Der Zwang zur Transparenz

In vielen polnischen Großstädten haben in den vergangenen Tagen Tausende gegen das Urheberrechtsabkommen ACTA protestiert. Manche vergleichen die aktuellen Demonstrationen schon mit der Solidarność-Bewegung in den Achtzigerjahren. In keinem Land ist der Protest gegen ACTA so entschieden, so laut und so auffällig wie in Polen. Aber warum eigentlich?

Der Protest gegen das weitgehend im Geheimen verhandelte Abkommen zwischen den USA, Japan, der EU und weiteren Staaten richtet sich vor allem gegen Maßnahmen, mit denen gegen Urheberrechtsverletzungen und Piraterie im Internet vorgegangen werden soll. Kritiker sehen im dem sehr allgemein gehaltenen Vertragstext einen Vorstoß, der es künftig leichter macht, die Meinungsfreiheit im Internet einzuschränken und eine routinemäßige Überwachung von Internetanbietern einzuführen.

Es ist strittig, ob das stimmt: Juristen weisen darauf hin, dass die Gesetze in Polen oder Deutschland bereits schärfere Vorschriften enthalten, als in ACTA vorgesehen. Andere kritisieren, dass mit Acta die aktuellen Copyright-Gesetze zementiert würden, statt gemeinsam mit Kreativen und Internetnutzern über neue Wege nachzudenken. Die meisten Demonstranten in Warschau, Krakau oder Posen dürften sich für solche Details allerdings ohnehin nicht interessieren.

Denn der polnische Widerstand gegen ACTA richtet sich weniger gegen das konkrete Abkommen, als gegen Politik und Politiker allgemein. Viele junge Polen fühlen sich von den etablierten Parteien wie der rechtsliberalen Bürgerplattform (PO) von Premier Tusk schlecht vertreten und hintergangen.

Das hat vor allem soziale und wirtschaftliche Gründe. Vom polnischen Wirtschaftswunder der vergangenen Jahre hat die junge Generation kaum profitiert. Selbst gut ausgebildete Akademiker finden keine gut bezahlten Jobs und werden meist nur für wenige Monate angestellt. Die Gehälter gehören zu den niedrigsten in der EU. Viele leben auch als Berufsanfänger noch bei ihren Eltern, weil sich kaum jemand leisten kann, eine Wohnung zu kaufen oder die hohen Mieten in den Großstädten zu zahlen.

Auch deshalb gehen jetzt vor allem junge Polen zwischen 20 und 30 auf die Straße, um zu zeigen, dass sie sich von der Regierung nicht bevormunden lassen wollen. Wenig überraschend, dass inzwischen vor allem Sprüche gegen die Tusk-Regierung auf den Demos dominieren. Dass seine Regierung die Bürger nicht informierte, bevor sie das Abkommen unterschrieb, finden viele empörend. Und es bestätigt ihre Vorurteile über eine politische Elite, die sich nicht dafür interessiert, was die Bürger denken. Das führt sogar zu der merkwürdigen Situation, dass Rechtsradikale und Rechtspopulisten gemeinsam mit den Linken auf den Straßen Warschaus und anderer Städte gegen die Regierungspolitik demonstrieren.

Nach den unerwartet heftigen Protesten setzt die Regierung in Polen deshalb jetzt auf Transparenz. Nachdem er kurz zuvor bekannt gegeben hatte, das Polen seine Unterschrift unter das Abkommen zwar nicht zurückziehe, es aber vorerst auch nicht ratifizieren würde, diskutierte Premier Donald Tusk öffentlich mit Bürgern und Bloggern. Nach der Diskussion kündigte die Regierung an, sämtliche Dokumente zu ACTA zu veröffentlichen, die ihr vorliegen. Das soll auch den polnischen Kommentar zum ACTA-Abkommen einschließen. Dieses Dokument ist besonders wichtig, denn darin geht es darum, wie ACTA im polnischen Recht interpretiert würde. In den kommenden Monaten soll es weitere öffentliche Diskussionen zu Internetfreiheit, geistigem Eigentum und Urheberrechten geben.

Das „Ministerium für Verwaltung und Digitalisierung“ plädiert außerdem dafür, den Bürgern alle verfügbaren Informationen online zugänglich zu machen und sie stärker in die Entscheidungsfindung einzubinden. Auch ein völliges Scheitern von ACTA in Polen schließt das Ministerium nicht aus. Sollte die Debatte zeigen, dass es schwerwiegende Argumenten gegen ACTA gibt, solle das Abkommen nicht ratifiziert werden.

Tusk und seine Regierung stecken in einem Dilemma. Einerseits kann sie nicht einfach dem Druck der Straße nachgeben und sich den Forderungen der Regierungskritiker beugen. Andererseits muss sie irgendwie auf den immer stärker werdenden Widerstand vor allem der jungen Polen reagieren, wenn sie politische Frustration und Entfremdung nicht weiter verstärken will. Der jetzt eingeschlagene Weg der größtmöglichen Transparenz ist daher der einzig gangbare. Die Regierung in Warschau sollte das Prinzip auch bei anderen Themen beherzigen. Sonst könnten die Proteste bei der nächsten Kontroverse noch größer werden.


Stefan Kesselhut ist freier Journalist in Berlin und Warschau.