„Als die arabischen Revolutionen in Tunesien und Ägypten losgingen und sich in andere arabische Länder ausbreiteten, dachten wir in Syrien, dass erst alle anderen Staaten ihre Revolution erleben, bevor Syrien an der Reihe wäre. Da lagen wir falsch!“ sagt Sadiq Al-Mousslie, der in Deutschland lebende Europavertreter der „Initiative für Bürgerrechte in Syrien“. Denn die ersten Proteste gegen das Regime von Bashar al-Assad regten sich bereits im Februar. Mitte März folgten große Demonstrationen in mehreren syrischen Städten.
Doch heute, sechs Monate später, ist die syrische Protestbewegung dem Sturz der Diktatur allenfalls einen kleinen Schritt näher gekommen – und sie hat einen hohen Preis bezahlt: Menschenrechtsorganisationen sprechen von bislang 2.200 Todesopfern und tausenden Verhaftungen. Beim Jour Fixe der Heinrich-Böll-Stiftung und der taz diskutierten drei syrische Oppositionsvertreter und taz-Redakteurin Beate Seel über die Chancen eines demokratischen Wandels in ihrer Heimat.
Es herrsche derzeit eine Pattsituation, sagte Malik Al-Abdeh, in London lebender Vertreter der Oppositionsgruppe „Bewegung für Gerechtigkeit und Entwicklung“, aber sie werde nicht andauern.
Das Regime könne sich noch halten, da es ihm zum einen gelungen sei, die alawitische Minderheit, der Assad angehört, zusammenzuhalten. Zum anderen wurde die Opposition mit Reformankündigungen, kalkulierter Gewalt und der Inhaftierung vieler Aktiver geschwächt.
Die Motive für die ersten Proteste waren in Syrien die gleichen wie in Tunesien und Ägypten: Ein erstarrtes politisches System, eine Ökonomie ohne Perspektiven für die junge Generation und ein Regime, dass Rufe nach mehr Freiheit hart unterdrückt. Doch in Syrien blieben die Streitkräfte bisher der Herrscherfamilie al-Assad treu, breite Bevölkerungsschichten haben vor allem Angst vor einer Veränderung zum Ungewissen, und der allgegenwärtigen Propaganda des Regimes konnten junge Aktivist/innen mit den modernen Kommunikationstechniken des Internets wenig entgegensetzen.
Al-Mousslie nannte noch einen wichtigen Grund: „Es gibt sehr wenig Vertrauen unter den Leuten, die Angst ist verinnerlicht“, und man könne fast sagen, dass dieses grundsätzliche soziale Misstrauen von den Eltern auf die Kinder vererbt werde.
Mühsamer Klärungsprozess der Opposition
Thamer Al-Awam, Filmemacher und Journalist, der seit zehn Monaten in Deutschland lebt, beschrieb, wie das gegenseitige Verdächtigen auch die Reihen der Oppositionellen vergiftet. „Wir lieben einander nicht in Syrien“, sagte er. „Wenn irgendwo zwei Oppositionelle sind, ist immer einer vom Geheimdienst dazwischen.“ So konnte sich nie ein politischer Diskurs entwickeln, es gebe andauernde Debatten, wie man sich auf eine einheitliche Haltung verständigen könne, aber wenig Fortschritte. Die Gesellschaft sei so zersplittert, dass es Zeit brauche, um einen gemeinsamen Nenner zu finden. Er wies auch auf die unterschiedlichen Meinungen der Oppositionellen im Exil und der Protestbewegung im Land hin. Al-Awam deutete an, dass die syrische Opposition von der Bildung eines Übergangsrats, wie es ihn in Libyen gab, noch weit entfernt sei. „Wir diskutieren 24 Stunden am Tag darüber.“
Ein erster Versuch, einen solchen Rat im August in Ankara zu bilden, war gescheitert. Auch Al-Mousslie befand, die Opposition verfüge nach vier Jahrzehnten Repression über zu wenig politische Erfahrung und sei nun gezwungen, schwierige Fragen von Null an zu diskutieren. Es gebe wenige ältere Leute in Syrien, die noch die kurze Phase der Demokratie vor den Militärputschen der 50er-Jahre kennen.
Malik Al-Abdeh fand hingegen, dass die Erklärung von Damaskus aus dem Oktober 2005 die Grundlage für eine politische Neuordnung sein müsse. Darin einigten sich damals mehrere in Syrien aktive Organisationen und prominente Bürger auf die Forderung nach einer politischen Öffnung und Meinungs- und Organisationsfreiheit. Einige der Unterzeichner saßen lange als politische Gefangene in Haft. Dies seien die Leute, die wegen ihrer Erfahrung den Weg voranweisen könnten, sagte Al-Abdeh und fügte hinzu, die Ränge der Opposition seien in den vergangenen Monaten „durch Amateure“ angeschwollen, junge Leute, die „auf den fahrenden Zug aufspringen“ wollten. Das sei auch das Problem mit den verschiedenen Konferenzen, die oppositionelle Kräfte in den vergangenen Monaten im Ausland organisierten: „Lauter Leute, die neu dabei sind und wenig überzeugend wirken“. Ihnen fehle es an Erfahrung und somit an Glaubwürdigkeit, habe er nach vielen Interviews festgestellt, die er für den von London aus operierenden Satellitensender Barada-TV führte.
Ziel: Ein unabhängiger, demokratischer Rechtstaat
Dabei gibt es gar nicht wenige Felder, bei denen die Podiumsteilnehmer sich einig waren: Alle gingen davon aus, das die Tage des Regimes von Bashar al-Assad gezählt seien. Alle hielten es für unwahrscheinlich, dass islamistische Gruppen im zukünftigen Syrien eine wesentliche Rolle spielen werden. Alle traten für die Gleichberechtigung aller ethnischen und religiösen Gruppen in Syrien ein. Das politische System solle zu einem demokratischen Rechtsstaat umgebaut werden. Al-Abdeh glaubte, es werde drei starke gesellschaftliche Strömungen geben: die Geschäftsleute, der muslimische Klerus, der mit den Freitagsgebeten die besten Mittel zur Verbreitung seiner Ansichten habe, und schließlich bürgerlich-konservative politische Kreise, die schon vor der Baath-Ära in Syrien stark waren.
Alle traten auch dafür ein, dass Syrien seinen eigenen Weg ohne Beeinflussung von außen gehen kann. Bislang war die internationale Gemeinschaft – von der Arabischen Liga bis zum Uno-Sicherheitsrat – ohnehin so uneins, dass sie jenseits von Appellen an das Regime und der Verhängung wirtschaftlicher Sanktionen keine Schritte unternahm.
Im Publikum sah man hingegen finstere ausländische Mächte am Werk, war aber falsch informiert: Es ist nichts von einer Finanzierung syrischer Oppositionsgruppen durch den US-Geheimdienst CIA bekannt. Vielmehr hat – so lässt sich zumindest aus von WikiLeaks veröffentlichten Dokumenten schließen, das US-Außenministerium seit 2006 einige syrische Exilmedien im Rahmen seiner Demokratieförderung auf Umwegen finanziell unterstützt.
Jour Fixe