Willkommen in Belvil

Alissa Starodub

Im Regierungsviertel von Belgrad diskutiert man über den EU-Beitritt. Im Ghetto „Belvil“ am Rande der serbischen Hauptstadt sind 700 Romani glücklich über einen Wasserschlauch.

Reisende, die mit dem Zug nach Belgrad fahren, kommen nicht umhin, Belvil zu bemerken. Bevor der Zug am Hauptbahnhof zum Stehen kommt, hält er an der Station in Novi Beograd, ein Stadtbezirk mit Hochhäusern, den einst jugoslawische Arbeitsbrigaden hochgezogen haben. Direkt neben den Gleisen der Station Novi Beograd liegt Belvil. Auf einer sandigen Brachfläche stehen gut hundert niedrige Hütten aus Teppichen, Türen, Brettern und  Wellblech. Wenn die Reisenden während des kurzen Stillstands des Zuges hier die Fenster kippen, vernehmen sie verzerrte Klänge aus einem Radio. Sie können den Rauch riechen, der von einem Feuer irgendwo in der Mitte der Siedlung aufsteigt. Wenn der Zug weiterfährt,  lässt er die grauen, nur mit Nummern bezeichneten Wohnblöcke hinter sich.

Unweit von Belvil befindet sich das größte Flohmarktgelände Belgrads. An eng aneinandergereihten Buden wird dort um Haushaltswaren, Jeans, Werkzeuge und viele andere Dinge gefeilscht. Keiner der Romani aus Belvil kommt je auf diesen Flohmarkt - zwischen der Siedlung und dem Flohmarktgelände scheint eine unsichtbare Grenze zu verlaufen. Den Flohmarkt und Belvil trennen nur eine Straße und ein Parkplatz. Wer nicht in Belvin wohnt, wagt sich nicht weiter als bis zum Parkplatz heran. Dahinter beginnt das sandige Brachland.

Männer schieben Fahrräder und Karren voller Kartons von den Sammelmülltonnen der Wohnblocks nach Belvil. Er habe ein Loch in der Wand seiner Hütte, erklärt ein junger Romani, der in einer Mülltonne am Rande von Belvil nach Baumaterial sucht. Die Behausungen der Romani sind ohne Nägel errichtet. Die Wände sind so hoch wie eine Tür, die Decke ist mit Autoreifen beschwert. Innen bedeckt ein zerstampfter Teppich den sandigen Boden, Autositze ersetzen die Wohnzimmercouch.

Das Romani-Mädchen Ima hat keinen Strom in ihrem Haus. Ima sagt, sie sei neunzehn Jahre alt. Sie hat lange schwarze Haare und rot lackierte Fingernägel. Die schmutzige  Sporthose ohne Gummi spannt sich um ihren Bauch, Ima ist hochschwanger. Breitbeinig sitzt sie auf einem Klappstuhl unter einem der wenigen dünnen Bäume, die sich in Belvil verzweifelt aus dem sandigen Boden ranken. Unter diesem Baum, nahe am Zentrum der Siedlung, haben etwa zwanzig Frauen und Kinder eine Kreis um ihren Gast geformt. Sie sind erstaunt über den Besuch von außerhalb.

„Niemals kommt ein Weißer nach Belvil“, sagt eine dicke ältere Frau mit zwei Goldzähnen und zwei Zahnlöchern. Sie lacht und Falten schieben sich ihre Wangen hoch. Die Gruppe unter dem Baum spricht „Ciganski“ und langsames, geduldiges, klar verständliches Serbisch. Sie geben sich Mühe für den Neuankömmling, sie lächeln viel und gestikulieren, um sich verständlich zu machen. Wie lange sie hier schon wohnt, weiß Ima nicht. Ihr kleiner Bruder wurde in Belvil geboren. Er ist ein schmächtiger Junge, zehn Jahre vielleicht, oder älter. „Er war eines der ersten Kinder, die hier geboren wurden“, sagt Ima. „Und er ist nicht das letzte Kind, gewesen, das hier geboren wird“, sagt die Frau mit den Goldzähnen und deutet auf Imas Bauch. Viele der Bewohner von Belvil kommen aus dem Kosovo, der Krieg von 1999 brachte sie hierher. Andere sind nachgezogen. Insgesamt wechseln die Bewohner von Belvil in letzter Zeit häufig, die einen ziehen weiter, andere kommen nach. Warum? Weil es hier einen Wasserquelle gibt. Stolz erzählen die älteren Frauen vom Wasserschlauch an der Ecke des Grundstücks, aus dem seit Jahren Wasser strömt. Dort füllen Männer Wasserkanister ab, junge Frauen waschen Teppiche, Jugendliche bespritzen sich mit Wasser.

„Unsere Kinder gehen nicht zur Schule“, sagt eine mittelalte Frau mit einem Stock in der Hand. Sie malt einen Pfeil in den Sand, der in die Richtung des Flohmarktgeländes zeigt. „Da ist die Schule“, lacht sie und andere stimmen in ihr Gelächter ein.

Vom Schulbesuch der Kinder von Belvil wissen die serbischen Behörden nichts, sie wissen nichz einmal von den meisten Bewohnern des Ghettos. Die Romani haben weder einen Reisepass noch einen Ausweis. Ihre Hütten sind nicht registriert, also können sich die Romani nicht um eine temporäre oder permanente Bleibegenehmigung bewerben. Es ist ein geschlossener Kreislauf, nahezu unmöglich zu durchbrechen. Imas Kind wird keine Geburtsurkunde erhalten, es ist nicht das erste, das ohne Papiere und ohne Grundrechte lebt.

Um ihre Grundrechte machen sich die Romani jedoch weniger Sorgen, vielmehr fürchten sie die drohende Räumung von Belvil. Menschenrechtsorganisationen beklagten in einem Brief an die Belgrader Regierung, dass Gerüchten zufolge das Ghetto Ende des Jahres geräumt werden soll. „Die Erfahrung mit der Umsiedlung des Ghettos Gazel hat gezeigt, dass die lokalen Autoritäten kein Interesse daran haben, eine dauerhafte Lösung für das Wohnungsproblem und für anderen Probleme der Romani zu finden“,  sagt Ivana Dimic von Prexis, einer Non Profit Organisation, die sich für die Rechte Vertriebener einsetzt.

„Möge der Wasserschlauch uns hier noch für viele Jahre Wasser geben“, wünscht sich die ältere Frau mit dem freundlichen Lächeln und den wechselvollen Zahnreihen. Sie sagt: „Geh ihn dir doch anschauen, wenn du nicht glaubst, wie schön er ist.“

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