Vertreter/innen der afghanischen Zivilgesellschaft wenden sich an den Bundestag
Vor dem Hintergrund der im Dezember 2011 in Bonn stattfindenden Konferenz zu Afghanistan wenden sich führende Vertreter/innen der afghanischen Zivilgesellschaft in einem offenen Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Darin fordern sie Transparenz in den Verhandlungen mit den Taliban und einen verstärkten Zugang zu nationalen Entscheidungsprozessen in Afghanistan. Sie äußern ihre Befürchtung, dass über Verhandlungen mit den Taliban die demokratischen Kräfte des Landes an den Rand gedrängt werden. Die Vertreter/innen plädieren außerdem für die langfristige internationale Unterstützung für den Demokratisierungs- und Aufbauprozess.Der Brief ist das Ergebnis einer mehrstündigen Diskussion einer Fokusgruppe afghanischer Zivilgesellschaftsvertreter/innen, welche von der Heinrich-Böll-Stiftung in Kabul initiiert und begleitet wurde. „Vielen afghanischen Bürgerinnen und Bürgern bereitet Sorge, wie es nach dem Abzug internationaler Truppen weitergeht, und wie letztlich der Ausgleich mit den Taliban erreicht werden soll, “ sagt Bente Scheller, Leiterin des Afghanistan-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. „Als politische Stiftung sehen wir es als unsere Aufgabe, den Raum für derlei Diskussionen bereitzustellen.“
Die Aktivistinnen und Aktivisten erinnern die internationale Gemeinschaft an ihre Verpflichtungen und fordern sie auf, ihre Versprechen zu erfüllen. Die afghanische Politik solle näher an den Bedürfnissen der Zivilgesellschaft nach Sicherheit und demokratischer Teilhabe ausgerichtet werden. Dabei wird vor allem die Intransparenz der Regierung bei den Verhandlungen mit den Taliban kritisiert. Weite Teile der Zivilbevölkerung, insbesondere Frauen, sehen sich schon jetzt dadurch bedroht, dass Taliban-Denkweisen im politischen Alltag Afghanistans immer stärkere Berücksichtigung finden.
An der Diskussion beteiligt waren afghanische NGOs mit zivilgesellschaftlichem Fokus, darunter zwei der großen Dachverbände zivilgesellschaftlicher Organisationen, drei Frauenrechts- und drei Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen und eine unabhängige Tageszeitung. Es handelt sich dabei um langjährige Partner der Heinrich-Böll-Stiftung. Sie repräsentieren weite Teile der afghanischen Zivilgesellschaft über ethnische, politische und regionale Grenzziehungen hinaus.
Im Dezember 2011 treffen in Bonn Vertreter/innen der afghanischen Regierung mit Außenminis-ter/innen aus über 90 Staaten auf der Konferenz zusammen. Zehn Jahre nach Beginn der westlichen Intervention und des internationalen Afghanistan-Engagements soll hier die Zukunft Afghanistans für die Zeit nach dem Abzug internationaler Kampf- und Stabilisierungstruppen im Jahr 2014 diskutiert und beschlossen werden. Im Fokus der Bonner Konferenz zu Afghanistan stehen vor allem die Demokratisierung Afghanistans, die Ausgestaltung des langfristigen Engagements internationaler Akteure, sowie die Einbindung der „afghanischen“ Perspektive in das regionale Machtgefüge.
Die afghanische Regierung hat die Federführung für die Tagesordnung und die einzuladenden Gäste. Deutschland fungiert als Gastgeber. Vertreterinnen und Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft befürchten, ein weiteres Mal aus dem Vorbereitungsprozess der afghanischen Regierung und von der Bonner Konferenz ausgeschlossen zu werden.
An die Mitglieder des Deutschen Bundestages
Sehr geehrte Abgeordnete,
die deutsch-afghanische Freundschaft hat eine lange Geschichte. Deutschland hat Afghanistan in schweren Zeiten unterstützt. Nach dem Sturz des Taliban-Regimes fanden auf der Bonner Konferenz 2001, erstmals Verhandlungen über die Zukunft Afghanistans statt, die die Grundlage eines neuen, demokratischen Afghanistan bildeten. Wir, eine Gruppe von Vertretern der afghanischen Zivilgesellschaft, sind uns darüber im Klaren, dass auch die Bonner Konferenz 2011 eine wichtige Station für die Diskussion über Afghanistans Zukunft sein wird.
Geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages, die meisten von Ihnen hatten nicht die Gelegenheit, mit eigenen Augen zu sehen, was in Afghanistan alles erreicht wurde. Wir, eine Gruppe besorgter Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft, haben uns deshalb im Kabuler Büro der Heinrich Böll Stiftung getroffen, um unsere Anliegen im Hinblick auf die Bonner Konferenz 2011 zu formulieren. Die im Folgenden dargelegten Auffassungen haben wir nach bestem Wissen und Gewissen formuliert.
Wir wissen um die Opfer, die das deutsche Volk bringt und möchten auf diesem Weg auch unser Beileid ausdrücken für die Soldaten und Zivilisten, die in unser Land kamen um zu helfen, und die dort ihr Leben lassen mussten. Zum jetzigen Zeitpunkt schreiben wir an Sie, um Ihnen zu versichern, dass wir mit aller Kraft eine friedliche Zukunft für unser Land erreichen wollen; wir hoffen dabei auf Ihre politische Unterstützung.
1. Die Wurzeln der Probleme Afghanistans sind vielfältig. Es gibt ideologische Gründe, die schwierige geografische Position des Landes, Wettstreit um Rohstoffe usw. Auch Opium, Drogenhandel und Korruption haben wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Sicherheitslage verschlechtert hat. Während der vergangenen vier Jahrzehnte haben Afghaninnen und Afghanen acht unterschiedliche Regime durchlebt, unter anderem Monarchie, Kommunismus, Islamisches Emirat, Demokratie usw. Wir glauben, dass für Afghanistan keine Regierungsform besser ist, als die Demokratie. Die vergangenen zehn Jahre demokratischer Herrschaft sind in Afghanistan ohne Beispiel. Einige der wesentlichen Errungenschaften waren die Verfassung von 2004, Bürgerrechte und politische Freiheiten, Menschenrechte, der Bau von Straßen und Einrichtungen für die medizinische Grundversorgung in allen Bezirken, die Entwicklung einer grundlegenden wirtschaftlichen Infrastruktur in einigen Regionen unseres Lan-des usw.
2. Seit 2005 hat sich die Herangehensweise der Internationalen Gemeinschaft gewandelt, und die afghanische Zivilgesellschaft wurde bei landespolitischen Themen an den Rand gedrängt. Wir denken jedoch weiterhin, dass die Strategie aus dem Jahr 2001 umgesetzt werden sollte. Die Verpflichtungen, die die Internationale Gemeinschaft eingegangen ist, wurden nicht wie versprochen umgesetzt. Schwächen und Versäumnisse sollten untersucht werden um Schwachstellen zu identifizieren und ihnen nachgehen zu können.
3. Übergangsjustiz: Ohne Gerechtigkeit ist Frieden nicht möglich. Bislang wurden die Täter, die in den vergangenen Kriegen Afghanistans Menschenrechte verletzt haben, nicht verfolgt. Einige gehören der gegenwärtigen Regierung an oder haben andere hochrangige Positionen inne.
4. Die Daten der Volkszählung und andere Informationen im Hinblick auf Afghanistan sind beschränkt und häufig irreführend. Dazu kommt noch, dass die Medien häufig nur Negativschlagzeilen bringen. Die Arbeit der afghanischen Regierung sowie die Eingriffe der internationalen Gemeinschaft sollten entsprechend der Afghanistan National Development Strategy (ANDS) für die vergangenen zehn Jahre ausgewertet und die Ergebnisse einer solchen Auswertung öffentlich gemacht werden.
5. Die Jugend Afghanistans wurde in die Politik und die Regierungsgeschäfte nie richtig eingebunden, noch wurde dies ausreichend versucht. Sie muss ausgebildet und unterstützt werden. Innerhalb und außerhalb Afghanistans studieren über einhunderttausend Afghaninnen und Afghanen. Viele junge, vielversprechende Leute sind nicht nach Afghanistan zurück-gekehrt oder haben dem Land den Rücken gekehrt, da es für sie keine qualifizierten Stellen in Regierung oder Verwaltung gibt. Der Wandel in diesem Bereich geht besonders langsam vonstatten, da das Prinzip des Vorrangs nach Dienstalter gilt und da in Afghanistan Älteren besondere Ehrerbietung entgegengebracht wird. Einen Wandel gibt es aber dennoch, und in naher Zukunft werden viele junge, qualifizierte Leute öffentliche Ämter bekleiden, die dann für eine gute Regierungsführung sorgen werden. Ein weiteres Engagement in diesem Bereich ist deshalb erforderlich.
6. Verhandlungen mit den Taliban: Die Taliban sind eine organisierte militante Gruppe, die Demokratie, Menschenrechte, Zivilgesellschaft, Dialog usw. ablehnt. Die Regierung Afghanis-tans und Mitglieder der Internationalen Gemeinschaft verhandeln im Geheimen mit den Tali-ban. Die Taliban, an deren Regime viele Menschen schlimme Erinnerungen haben, werden von der Regierung durch den High Council for Peace (HCP), positiv als „Brüder“ bezeichnet, während andere wichtige Gruppen innerhalb der afghanischen Gesellschaft weiterhin an den Rand gedrängt, wenn nicht sogar diskriminiert werden. Obgleich die Regierung Afghanistans den Taliban die Hand gereicht und sie zu Verhandlungen eingeladen hat, haben die Taliban Todesbefehle gegen sämtliche Mitglieder des HCP verhängt; ein Mitglied wurde von ihnen tragischerweise bereits ermordet. Während hinter verschlossenen Türen Verhandlungen stattfinden, haben die Taliban in der ersten Hälfte dieses Jahres bereits mehr Menschen umgebracht als lange Zeit zuvor. Der HCP hat bislang noch keinen Arbeitsplan aufgestellt und beschäftigt sich vor allem damit, Geld zu verteilen und Taliban aus der Haft zu entlassen. Die Internationale Gemeinschaft sollte über diese Probleme nicht hinwegsehen. Verhandlungen sollten von ihr transparent geführt werden, und die afghanische Regierung sollte dazu angeregt werden, Afghaninnen und Afghanen zu schützen und in ihre Arbeit mit einzubeziehen, statt denjenigen Versprechungen zu machen, die keinen Frieden wollen.
7. Eine Billigung der Taliban würde bedeuten, dass man die Ideologie der Taliban billigt, wodurch sämtliche Entwicklungen und Errungenschaften preisgegeben würden. Am meisten besorgt über diese mögliche Entwicklung sind die Frauen Afghanistans, die fürchten müssen, ihre Rechte würden geopfert. Die Mentalität der Taliban und die Art, wie sich die Regierung an ihre Ideologie anbiedert, sind bereits heute besorgniserregend. Die Taliban stellen nicht nur für Afghanistan eine Bedrohung dar, sondern für die gesamte Welt.
8. Afghanische Demokraten: Diejenigen Afghaninnen und Afghanen, die die Demokratie und die Internationale Gemeinschaft unterstützen, werden nicht angehört. Eine Wiederein-gliederung der Taliban wird für die Menschen im Lande sehr negative Folgen haben – vor allem dann, wenn die Verhandlungen weiterhin im Geheimen und mit unklaren Zielen erfolgen.
Im Hinblick auf die aktuelle Lage und die anstehende Konferenz in Bonn, fordern wir, dass die folgenden Punkte berücksichtigt werden:
- Die 2001 gegenüber der afghanischen Zivilgesellschaft gemachten Versprechen und eingegangenen Verpflichtungen müssen erfüllt werden
- Die afghanische Zivilgesellschaft und die Frauen Afghanistans sollen an allen nationalen Entscheidungen angemessen beteiligt werden, besonders bei der Konferenz von Bonn 2011, und den von dieser Konferenz unterstützten politischen Prozessen; das gilt speziell im Hinblick auf Verhandlungen mit den Taliban
- Zur Unterstützung der afghanischen Zivilgesellschaft sollen angemessene Mittel zur Verfügung gestellt werden; Schulungs- und Weiterbildungsprogramme sollten fortlaufend umgesetzt werden
- Sowohl die Internationale Gemeinschaft als auch die Regierung Afghanistans sollten für Transparenz, Rechenschaftspflicht und Rechtsstaatlichkeit eintreten, um so das Vertrauen des afghanischen Volks zu gewinnen
- Die Wirtschaft sollte durch Investitionen in den Markt gestärkt werden, um so Armut und die Abhängigkeit von Hilfsleistungen zu beenden
- Die afghanische Nationalarmee sollte weiter mit Ausrüstung versorgt und ihre Einsatzfähigkeit gestärkt werden
- Die Verfassung Afghanistans von 2004 soll in Kraft bleiben; sie bildet einen stabilen Rahmen für die Zukunft Afghanistans, da sie gleiche Rechte für alle Bürgerinnen und Bürger garantiert
- Die Wurzeln des Aufstands müssen vernichtet werden, speziell auch diejenigen, die außerhalb Afghanistans angesiedelt sind oder von dort unterstützt werden.
Vier Jahrzehnte lang haben wir äußerstes Leid ertragen; wir wollen nicht, dass es den kommenden Generationen ähnlich ergeht, dass sie Gewalt, Unsicherheit, Unterdrückung, Exil und Flüchlingsdasein erleben müssen. Wir bitten deshalb darum, dass sich die Internationale Gemeinschaft und speziell die Bundesrepublik Deutschland langfristig in Afghanistan engagieren. Ihr Beitrag, im militärischen wie im zivilen Bereich, ist entscheidend dafür, dass wir eine friedliche und demokratische Zukunft haben.
Wir wünschen Ihnen und dem deutschen Volk, das sie vertreten, alles Gute.
Wir, die Mitglieder der Diskussionsgruppe, stimmen obiger Erklärung zu:
Dossier
Afghanistan 2011 - 10 Jahre Internationales Engagement
Nach zehn Jahren internationalem Einsatz in Afghanistan wird im Dezember 2011 eine weitere Afghanistan-Konferenz in Bonn stattfinden. Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt seit 2002 aktiv den zivilgesellschaftlichen Aufbau in Afghanistan und fördert den Austausch zwischen deutscher und afghanischer Öffentlichkeit. Das folgende Dossier gibt Raum für Kommentare, Analysen und Debatten im Vorfeld der Bonner Konferenz zu Afghanistan.