Die europäische Krise kann nur demokratisch gelöst werden

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7. Mai 2012
Ulrich K. Preuß
Europa befindet sich in einer Krise – darüber herrscht Einigkeit nicht nur unter den politischen Eliten und ihren berufsmäßigen Beobachterinnen und Beobachtern. Mittlerweile hat dieses Krisenbewusstsein breite Schichten erreicht. Die Erscheinungsformen sind deutlich: Massenproteste gegen Regierungen, deren Politik der Haushaltskonsolidierung tiefgreifende Einschnitte im Alltag vor allem der Mittel- und Unterschichten mit sich bringen; Kapitalflucht in vermeintlich sichere Häfen wie die Schweiz sowie Flucht in Immobilien in den vermögenden Schichten; die Wiederbelebung nationalistischer Stereotypen bei der Suche nach Sündenböcken dafür, dass die reicheren EU-Staaten den ärmeren zu Hilfe eilen müssen; nicht zuletzt ein sich ausbreitendes Gefühl der Europamüdigkeit, ja der Zurückweisung der Idee einer europäischen politischen Gemeinschaft überhaupt.

Das sind, wie gesagt, Krisenphänomene – worin aber besteht diese Krise eigentlich? Ist die Krise eine Schulden-, eine Banken-, eine Eurokrise? Wie immer die Antwort lautet, allen Beteiligten ist klar, dass eine Lösung der Krise den Abbau von volkswirtschaftlichen Ungleichgewichten erfordert. Unter dem Druck der aktuellen Haushaltsnöte einiger Euroländer haben die Organe der EU und die Regierungen der Mitgliedsstaaten ihre aktuelle Krisenbewältigung recht einseitig auf die Ziele der Haushaltskontrolle der Mitgliedsstaaten und die Koordinierung ihrer Wirtschafts- und Haushaltspolitiken eingegrenzt. Aber ganz gleich, welche Politikerinnen und Politiker der Krisenbewältigung verabredet werden mögen, unter ihrer technisch-ökonomischen Oberfläche werden sich bedeutsame politische Entscheidungen verbergen. Bereits die bisherigen Bedingungen für die Errichtung eines Euro-Rettungsschirmes haben in den einzelnen Mitgliedsstaaten zu teilweise heftig polarisierenden gesellschaftlichen Konflikten geführt, und dies wird sich fortsetzen. Diese Konflikte werden sich unweigerlich transnationalisieren und die Gefahr heraufbeschwören, dass sich die ökonomische Krise in scharfe, nationalistisch gefärbte Verteilungskonflikte zwischen den europäischen Völkern verwandelt.

Europas demokratische Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts

Die Verschiedenheit der in der EU präsenten historischen Erfahrungen, politischen Kulturen, und nicht zuletzt auch volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen kann nur in politischen Diskursen produktiv gemacht werden. ‚Politisch‘ kann nur meinen: demokratisch. Und Demokratie in Europa erfordert die Existenz von Institutionen, Verfahren und eines moralischen Klimas, durch die die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsstaaten ermächtigt und ermutigt werden, für Antworten auf die Frage zu streiten, wie sie als Fremde in einem multinationalen politischen Gemeinwesen, in dem sie zugleich auch Bürger sind, ihr politisches Leben organisieren wollen. Dies ist die demokratische Frage Europas am Beginn des 21. Jahrhunderts.

Die Voraussetzungen dafür müssen nicht erst erfunden werden; in Ansätzen existieren sie bereits. Die wichtigste unter ihnen lautet: Die Angehörigen der verschiedenen Völker der EU sind Bürgerinnen und Bürger, und dies in einem zweifachen Sinne. Als Staatsangehörige der EU-Mitgliedsstaaten sind sie Bürgerinnen und Bürger demokratischer Nationen. Zugleich sind sie Unionsbürger, nicht mehr nur Marktakteure, und bilden einen supranationalen Bürgerverband. Fast zwei Drittel aller Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsstaaten teilen laut der letzten Eurobarometerumfrage das Gefühl, Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union zu sein. Bei den unteren sozialen Schichten sinkt dieser Anteil allerdings auf unter 50 Prozent. Sie empfinden die offenen Grenzen der EU als Bedrohung ihres durch nationale Sicherungssysteme geschützten Sozialstatus. Diese Sorge sollte unser Bewusstsein dafür schärfen, dass in Europa bürgerschaftliche und soziale Solidarität untrennbar miteinander verknüpft sind.

Diese zweifache Verankerung des Bürgerstatus trifft nun auf den Tatbestand, dass in der jetzigen Krise die Etablierung einer EU-Wirtschaftsregierung und der verschärften Haushaltskontrolle der Mitgliedsstaaten sowohl innerhalb der Mitgliedsstaaten wie auch grenzüberschreitend zwischen den verschiedenen politischen Strömungen streitig verhandelt werden. Der über lange Zeit die europäische Integration tragende, von den politischen und administrativen Eliten formulierte "permissive Konsens" der europäischen Völker trägt nicht länger. Er hat sich in eine nicht minder diffuse, wachsende Unzufriedenheit gewandelt. Die vom Eurobarometer regelmäßig gemessenen Werte haben sich in den letzten beiden Jahren nicht dramatisch, aber durchaus deutlich verändert: In diesem Zeitraum ist der Anteil der EU-Bürgerinnen und Bürger, die Vertrauen in die EU haben, von 48 auf 41 Prozent gesunken. In nicht weniger als zehn Ländern, darunter die Schwergewichte Frankreich, Großbritannien und Deutschland, überwiegt die Zahl der Misstrauenden die der Vertrauenden. Kein Wunder, dass die Beteiligung an den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament (2009) EU-weit 43 Prozent betrug – so gering wie in keiner der nationalen Wahlen in den Mitgliedsstaaten.

Katastrophischen Zusammenbruch vermeiden

Hier tritt nun deutlich der tragende Sinn des Begriffs der Krise zutage: Krise bedeutet die Zuspitzung einer Situation unzulänglicher Ordnung hin zu einem Punkt, in dem eine Entscheidung getroffen werden muss, die zu einem Umbruch führt. Es ist ein Augenblick der Ungewissheit über Scheitern oder Gelingen. Verfassungen können in eine solche Situation geraten, in der die alte Ordnung grundlegend transformiert werden muss, um einen katastrophischen Zusammenbruch zu vermeiden. Der US-amerikanische Verfassungsrechtler Bruce Ackerman hat hierfür den Begriff des constitutional moment geprägt: Ein solches konstitutionelles Momentum liegt vor, wenn eine neue Situation dazu drängt, ein neues Thema auf die politische Agenda zu setzen. Die Politisierung der europäischen Demokratie ist dieses Thema. Es wird nicht nur durch die Unzufriedenheit über die drohenden oder bereits abverlangten materiellen Opfer für die Bewältigung der Krise befeuert, sondern zunehmend auch durch Tendenzen zur Etablierung nebenvertraglicher, sprich: außerverfassungsrechtlicher Strukturen unter der Führung eines deutsch-französischen Direktoriums.

Die EU kann sich heute weniger denn je nur über ihren ökonomischen Mehrwert legitimieren. Sie muss ihre ökonomische Krise politisieren und ihre Bürgerinnen und Bürger ermutigen, an deren Lösung aktiv mitzuwirken. Sie muss den Mut haben, den Wettstreit um politische Alternativen – Kennzeichen einer lebendigen Demokratie – zu europäisieren. Dies erfordert politische Räume und Institutionen, in denen über europäische Themen gestritten werden kann, Konflikte ausgetragen werden und in denen Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungen teilhaben können. Auch hier muss das Rad nicht neu erfunden werden. Vorschläge für institutionelle Innovationen liegen vor, sie reichen von der Erweiterung der Mitbestimmungs- und Kontrollrechte des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente über die Stärkung direkter Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger, die Herausbildung europäischer Parteien bis zur Einrichtung transnationaler Listen für die Europawahlen und zur Stärkung einer gesamteuropäischen politischen Öffentlichkeit.

Eine Politik, die die demokratische Dimension einer Krisenbewältigung ignoriert, ist nicht nur nicht auf der Höhe des europäischen politischen Projektes, sondern auch zum Scheitern verurteilt. Gewiss, mehr europäische Demokratie wird nicht geradewegs die gegenwärtige Krise der EU lösen. Aber ohne mehr Demokratie wird sie gänzlich unlösbar bleiben.

 

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Ulrich K. Preuß ist em. Professor der Hertie School of Governance sowie der Freien Universität Berlin und gemeinsam mit Claudio Franzius Ko-Autor der von der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebenen Studie zur Zukunft der europäischen Demokratie.

 

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