese auch umzusetzen, zumindest haben sie eine Meinung. Einige sind gerade erst auf dem Weg dahin, selbst aktiv zu werden; andere tun es schon.

Das Gleichgewicht zwischen den Stämmen ist ebenfalls ein wichtiges Thema. Da in unserer Geschichte die Politik meist von nur einem Stamm bestimmt wurde, ist es gut zu sehen, dass nun ein Gleichgewicht entsteht. Die Stämme kämpfen um ihren Anteil an der Politik. Sie informieren sich, und sie stimmen für ihre Kandidaten. Menschen engagieren sich heute, sie haben Meinungen und vertreten sie; man spricht, man schreibt über Themen. Zahlenmäßig mag das alles noch recht geringfügig erscheinen, aber für uns sind all das neue Erfahrungen.

In Deutschland ist die Stationierung der Bundeswehr in Afghanistan umstritten (das Mandat wurde soeben verlängert). Wie sehen Sie die Präsenz ausländischer Truppen in ihrem Land?
 
Ich bin dagegen, dass in der gegenwärtigen Lage die ausländischen Truppen abgezogen werden, gleich ob Sie aus Deutschland, Italien oder den USA kommen. Momentan brauchen wir diese Truppen noch.

In der Regel mögen die Menschen es nicht, wenn ausländische Truppen in ihrem Land stationiert sind. Aber das gilt nur für stabile Länder. Ist die Lage instabil, entscheidet man sich für das, was am meisten Sinn ergibt. Die Koalitionsstreitkräfte sind für Afghanistan aus mehreren Gründen wichtig. Zum einen ist Afghanistan in den vergangenen zehn Jahren nicht so selbstständig geworden, wie man erwartet hatte. Im Sicherheitsbereich gibt es einige symbolische Verbesserungen, vor allem was die Quantität betrifft. Die Qualität des einheimischen Sicherheitspersonals reicht jedoch noch nicht aus.

Zum anderen haben unsere Nachbarstaaten entscheidenden Anteil daran, dass Afghanistan nach wie vor instabil ist. Es gibt klare Hinweise darauf, dass sie den Terrorismus in Afghanistan unterstützen. Es ist noch nicht gelungen, den Terrorismus wirksam zu bekämpfen. Teils ist er heute noch gefährlicher als in der Vergangenheit.
Frauenrechte, Menschenrechte, Meinungsfreiheit und andere Rechte, die in der Verfassung Afghanistans verankert sind, lassen sich nur mit Hilfe der Koalitionskräfte durchsetzen – ohne sie würden diese Rechte wieder verschwinden. Sollten sich die internationale Gemeinschaft jetzt aus Afghanistan zurückziehen, würde das Land zu einem Zentrum des internationalen Terrorismus.

Es ist noch nicht gelungen, den Terrorismus, der ja der wesentliche Grund für die Präsenz ausländischer Truppen ist, wirksam zu bekämpfen. Würde der Kampf jetzt abgebrochen, müsste man sich fragen, wofür zehn Jahre lang gekämpft wurde.
Hinzu käme, ein Truppenabzug in der gegenwärtigen Lage bedeutete, dass die internationale Gemeinschaft das Land auch politisch und wirtschaftlich im Stich lassen würde.

Im August 2010 machte ein afghanisches Mädchen, Aisha, international Schlagzeilen, nachdem das US-amerikanische TIME Magazine ein Foto von ihr auf seiner Titelseite veröffentlicht hatte. Die Veröffentlichung sorgte für eine breite Diskussion über die Lage der Frauen in Afghanistan und darüber, was aus ihnen werde würde, sollten die internationalen Truppen abgezogen werden. TIME titelte zu dem Foto von Aisha, der die Nase abgeschnitten worden war: „Das geschieht, wenn wir uns aus Afghanistan zurückziehen.

Der Vorfall zeigt, was in Afghanistan passieren könnte, sollten die internationalen Truppen jetzt abgezogen werden. Und das wäre wahrscheinlich noch nicht einmal das Schlimmste. Es lohnt sich, in Afghanistan zu bleiben. Der Kampf dort muss zu Ende geführt werden.

16. März 2011

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Abasin Azarm wurde 1983 in Kandahar geboren. In Afghanistan hat er mehrere Radioprojekte geleitet und im Land für über neun Jahre als Journalist gearbeitet. Momentan leitet er eine Medienberatungsagentur in Afghanistan. 2011 nahm er am Internationalen Fellowship Programme der Heinrich Böll Stiftung teil.

Dossier

Afghanistan 2011 - 10 Jahre Internationales Engagement

Nach zehn Jahren internationalem Einsatz in Afghanistan wird im Dezember 2011 eine weitere Afghanistan-Konferenz in Bonn stattfinden. Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt seit 2002 aktiv den zivilgesellschaftlichen Aufbau in Afghanistan und fördert den Austausch zwischen deutscher und afghanischer Öffentlichkeit. Das folgende Dossier gibt Raum für Kommentare, Analysen und Debatten im Vorfeld der Bonner Konferenz zu Afghanistan.