Zum ersten Mal in Libyen treffen sich über hundert Frauenrechtsaktivistinnen um fünf Tage lang die Rolle der Frau im neuen Libyen zu debattieren. Die Diskussion beginnt kontrovers, und Unterschiede werden schnell deutlich. Während viele der Frauen eine Frauenquote für politische Ämter fordern, wollen sich manche zunächst darüber austauschen, ob die Sharia ihren Männer das Recht gibt, ihnen die Teilnahme an einer solchen Konferenz zu verbieten. Sie geben zu, dass sie gegen den Willen der männlichen Familienangehörigen gekommen sind. Eine Koranpredigerin auf dem Podium antwortet knapp „Wir sind keine Hausangestellten, die um Erlaubnis zum Ausgang bitten müssen. Gott ist groβ!“ Auch fühlen sich viele Frauen aus Tripolis benachteiligt, weil die Zivilgesellschaft des bereits seit Ende Februar befreiten Benghazi mehr Zeit hatte, sich zu entwickeln. Umso wichtiger ist dieses Forum für die Frauen, sich auszutauschen.
Strukturen neu aufbauen
Die Herausforderungen sind vielfältig. Anders als in Tunesien und Ägypten gibt es in Libyen weder ein Parlament, noch Parteien, Gewerkschaften oder zivilgesellschaftliche Institutionen. Das Land muss praktisch neu aufgebaut werden. Die Stimmung unter den Frauen ist jedoch hoffnungsvoll. Die junge Studentin Amira Sallak aus Benghazi meint, dass sich die Situation der libyschen Frau nur verbessern kann. „Wer denkt, dass die libysche Frau schwach ist, irrt sich. Aber was wir brauchen ist eine Verfassung und Gesetze. Früher war es fast so, als ob Gaddhafis nächtliche Träume am nächsten Tag als Gesetze umgesetzt wurden. Alles war vollkommen willkürlich.“ Sawsan Wakil (Name geändert) aus Tripolis sucht seit Monaten Frauen und Männer auf, die von Gaddafis Schergen systematisch vergewaltigt wurden. Die Arbeit ist schwierig und gefährlich. Vergewaltigung ist ein groβes Tabu und viele Opfer sprechen aus Angst vor Stigmatisierung nicht. Die von ihr gegründete Organisation ist die einzige im Land, die den Opfern umfassend hilft. Mit Unterstützung der Heinrich Böll Stiftung kann sie ihnen auch soziale und ökonomische Reintegration bieten. Sie sagt „Trotz aller Hindernisse ist positiv, dass es eine breite Kampagne gibt, auch von offizieller Seite, diese Menschen nicht als Gebrandmarkte, sondern als Kriegsopfer zu betrachten.“
Die Stimmung in der Konferenz ist angespannt. Mustafa Abdeljelil, Präsident des Nationalen Übergangsrats, hat sich angekündigt. Wird er wirklich kommen und damit demonstrieren, dass er die Frauen ernst nimmt? Oder wird er sich in letzter Minute entschuldigen? Die Frauen diskutieren gerade Frauenrechte in der Sharia, als Abdeljelil den Raum betritt. Das Publikum begrüβt ihn mit der neuen Nationalhymne und Gedichten, die die Revolution beschwören. Abdeljelil betont die wichtige Rolle, die die libysche Frau in der Revolution gespielt hat und räumt ein, dass sie bisher auf politischer Ebene keine angemessene Vertretung inne hat. Er kündigt an, dass Frauen stärker als zuvor den politischen Prozess mitbestimmen sollen. Den anwesenden Frauen ist dies jedoch nicht genug. Zwischenrufe werden laut.
Nicht nur schöne Worte
Eine Frau steht auf und ruft „Wieviel Raum genau sollen wir denn bekommen, ungefähr soviel?“ während sie ihre Hand hoch hält und ironisch einige Zentimeter zwischen Daumen und Zeigefinder abmisst. Mit dem höflichen Zuhören ist es schnell vorbei. Salwa Aldgaily, selbst eine der vier weiblichen Mitglieder des Übergangsrats, bittet darum, es nicht bei „schönen Worten“ zu belassen und stattdessen konkrete Vorschläge für die Kandidatur von Frauen und eine Frauenquote auf den Tisch zu legen. Das Publikum applaudiert laut und es dauert eine Weile, bis es sich beruhigt. Abdeljelil ist umstritten. Viele Frauen waren enttäuscht, dass er in der Unabhängigkeitsrede am 23. Oktober ankündigte, dass die Sharia Grundlage der libyschen Gesetzgebung und die Polygamie wieder eingeführt werden sollte, anstatt sich bei den Frauen für ihre aktive Rolle in der Revolution zu bedanken. Die junge Aktivistin Hanan Abusedra bemerkt, dass die Wiedereinführung der Polygamie bei allen Problemen Libyens doch nicht die Priorität sein könne.
In der Diskussion wird jedoch auch klar, dass viele Frauen gläubig sind und selbst die Sharia befürworten. Viele kritisieren, dass Gaddafi der Gesellschaft den Säkularismus aufgezwungen habe. Andere meinen jedoch, dass nicht alle Gesetze abgeschafft werden müssen, nur weil sie aus der Feder von Gaddafi stammen. Aldgaily warnt davor, Säkularismus mit Unglauben zu verwechseln und jegliche Kritiker des Islam als „Blasphemist“ zu brandmarken. Sie fragt „Bei all dem Pluralismus in der Geschichte der Islam, all den verschiedenen Interpretationen, Schulen und sich wiedersprechenden Fatwas, wie soll der Islam in einer Verfassung festgeschrieben werden, die nicht mehr verändert werden sollte?“ Eine Frau nach der anderen reiht sich am Mikrophon auf. Sie alle verlangen, Frauenrechte explizit in der Verfassung festzugeschreiben und die Sharia frauenfreundlich zu interpretieren. Im Handumdrehen verwandelt sich die Konferenz in Libyens erstes, von Frauen angeführtes, zivilgesellschaftliche Forum zum verfassungsgebenden Prozess.
Begeisterung für Mahmud Jibril
Abdeljelil wirkt überfordert, verspricht jedoch, dass sich der Übergangsrat mit all den sensitiven Fragen beschäftigen wird. Er macht das Podium frei für Premierminister Abdel Rahim al-Kib Platz, der unerwartet auch eingetroffen ist. Dieser hat jedoch kaum ein paar Minuten gesprochen, als Mahmud Jibril, der erste Premierminister des Übergangsrats, den Raum betritt. Die Frauen sind euphorisch. Sie klatschen und singen so begeistert und laut, dass Kib lange pausieren muss. Jibril nahm nach der Befreiung Libyens kein weiteres Amt an, weil er vielen als „Exilant“ galt und gegenüber seinen Gegnern eine umstrittene Politik betrieb. Kib hingegen ist als Kompromisskandidat mehrheitsfähiger. Es ist jedoch offensichtlich, dass Jibril aufgrund seines frauenrechtsorientierten Kurses der deutlich populärste Politiker im Raum ist. „Dass Jibril derart begeistert begrüβt wird, ist sehr gut“, sagt eine Mitarbeiterin von Human Rights Watch. „Das zeigt Kib, dass er sich wesentlich mehr anstrengen muss, wenn er bei den libyschen Frauen diese Popularität erreichen will“.
Wichtiger Schritt zu mehr politischer Bedeutung
Die Überraschungen reiβen nicht ab. Der Justizminister und Informationsminister gesellen sich ebenfalls in die Runde, und jeder ist erpicht darauf, zu den Frauen zu sprechen. Sie scheinen realisiert zu haben, dass sie es ohne die Zustimmung des weiblichen Teils der Bevölkerung schwer haben werden. Angesichts der Unruhe im Saal bemerkt der Informationsminister, für seine laute Stimme bekannt, dass seine Stimme nichts sei im Vergleich zur Stimme der libyschen Frauen. Der Justizminister kündigt an, dass Kinder libyscher Frauen, die mit Ausländern verheiratet sind, die libysche Staatsangehörigkeit bekommen sollen. Damit wird Libyen, zusammen mit nur wenigen Ländern in der Region, Vorreiter in der arabischen Welt. Zudem gibt er bekannt, dass das Justizministerium eine Frauenquote von 25% für die Regierung vorschlagen wird.
Die Präsenz der politischen Crème de la Crème ist das Ergebnis der harten Arbeit von Alaa Murabit, Organisatorin der Konferenz und Mitbegründerin der Organisation „The Voice of Libyan Women“. Die junge Frau aus Zawiya, die Kopftuch trägt und amerikanisches Englisch spricht, sagt „Ich habe sie wochenlang belagert. Am Ende habe ich ihnen sogar Textnachrichten mit meinem Foto geschickt und ihnen gesagt, dass sie sich an mich und die Einladung erinnern müssen!“ Die anwesenden Vertreterinnen halten diesen Abend für einen historischen Moment. Sawsan Wakil geht auf Kib zu um für Unterstützung dafür zu werben, die Vergewaltigungsfälle vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen. Er weist sie knappt mit den Worten „In Libyen gab es keine sexuelle Gewalt“ zurück. Der Protest der Umstehenden zwingt ihn jedoch dazu, seine Reaktion zu überdenken. Kleinlaut verabschiedet er sich mit der Zusage, sich der Sache aktiv anzunehmen.
„Jetzt wo Ihr Politiker gekommen sind und all diese Versprechungen gemacht haben, könnt Ihr nicht mehr zurück“ ruft eine Frau aus dem Publikum. „Wir haben alles, was Ihr zugesagt habt aufgeschrieben, und werden Euch ständig daran erinnern!“
Layla Al-Zubaidi leitet das Büro Mittlerer Osten der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut, Libanon.