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Es ist Zeit, dass wir uns kennen lernen

Maria Ketzmerick

Schweigen oder Reden? Feiern oder Politik? Die Menschen in Serbien und in Bosnien-Herzegowina gehen auf verschiedene Weise mit den Kriegswunden um. Eine persönliche Betrachtung zum Balkan-Konflikt.

„Es klingt wie ein Projekt, das Schulkinder aus Ländern zusammen bringen soll, die vor kurzem im Krieg waren“, schreibt Andrej Klemencic, Reporter der Zeitung BelgradeInsight. Er bezeichnet die diesjährige Biennale in Bosnien-Herzegowina mit dem Titel „Es ist Zeit, dass wir uns kennen lernen“ als frustrierend. Eine Aussage, die verwundert. Befindet sich Serbien nach den Kriegen immer noch in Stagnation und Isolation zu den Nachbarländern? Gibt es Austausch, Projekte und Begegnungen, damit sich die Menschen gegenseitig kennenlernen?

Als ich durch Belgrad laufe, sind die Spuren der vergangenen Jahre noch deutlich zu sehen. Wie ein Mahnmal steht die Ruine der NATO-Bombardements mitten im Stadtzentrum, sogar direkt im Regierungsviertel. Fragt man die Belgrader, wie sie ihre neuen Nachbarländer Bosnien und Herzegowina sehen, erhält man unterschiedliche Antworten. Es zeigt sich eine Müdigkeit am Thema. Anderes, wie etwa wirtschaftlicher Aufschwung und EU-Beitritt, scheinen da wichtiger zu sein.

Vor der Reise habe ich mich meinem serbischen Freund Petar unterhalten. Er überraschte mich damit, dass er von Sarajewo als schönster Stadt auf dem Balkan schwärmte. Er und seine Freunde sind bereits kurz nach dem Krieg häufig in die Stadt gefahren, zum Feiern und zum Erholen. Eine andere serbische Bekannte fährt hingegen äußerst ungern dorthin. Sie meint, dass sie sich immer unwohl fühle und sich dort einfach nicht entspannen könne. Zuviel wäre passiert in den vergangenen Jahren. Petar sagt, dass ihm die Geschichte wichtig sei und er sich schon seit Jugendtagen mit der Vergangenheit auseinandersetze. Geboren in Tuzla, einer bosnischen Region,  und aus einer serbischen Familie stammend, musste er aufgrund des aufkommenden Konfliktes nach Belgrad ziehen. Schon mit 14 Jahren und damit nur ein Jahr später, fuhr er zum ersten Mal nach Srebrenica, an jenen Ort, der in die Geschichte mit der Kennzeichnung das „Massaker von Srebrenica“ eingegangen ist: 1995 wurden tausende männliche Bosniaken von der Armee der Republik Srpska unter Führung des Serbenführers Ratko Mladić ermordet.

Später studierte Petar Geschichte, heute arbeitet er in der serbischen Filmbranche.

Eine bosnische Reisebegleiterin hingegen erzählte andere Geschichten, zum Beispiel über Projekte für Schulkinder. In der Regel, sagt sie, wurde diese Projekte, die in den Sommerferien nach den Kriegen stattfinden, von europäischen Partnern finanziert. Die Schulkinder sollten zusammen Urlaub machen und sich dabei kennen lernen. Aber eigentlich sei es nur darum gegangen, dass „die Urlaube finanziert wurden. An den möglichen Konflikten zwischen den verschiedenen Gruppen hat sich dadurch nichts geändert.“

Wer sich in Bosnien und Herzegowina bewegt, stellt fest, dass viele Aktivistinnen und Aktivisten die Aufarbeitung der Kriegsgeschichte als Problem ansehen. Häufig wird Serbien in diesem Zusammenhang mit der deutschen Aufarbeitungsgeschichte verglichen – wobei Deutschland durchaus eine positive Rolle einnimmt. Dies wundert mich, denn selbst in Deutschland dauerte diese Entwicklung bis spät hinein in die 1960er Jahre.

Wolfgang Klotz, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Belgrad, glaubt, dass Serbien die Erfahrung der totalen Niederlage fehle. So könne keine psychologische Bereitschaft zur Akzeptanz entwickelt werden. Solange es keine Zeugenaussagen, eigene Prozesses im Land oder eine „Verlinkung“ zum Schulunterricht gebe, sei eine Aufarbeitung schwierig.

Weiterreise nach Sarajewo. In der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas sieht das Leben komplett anders dar. Während Serbien mit der Aufnahme in die EU ringt, hat Bosnien große innenpolitische Probleme. Zum Beispiel stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Staates beinahe täglich. Da ist zum Beispiel die Teilrepublik Srspka. Die fordert die Abspaltung von Herzegowina und begründet das vor allem mit althergebrachten ethnischen Argumenten. Mirela Gruenther-Decevic, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajewo, sieht als größtes Problem die derzeitige Verfassung. Die sei, sagt sie, aus der Friedensvereinbarung entstanden und trage sei nicht konfliktentschärfend genug. Bosnien gehe es wirtschaftlich immer schlechter. Grund: die politische Stagnation, die die Wirtschaftskrise umso härter trifft.

In einem Abend in einer Bar in Sarajewo sitzt Jadranko. Er könne ein paar Worte Deutsch, erzählt er. Mit fünf Jahren sei er mit seinen Eltern nach Deutschland geflohen, zehn Jahre habe er in Düsseldorf gelebt, sei dort zur Schule gegangen und habe eine deutsche Kindheit erlebt. Nach dem Kriegsende und mit den Friedensverträgen aber sei seine Familie zügig ausgewiesen worden.  Seit er Deutschland verlassen hat, habe er nie wieder Deutsch gesprochen.

„Es ist Zeit, dass wir uns kennen lernen“, heißt die Biennale in Bosnien-Herzegowina. Muss es nicht vielmehr heißen: Es ist Zeit, dass wir uns wieder begegnen lernen?