Koichi Koike, 1948 geboren, ist Agrarökonom aus Ōnami, einem Bezirk der Stadt Fukushima. Seit 20 Jahren engagiert er sich gegen Atomkraft. Er war Kläger in einem Anti-Atom-Prozess, an dem sich tausend Bürger/innen beteiligten. Anlässlich des Jahrestages des Unglücks von Fukushima am 11. März 2012 reiste er auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung und des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) für einige Tage durch Deutschland. Mit uns sprach er über den Alltag von Familien aus seiner Region und über die Mobilisierung der Bevölkerung gegen Atomkraft, die er sich zur Aufgabe gemacht hat.
Böll: Herr Koike, angesichts der immer noch hohen radioaktiven Strahlenwerte in vielen Regionen Japans, haben die Menschen Angst, wie sich bestimmte Nahrungsmittel oder Niederschlag auf ihre Gesundheit und die ihrer Kinder auswirken? Ist diese Angst im Alltag ständig präsent?
Koike: Da haben Sie vollkommen Recht. Und zwar ist die Angst immer latent da, besonders bei Leuten, die kleine Kinder haben. Doch noch bevor man sich Sorgen über das Essen und Trinken macht, denkt man: Ist es ok, wenn ich jetzt im Freien atme? Soweit ist es gekommen. Das ist immer im Kopf. Besonders viele Mütter kleiner Kinder sind wirklich so verängstigt, dass sie ihre Kinder nicht draußen spielen lassen können. Bei uns am Haus gibt es beispielsweise eine kleine Vertiefung, wo Regenwasser durchläuft, ein kleiner Graben. Dort haben wir schon einmal 60 Mikrosievert (μSv) gemessen. Wenn die Mütter ihre Kinder draußen frei laufen lassen möchten, wäre das viel zu hoch. Überall, wo eine hohe Radioaktivität nachgewiesen wird, behalten Mütter ihre Kinder deshalb im Haus und zwar mit Mundschutzmasken, auch in den Städten. Es gibt ja in der Präfektur Fukushima verschiedene Ortschaften, z.B. Fukushima-Stadt, Koriyama, Nakadōri, Hamadōri.
Böll: Ist das auch in Gebieten, die einige hundert Kilometer entfernt von Fukushima liegen, z.B. in Tokio, der Fall?
Koike: Ich glaube nicht, dass die normalen Menschen in der Großstadt Tokio latent Angst haben. Nur wahrscheinlich wieder die Eltern kleiner Kinder. Sie lassen zwar ihre Kinder draußen spielen, aber auch sie machen sich sicherlich die Gendanken: "Kann ich meinem Kinde dieses oder das Lebensmittel zumuten?" Aber Menschen ohne kleine Kinder wundern sich, wenn sie hören, dass wir unsere Kinder nicht gern nach draußen schicken. Sie würden fragen: "Machen Sie sich immer noch Gedanken darüber?" Das wäre die Reaktion.
Böll: Hat denn schon das Vergessen eingesetzt?
Koike: Ich denke ja.
Böll: Angesichts solcher Entwicklungen, sehen und spüren Sie noch Protest in der Bevölkerung?
Koike: Ja, durchaus. Im September letzten Jahres gab es eine große Demonstration mit 60.000 Menschen. Und am 11. März 2012, also dem Jahrestag des Unglücks, werden wir eine Demonstration in Koriyama-Stadt in der Präfektur Fukushima organisieren. Wir können aber noch nicht abschätzen, wie viele Menschen dort hinkommen werden. Vor kurzem gab es in Yokohama einen Weltkongress gegen Atomkraft. Da waren so viele junge Leute, die freiwillig auf eigene Faust hingegangen sind. Ich bin jedenfalls nicht pessimistisch. Aber die japanische Presse ist ein Problemfall. Sie versucht das Problem kleinzureden. Das müssen wir irgendwie ändern.
Böll: Zeigen sich auch Proteste in der Regierung oder in Oppositionsparteien?
Koike: Es gibt Politiker, sowohl aus der Opposition, wie z.B. aus der LDP (Anm. der Red.: Liberaldemokratische Partei in Japan), als auch von der demokratischen Partei, der Regierungspartei, die sich dem Problem stellen wollen und für den Atomausstieg plädieren. Aber leider ist diese Gruppe noch klein, so dass bisher keine große Bewegung daraus entstanden ist. Tatsache ist auch, dass es seit dem 11. März 2011 auf nationaler Ebene noch keine Wahlen gegeben hat und ich glaube, es könnte bei den nächsten Wahlen sehr interessant werden. Wir sind gespannt, wie die Atomkraftgegner abschneiden werden. Wir müssen noch mehr dafür arbeiten, damit möglichst viele Atomkraftgegner dann tatsächlich ins Parlament einziehen.
Böll: Wie wollen Sie daran arbeiten?
Koike: Wir müssen auf allen Ebenen der demokratischen Gesellschaft das Bewusstsein schaffen, dass wir den Atomausstieg brauchen; also auf der kommunalen Ebene, der Präfekturebene und auf der nationalen Ebene. Die Menschen sollen mitbekommen, dass wir alle für den Atomausstieg, für seinen Befürworter, unsere Stimme bei den Wahlen abgeben müssen. Dieses Bewusstsein müssen wir, z.B. durch die Demonstrationen, die wir organisieren, sichtbar machen. Das ist unsere Arbeit. Und besonders möchten wir an junge Menschen appellieren. Viele junge Menschen sind politikverdrossen und gehen nicht zur Wahl. Das muss geändert werden. Wir arbeiten darauf hin, dass die jungen Menschen für den Atomausstieg wählen gehen. Die Verdrossenheit ist ziemlich verbreitet, nicht nur bei den jungen Leuten. Viele sagen, es ändere nichts an der Sache, ob sie wählen gingen oder nicht. Aber ich glaube, wir können die Situation ändern, wenn wir wählen gehen.
Böll: Was sind ihre persönlichen Hoffnungen und Ziele für die Zukunft?
Koike: Persönlich oder auch nicht, möchte ich jetzt darauf hinarbeiten, dass zwei AKWs abgeschaltet werden und längerfristig alle abgeschaltet und abgebaut werden. Das ist meine künftige Arbeit und Hoffnung. Es gibt jedoch eine Anlage, die noch viel gefährlicher ist als jedes Atomkraftwerk. Das ist die Wiederaufbereitungsanlage. Dort werden Brennstäbe wiederaufbereitet, so dass aus den normalen uranbasierten Brennstäben radioaktives Plutonium gewonnen werden kann, das wiederum in Atomkraftwerden eingesetzt wird. Das ist ein absolut gefährlicher Zyklus. Ein weiteres Anliegen von mir ist also, dass die Wiederaufbereitungsanlage nicht in Betrieb genommen wird. Wir haben jetzt schon mit Fukushima 1 so viel Erde verseucht. Wir müssen eine Situation schaffen, in der so etwas nie wieder passiert.
Böll: Herr Koike, vielen Dank für das Interview.
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Das Interview führte Jessica Schulz, Heinrich-Böll-Stiftung
Dossier
Tschernobyl 25 – expeditionen
Am 26. April 1986 explodierte der Atomreaktor in Tschernobyl. Nicht nur Teile der Ukraine, Weißrusslands und Russlands wurden verstrahlt. Die radioaktive Wolke überzog halb Europa. Die Katastrophe war aber nicht nur eine ökologische. Die Entwicklung der Kultur einer ganzen Region wurde unwiderruflich gestoppt. Die Ausstellung „Straße der Enthusiasten“, Lesungen, Diskussionen und ein internationales Symposium erinnern an den GAU und fragen, ob eine weltweite Renaissance der Atomkraft tatsächlich Realität wird.