Mit dem Krieg wollen junge Menschen in Serbien wie Milan Pavlovic nichts mehr zu tun haben. Warum nicht? Weil das Geschichtsbewusstsein in einem Postkriegstrauma feststeckt.
Milan Pavlovic kaut nervös auf seinen Nägeln. Immer dann, wenn er auf den Krieg angesprochen wird. Er schaut ernst, seine eisblauen Augen verraten nicht viel. Er wischt sich die Schweißperlen auf der Stirn. „Ich war noch nie hier drin“, sagt er. Er ist 19 Jahre alt und schaut mit geöffnetem Mund an die Decken und die Wände des Nationalarchivs in Belgrad.
Milan Pavlovic studiert Mathematik, er liest Spinoza und kennt sich aus in europäischer Geschichte. „Jugoslawen waren schon immer gewohnt, Kriege zu führen. Das sieht man ja an unserer Geschichte. Ich wusste aber nicht, dass es jugoslawische Kämpfer im spanischen Bürgerkrieg gab”, sagt er und schlendert hinüber zur Bildergalerie der aktuellen Ausstellung „No pasarán!“. Auf einem der Schwarzweiß- Drucke sieht man eine verzweifelte Frau, die sich über einen verwundeten Mann beugt. Auf einem nächsten Bild: Leichen in der sengenden Sonne. Auf einem weiterem: Ein Gruppenbild von Männern und einer Frau vor einer jugoslawischen Taverne in Frankreich, sie trinken Wein.
Milan Pavlovic fährt mit dem Finger über die kyrillische Schrift. Er sagt: „An den Krieg erinnere ich mich nicht. Dafür bin ich zu jung. Aber ich habe die Bombardements mitbekommen. Alle hatten Angst und wir mussten in die Keller. Keine so schöne Zeit.” Er will hier raus, es ist stickig im Nationalarchiv. Draußen ist es kalt. Milan Pavlovic trägt einen schwarzen Kapuzenpullover mit der Aufschrift „Evangelische Jugend Fredenbeck“. Er eilt zum Straßenimbiss auf dem Bulevar Kralja Aleksandra. Was er überhaupt vom Krieg weiß? „Nicht viel. Die einen sagen dies, die anderen sagen das. Da weiß man nicht, wem man was glauben soll, wer die Wahrheit sagt.“
Für ihn gibt es keine Unterschiede zwischen Kriegen, für ihn sind alle Bilder gleich. „Es hätten auch Bilder eines anderen Krieges aus einem Geschichtsbuch sein können.“ Die Geschichtsbücher in den Schulen, sagt er, schreiben nichts über die jüngere Vergangenheit Serbiens. Kein Wort über die Schlacht um Dubrovnik, den Genozid von Srebrenica oder den Terror im Kosovo. „Es waren vielleicht fünf Seiten in den Schulbüchern über den Krieg. Das Thema wurde im Unterricht nicht behandelt.“ Die Geschichte endet mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Tod Josip Broz Titos, erinnert er sich.
Die Worte des jungen Mannes sind bezeichnend für die Einstellung der Serben gegenüber ihrer Vergangenheit. Viele schauen müde weg und winken ab, wenn Diskussionen aufkommen, wer denn nun Schuld sei an diesem Krieg, an dieser Barbarei. In den Medien ist das Thema ab und zu präsent. „Alles nur Wahlkampf“, spottet Milan Pavlovic: „Hier werden die Medien benutzt, um die Leute von ihren alltäglichen Problemen abzulenken.“
Serbien hat eine Arbeitslosenquote von 23 Prozent. Laut Statistik sehen die Serben durchschnittlich bis zu fünf Stunden am Tag fern. Das Durchschnittseinkommen beträgt umgerechnet 400 Euro monatlich. Allein ein Internetanschluss kostet 25 Euro – das ist Luxus. 78 Prozent der Gesamtbevölkerung nutzen das Fernsehen als wichtigste Informationsquelle, während nur acht Prozent Printmedien und vier Prozent das Radio als Hauptinformationsquelle verwenden. In Belgrad gibt es nur zwei Läden, die internationale Presse verkaufen. Alle serbischen Presseagenturen sind staatlich.
Wie passt das alles zusammen? Die Bevölkerung befindet sich in einer Art Nachkriegsschock, in einer lethargischen Stimmung, die sich wie ein muffiges Stück Stoff um die Stadt legt. Es schwingt ein wenig Ostalgie mit. „Wichtiger als die Vergangenheit ist für mich die Gegenwart“, sagt Milan Pavlovic: „Es ist sinnlos, sich mit vergangenen Dingen zu beschäftigen, da man sie sich nicht mehr ändern lassen. Ich widme mich lieber meinem Studium und Dingen, die mir Spaß machen, denn es ist mein Job zu studieren.”
Sein Vater ist Bauarbeiter und investiert viel Geld in die Bildung seines Sohnes. Die Mutter starb an Krebs kurz nach Ende des Krieges. In seiner Familie werde auch nicht über den Krieg gesprochen. Seine Großeltern und sein Vater erzählten ihm nur, wie gut es allen ging unter Josip Broz Tito, dem letzten Präsidenten Jugoslawiens. Laut Predrag Ivanovic vom Zentrum für Menschenrechte in Belgrad ist das keine Seltenheit. Ivanovic sagt: „Alles, was man als Tourist hier hört und sieht über den serbischen ‘way of dealing‘ mit der eigenen Vergangenheit, rührt von einem unfertigen Prozess der Vergegenwärtigung her.“ Das Zentrum für Menschenrechte wurde 1992 in Belgrad gegründet, um Menschenrechtsverletzungen während des Balkankriegs zu dokumentieren. Aber brauchen die Leute diese NGO überhaupt? Denn egal, ob es sich um den nationalen Mythos vom goldenen Zeitalter unter Tito handele oder die Verweigerung sich mit den Fakten des Krieges auseinanderzusetzen, alle seien nur „daran interessiert, Serbien zu schaden“, sagt Ivanovic: „Das ist die allgemeine Auffassung.“
Milan Pavlovic sieht sich nicht als Opfer. Er sagt: „Ich weiß, dass andere mehr gelitten haben als ich.“ Er nippt an einem Glas Apfelsaft. Während einer Jugendfreizeit habe er einmal kroatische Jugendliche seines Alters getroffen. „Wir haben zusammen Basketball gespielt und uns normal unterhalten. Es fiel kein Wort über die Konflikte zwischen unseren Ländern. Für uns war das nicht wichtig.“ Für den Menschenrechtsaktivisten Ivanovic ist das der Beweis seiner These, dass in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens keine Erinnerungskultur aufkommt: „Wichtig wäre, dass alle Seiten sich im Klaren sind über die Dinge und sie einen soliden Grund für gegenseitiges Verständnis haben.“
Doch wie soll man sich darüber klar werden, wenn niemand weiß, welcher Quelle man glauben kann und welcher nicht? Wie soll man gegenseitiges Verständnis entwickeln, wenn in den Medien das Gegenteil suggeriert wird? Und wie soll man sich kritisch verhalten und eigenständig recherchieren, wenn man den ganzen Tag damit beschäftigt ist, die Miete zusammenzubekommen? „Wenn es einen Willen gäbe, über die Wahrheit zu sprechen, würde das Land einen großen wirtschaftlichen Umschwung erleben“, sagt Predrag Ivanovic: „Man müsste diese vom Leugnen der Vergangenheit eingekeilten Energien entfesseln, damit eine neue wirtschaftliche Perspektive ermöglicht wird.“
Milan notiert seine E- Mail- Adresse auf eine Serviette. Darin eine Zahlenkombination aus sechs Ziffern. „Das sind die befreundeten Zahlen.“, erklärt er lächelnd. „Sie sind jeweils die Summe aller echten Teiler der anderen.“
Für junge Serben wie Milan und Predrag sind Zahlen und wissenschaftlich belegbare Fakten von Bedeutung. Sie sind der erste Weg dazu die weit entrückte Wahrheit handgreiflich zu machen. „Wir haben genug Geschichten über den Krieg gehört.“, sagt Predrag Ivanovic abschließend. Wie auch Milan kämpfen er und seine Kollegen vom Zentrum für Menschenrechte tagtäglich mit Zahlen in einem System. Nur sind seine Zahlen Opferstatistiken und sein System nicht die Mathematik, sondern die noch sehr junge Geschichte des serbischen Staates.