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Stabil, ungerecht und abhängig: Mexikos Wirtschaft vor großen Herausforderungen

Unter Felipe Calderón wuchs Mexikos Wirtschaft langsam, zeigte sich aber stabil. Im Juli wird ein neuer Präsident gewählt. Seine Herausforderung: die Bekämpfung der Armut, die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen und mehr Innovation. Ein Überblick zur wirtschaftlichen Lage in Mexiko.

Insgesamt wuchs Mexikos Wirtschaft unter Präsident Felipe Calderón äußerst dürftig. Im Schnitt stieg das Bruttoinlandsprodukt des Schwellenlandes seit 2001 gerade mal um 1,55 Prozent jährlich. Damit ist Mexiko fast Schlusslicht in Lateinamerika.

In Mexiko wird Anfang Juli ein neuer Präsident gewählt. Die Auswirkungen auf die Ökonomie der zweitgrößten Volkswirtschaft Lateinamerikas werden vermutlich minimal sein. Auch der Nachfolger von Präsident Calderón wird an der Stabilitätspolitik seiner Vorgänger festhalten müssen, die Mexiko in den vergangenen Jahren ausgezeichnet hat: Geringes Haushaltsdefizit, niedrige Inflation, hohe Devisenreserven. Im Haushaltsentwurf 2012 ist ein Gesamtdefizit von 2,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes vorgesehen. Bedenkt man, dass die meisten EU-Mitgliedsstaaten die vom Stabilitäts- und Wachstumspakt gesetzte Defizitgrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts regelmäßig überschreiten, steht Mexiko makroökonomisch gut da.

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Die soziale Herausforderung des neuen Staatschefs wird darin liegen, die Armut zu bekämpfen und mehr und würdige Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu aber muss das Bruttoinlandsprodukt des Landes kräftiger wachsen als in der Amtszeit Calderóns. Seit 2007 stieg das BIP durchschnittlich um nur 1 %. Zudem muss es gelingen, die strukturellen Defizite wie die Abhängigkeit vom Erdöl und den USA als Exportmarkt zu verringern.

Auffällig ist, dass die Volkswirtschaft zwar wächst, aber dabei unter ihrem Potenzial bleibt. Zum anderen kommt von dem Wachstum bei der Bevölkerung zu wenig an. Trotz Wachstum steigt in Mexiko wieder die Armut.

Die Chefin des Internationalen Währungsfonds IWF, Christine Lagarde, lobte bei einem Besuch in Mexiko im November zwar die „Stärke” der mexikanischen Wirtschaft, mahnte aber weitere Reformen an, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Auswirkungen der einseitigen Abhängigkeit von den USA – 20 Prozent der Wirtschaftsleistung Mexikos hängen am Export in die Vereinigten Staaten – hat sich während der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 gezeigt: Mexiko war das Land Lateinamerikas, das am stärksten von der Krise betroffen war. Das Bruttoinlandsprodukt fiel um 6,5 Prozent. Andere Staaten der Region wie vor allem Brasilien mit wesentlich diversifizierteren Märkten, hatte deutlich weniger unter der Krise zu leiden.

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Laut eines Berichts der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) besteht die strukturelle Anfälligkeit der mexikanischen Wirtschaft auch im Jahr 2011 fort. Während aufstrebende Volkswirtschaften wie Brasilien, Russland, Indien oder China (BRIC-Staaten) gestärkt hervorgingen, besteht in Mexiko das alte Dilemma fort: Einseitige enge Handels- und Exportbeziehungen zu den klassischen Industriestaaten. 2009 gingen 91% der mexikanischen Exporte in die Industrieländer, allen voran die USA und Spanien, nur 3% in die BRIC-Staaten und 6% in die übrigen Schwellenländer. Zum Vergleich: Brasilien exportierte 44% seiner Produkte in die Industrieländer, 17% in die BRIC-Statten und 39% in die übrigen Schwellenländer. Eine Anpassung an die veränderten globalen Strukturen durch entsprechende handelspolitische Innovationen und Investitionen ist nach Einschätzungen der IDB unabdingbar, damit Mexiko den Anschluss nicht verpasst.

Soziale Schieflage

Die Frage, welchen Weg Mexiko einschlagen sollte,um wirtschaftliche Stabilität und Wachstum erfolgreich zu verbinden, ist umstritten. Auf der einen Seite stehen die Befürworter der Privatisierung von Arbeitsmarkt und staatlichen Versorgerunternehmen wie dem Ölunternehmen Petróleos Mexicanos (PEMEX). Kritiker hingegen bemängeln, dass derartige Reformen die enorme Ungleichheit nur perpetuiert.

Die sozialen Auswirkungen der mexikanischen Strukturdefizite sind offensichtlich. Soziale Sicherheit und Gerechtigkeit sind für die meisten Mexikaner/innen nicht in Reichweite: Zwar ist die Armut zwischen 2002 und 2008 von 39,4 auf 34,8 Prozent gefallen. Aber seit vier Jahren steigt sie wieder und lag 2010 bei 36,3 Prozent. Das heißt rund 40 der 112 Millionen Mexikaner/innen haben nicht genügend zu essen oder kein würdiges Dach über dem Kopf. (CEPAL, UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika)

Hinter diesen Armutszahlen stehen Menschen, die Arbeit und Perspektive benötigen. Sichere Arbeitsplätze mit würdiger Bezahlung fehlten in vielen Teilen des Landes, bemängelt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Laut einem Bericht weist Mexiko bei der Einkommensverteilung der OECD-Länder nach Chile die zweithöchste Ungleichheit auf. Zwar habe sich diese in der Gesamttendenz verringert, aber dennoch sind die realen Einkommen der oberen zehn Prozent der Bevölkerung stärker angestiegen als die der unteren zehn.

Präsident Felipe Calderón hat Ende 2006 sein Amt mit dem Versprechen angetreten, der „Präsident der Arbeitsplätze” zu sein. Die Bilanz zu Beginn seines letzten Amtsjahres spricht eine andere Sprache. Vor sechs Jahren lag die offizielle Arbeitslosenquote bei 3,6 Prozent. Im dritten Quartal 2011 stieg die Arbeitslosigkeit auf 5.6 Prozent, was bedeutet, dass 2,7 Mio.Menschen offiziell als arbeitslos gemeldet sind. Hinzu kommen etwa 5,2 Mio. Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen und 2,8 Mio. Teilzeit-Beschäftigte.

Vor den Präsidentschaftswahlen steht das Land also sozial und ökonomisch vor großen Herausforderungen.Wie sehr Arbeitsplätze und gerechter Zugang zu Bildungsmöglichkeiten benötigt werden, zeigt auch die Lage vieler Jugendlicher, die weder arbeiten noch studieren, die so genannten „Ninis” („ni estudian, ni trabajan”). Von ihnen gibt es mehr als 7 Mio. im Land, obwohl sie sich in vielen Fällen um eine Arbeit oder einen Studienplatz bemühen. Die Gründe für ihren fehlenden Erfolg sind unterschiedlich. Dazu zählen der eingeschränkte Zugang zu Bildung aufgrund von ökonomischer und sozialer Herkunft, Wohnort oder Geschlecht. Ohne eine zielgerichtete Sozial- und Bildungspolitik wird es schwierig, dies aus der Welt zu räumen.

Große Herausforderungen

Das geringe Wirtschaftswachstum ist nur eines von vielen Problemen, die die Entwicklung Mexikos behindern. Ein anderes ist die Bestechlichkeit. Mexiko liegt auf dem Korruptionsindex 2011 von Transparency International mit dem Wert 3,0 (Maximum: 10, Minimum 0) auf Platz 100. Zum Vergleich: Deutschland liegt mit 8,0 auf Platz 14, Griechenland mit 3,4 Punkten auf Platz 80. Die Korruption in Mexiko betrifft alle Bereiche, sie findet sich im ganzen Land und auf allen politischen und sozialen Ebenen.

Sie bietet auch einen idealen Nährboden für die organisierte Kriminalität im Land, die enorme Sicherheitsprobleme schafft. Die Strategie von Präsident Calderón, die angespannte Sicherheitslage im Land durch den massiven Einsatz von Militär und Bundespolizei zu verbessern, ist nicht aufgegangen. Seit seinem Amtsantritt im Dezember 2006 wurden etwa 50.000 Menschen im sogenannten Drogenkrieg ermordet.

Während eine zunehmende Zahl von Wirtschaftsexpert/innen davon ausgeht, dass die Sicherheitslage die ökonomische Entwicklung negativ beeinflusst (regelmäßige monatliche Umfrage der Zentralbank Banco de Mexico), wird dies von der Regierung bestritten. Auch die Deutsch-Mexikanische Handelskammer CAMEXA bestätigt diese Tendenz nicht.

Eine Möglichkeit, den wirtschaftlichen Wandel Mexikos hin zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und beständiger wirtschaftlicher Stärke anzutreiben, könnte die Orientierung auf Investitionen in ökologisch nachhaltige Technologien sein. Mexiko gilt auf diesem Gebiet international als Vorreiter. Im Rahmen der internationalen Klimaverhandlungen steht die Einrichtung eines Grünen Klimafonds ganz oben auf der mexikanischen Agenda; und das Thema „grünes Wachstum“ wurde von der mexikanischen Präsidentschaft auf die Agenda des G-20 Gipfels im Juni dieses Jahres gesetzt.

Eine erfolgreiche Fortführung dieser Anstrengungen auf nationaler Ebene wäre ein potenzieller Motor für die Schaffung neuer Beschäftigungssektoren. Momentan ist die Wirtschaft noch stark von den Ausschüttungen des staatlichen Erdölunternehmens Pemex(Petróleos Mexicanos) abhängig, während gleichzeitig der größte Teil des Haushaltsdefizits 2012, nämlich zwei Prozent, durch Investitionen in Pemex verursacht wird. Eine deutliche Ausrichtung auf den Sektor der „grünen” Energiegewinnung scheitert bis auf weiteres an starken Widerständen; zu groß ist die Korruption gerade auch bei dem Staatsunternehmen - und zu viele verdienen mit.

Die Regierung hat diese Herausforderungen erkannt. Zu seinen Zielen für 2012 schreibt das Finanzministerium: „Öffentliche Sicherheit, Wirtschaftswachstum und soziale Entwicklung werden im Zentrum der Ausgaben für das Haushaltsjahr 2012 stehen“.


Lisa Wagener war vom 15. September bis zum 31. Dezember 2011 Praktikantin im Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Mexiko.