Wer den Schaden hat, braucht sich um den Spott nicht zu sorgen. Unter Privatleuten ist das unangenehm, unter Nationen gefährlich. Welcher Teufel hat die Macher des SPIEGEL geritten, als sie der Ausgabe vom 14. Mai „Akropolis adieu! Warum Griechenland jetzt den Euro verlassen muss“ als Titel gegeben haben? In der Hauptüberschrift wird ein neckischer Abschiedsgruß im Jargon von Abstiegsspielen in der Bundesliga geboten. Dann folgt ein Befehl. Auf seine Art ist der Titel nicht weniger provokativ als Karikaturen in Griechenland, die Frau Merkel als Nazi auftreten lassen Dass die Häme des Spiegel die Griechen nicht freuen kann, ist offensichtlich. Schlimmer ist, dass der Spiegel sich von ihm Auflage versprechen kann. Er schürt bei seinem deutschen Publikum nationalistische Ressentiments. Wenn sich entsprechende Ressentiments in der griechischen Öffentlichkeit zeigen, rufen sie mit Grund hierzulande Befremden hervor. Aus dem Euro, gedacht als Hebel der Integration, droht ein Keil der Spaltung in Europa zu werden.
Dazu passt eine Meldung, der Welt online Aufmerksamkeit verschafft:
„Ein in Griechenland lebender Niederländer ist Opfer eines fremdenfeindlich motivierten Angriffs in Zusammenhang mit dem EU-Sparprogramm geworden. Zwei Griechen brachen dem 78-jährigen Mann in der kleinen Touristenstadt Monemvasia mit Faustschlägen Nase und Unterkiefer, wie die griechische Ehefrau des Opfers in der griechischen Presse berichtete. Die mutmaßlichen Täter im Alter von 45 und 48 Jahren, die nach Polizeiangaben behaupten, betrunken gewesen zu sein, hätten den Niederländer zunächst gefragt, ob er Deutscher sei, berichtete dessen Frau weiter. Er habe geantwortet: "Nein, Holländer". Darauf hätten sie auf ihn eingeschlagen, und einer der beiden habe geantwortet: "Holländer oder Deutscher ist egal. Was macht ihr mit unserem Land?"
Zwei gegen einen und jeder der beiden mehr als dreißig Jahre jünger als ihr Opfer. Eine herkulische Heldentat ist das nicht gerade. Aber wohl Tatsache.
Unschuldige Griechen
Der griechische Philosoph Nikos Dimou hatte 1975 einen kleinen Band von kritischen Aphorismen veröffentlicht, den der Münchner Kunstmann Verlag dieses Jahr in deutscher Übersetzung herausgebracht hat: „Über das Unglück, ein Grieche zu sein“ Unglück entsteht nach Dimou aus Distanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Wer in der glorreichen Vergangenheit sein Wunschbild gefunden hat, kann mit der Gegenwart schlecht zurechtkommen. „Jedes Volk, das von den alten Griechen abzustammen meint, wäre automatisch unglücklich.“ So sieht der Philosoph in der „Beziehung zu den alten Griechen, die eine Quelle unseres Nationalen Minderwertigkeitskomplexes“. Die andere sei der Vergleich im Raum, der Vergleich mit „Europa“. Der Spiegeltitel muss vor diesem Hintergrund doppelt verletzen und soll es ja auch: Die glorreiche Vergangenheit ist nichts als ein einstürzendes Traumreich und die erträumte Nähe zu Europa zerbricht mit dem Euro.
Ein Aphorismus von Nikos Dimou geht so: „Noch ein Mythos: der von der ‚ausländischen Intervention‘. Niemals haben die Neugriechen es vermocht, Verantwortung zu übernehmen. Immer war jemand anderer schuld: die ‚englischen Strippenzieher‘, der Intelligence Service, die NATO, der CIA…“ Die Aphorismen sind in der Zeit der Obristendiktatur niedergeschrieben worden. Heute dienen die EU, vor allem aber die Deutschen oder die Holländer, die aus dem Norden halt, Barbaren eben, als Ausrede für die Misere.
In das fast vierzig Jahre alte Büchlein von Nikos Dimou sollte man hineinschauen, wenn griechische Politiker Rätsel aufgeben. Wann immer ein Grieche von „Europa“ spreche, meint Dimou, schließe er automatisch Griechenland aus. „Wenn ein Ausländer von Europa spricht, ist es undenkbar für uns, dass er Griechenland nicht mit einschließt.“ Da frage sich dann schon: „Wie europäisch sind wir also? Vieles trennt uns von Europa, möglicherweise mehr als uns verbindet. Von den großen kulturellen Strömungen, die die zeitgenössische europäische Zivilisation geschaffen haben, hat uns nur ein schwaches Echo erreicht (wir sprechen jetzt nicht von ‚aufgeklärten‘ Minderheiten). Weder das Mittelalter der Scholastik noch die Renaissance, weder die Reformation noch die Aufklärung und auch nicht die industrielle Revolution. Möglicherweise stehen wir kulturell dem orthodoxen Russland der Slawophilen näher als dem Europa des Rationalismus. Und der Einfluss des Orients?“ Auffallend war jedenfalls die Sympathie für das Serbien eines Milosevic. Die Zornausbrüche gegen das kleine Mazedonien, weil es sich so zu nennen wagte, bleiben auch in Erinnerung.
Laut Umfragen sind 75 Prozent der griechischen Bevölkerung gegen die mit IWF, EU und EZB ausgehandelten Vereinbarungen. Beharrlich als „Spardiktat“ tituliert werden die darin enthaltenen strukturellen Reformvorhaben unterschlagen. Tatsächlich wurden sie auch nicht ernsthaft in Angriff genommen. Was die Regierung unterschrieb, wurde schon von ihren Ministern sabotiert.
Der geballten Ablehnung des „Spardiktats“ entspricht der ebenso entschiedene und nicht weniger zahlreich geäußerte Wunsch, Mitglied der Eurozone zu bleiben. In dem Kapitel Die griechische Wirklichkeit (Stichproben 1975) heißt es „Andere Völker haben Institutionen. Wir haben Luftspiegelungen.“
Restauration statt Revolution
„Die Griechen sehen ihren eigenen Staat als wäre er immer noch eine türkische Provinz. Recht haben sie“, meinte Dimou 1975. Die Übernahme des Euro durch Griechenland hätte eine Revolution erfordert, stattdessen nähren die Schwierigkeiten, die sie an den Tag gebracht haben, die Sehnsucht nach Restauration. Michael Martens, Korrespondent der FAZ, bezieht sich auf Takis Michas, einen griechischen Publizisten, der schon lange vor der Krise unermüdlich auf die Missstände in seinem Land hingewiesen und jüngst in einem Artikel im Wall Street Journal festgestellt habe, „dass die radikalen griechischen Parteien nicht nur die Austeritätspolitik, sondern grundsätzlich jedwede Modernisierung des Staates ablehnten. Er macht das am Beispiel von Tsipras und seinem Linksbündnis deutlich. Syriza widersetze sich seit Jahren jeglicher Reform der Wirtschaft, die den Wettbewerb zu fördern drohe, so Michas. Alles soll so bleiben wie immer.“ (13.5.) Für „Null und Nichtig“ möchte Tsipras die Vereinbarungen mit der „Troika“ aus EU, EZB und IWF erklären. Noch immer ist eine Revolution fällig in Griechenland, doch erscheint sie als äußeres Diktat. Tsipras verspricht, mit ihm als Wahlsieger könne es weitergehen wie bisher. Der Trick besteht darin, die Kredite, die das Land vor den Finanzmärkten retten, darzustellen als Schulden, die einem aufgezwungen wurden. Streiche man sie, ginge es einem glänzend.
Wahrscheinlich hat Griechenland kaum Chancen im Eurorahmen wieder auf die Beine zu kommen. Dem weitgehend nüchtern argumentierenden Artikel im Inneren des Spiegels lässt sich wenig entgegen halten. Aber kann sich Griechenland vom Euro lösen, ohne einen Totalschaden anzurichten? Und falls ein Austritt Griechenlands ohne Totalschaden gelingen sollte, wird sich erst noch zeigen müssen, ob mit diesem Sonderfall ein Anfangsfehler bei der Etablierung der Eurozone korrigiert werden konnte oder die Währungsunion selbst zum Dauerproblem der europäischen Integration geworden ist.
Ist die Währungsunion selbst das Problem?
In der Zeit als die Währungsunion zur allgemeinen Zufriedenheit zu funktionieren schien, wuchsen unter der Hand die gegenwärtigen Probleme heran. Als Fitmacher für den Weltmarkt gedacht, hat die Währungsunion nur dort so gewirkt, wo - wie in der Bundesrepublik - die vergleichsweise hohen Realzinsen zu Einschnitten in den Sozialstaat und am Arbeitsmarkt sowie zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zwangen. Anderswo hatten die auf einmal ungewohnt niedrigen Realzinsen entgegengesetzte Effekte.
Fritz W. Scharpf, Verfasser des Klassikers „Regieren in Europa: Effektiv und demokratisch?“ (1999) beschreibt den „perfekten Teufelskreis“, den die Währungsunion seiner Ansicht nach erzeugte: „Die einheitliche Geldpolitik verstärkte auf der einen Seite die Defizite und auf der anderen Seite die Überflüsse in der Leistungsbilanz. Diesen entsprachen komplementäre und scheinbar risikolose Kapitaltransfers aus den Überschuss- in die Defizitländer. Das Ergebnis waren kontinuierlich zunehmende Diskrepanzen der realen effektiven Wechselkurse, die ihrerseits die Unterschiede in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Euroländer kontinuierlich verstärkten. Aber ohne die Warnsignale der Zahlungsbilanzen blieben die dadurch erzeugten Probleme für die nationale wie für die europäische Politik latent.“
Ob diese politische Blindheit und die Illusionen über die selbstregulierenden Mechanismen der Märkte hätten sein müssen, kann man bezweifeln. Als die Probleme dann sichtbar wurden in der Schuldenkrise, wandelte sich die Währungsunion aus einem liberalen Traumland in eine in Permanenz tagende bürokratische und weitgehend intransparente Veranstaltung der Exekutiven. Dass die inneren Probleme der Währungsunion erst mit der von den USA ausgehenden globalen Finanzkrise sichtbar wurden, erschwerte ihre Analyse und machte es schwieriger nüchtern nach Remeduren zu suchen.
Fritz W. Scharpf reagiert auf die Schwierigkeiten der Währungsunion mit der Losung „Rettet Europa vor dem Euro!“ Das ist der Titel seines sehr lesenswerten Artikels in der „Berliner Republik“. „Im Kern“ erwiese die gegenwärtige Krise die Währungsunion als „einen Fall ökonomischer Überintegration“, hatte er in einem früheren Artikel behauptet. Als Methode der Rettung schwebt ihm „eine gemeinsame und geordnete Rückkehr zu dem Regime des früheren, aber in wichtigen Punkten zu verbessernden Europäischen Währungssystems – also zu einem EWS II“ vor. Es sei nicht aussichtslos, „nach Alternativen zum ‚alternativlosen‘, aber katastrophalen Programm der Euro-Rettung um jeden Preis zu suchen.“ Da Scharpf die Währungsunion unter den gegebenen Bedingungen insgesamt und grundsätzlich für eine Sackgasse hält, lehnt er auch einen Austritt Griechenlands aus der Währungsunion ab, obwohl er das Land als „Sonderfall“ in der Währungsunion bezeichnet. Das ist es wirklich.
Sollte die gegenwärtige Krise der Währungsunion aber „im Kern“ eine politische Krise der Staaten sein, die sie bilden, könnte die Lösung anders aussehen. Auch wenn die Währungsunion bei einem einflussreichen Teil ihrer Befürworter auf Seiten von Bankern und Unternehmern als neoliberales Projekt verstanden wurde, ist sie ein durch und durch politisches Projekt. Um mit der angestrebten verstärkten ökonomischen Integration zu recht zu kommen, setzte sie ganz auf gutes Regieren und ehrliche Kooperation der beteiligten Staaten. Deshalb zielten die Stabilitätskriterien auf die Politik und nicht unmittelbar auf die Ökonomie. Sie implizierten eine Koordinierung der Politiken, zu der es ernsthaft nicht kam. Insofern ist es zwar nicht alternativlos, aber konsequent, wenn „alle gegenwärtig in Angriff genommenen Reformen“ auf die „Wiederherstellung und Verstärkung“ der ursprünglichen Regeln der Währungsunion zielen, wie Scharpf beklagt. Als bürokratische Veranstaltung wird dieses Ziel kaum zu erreichen sein. Die demokratische Öffentlichkeit und die Gesellschaften der beteiligten Staaten müssen für dieses Ziel gemeinsamen guten Regierens gewonnen werden.
Bundesbankpräsident Weidmann hat dazu in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ klug bemerkt:
„Es geht um die grundsätzliche Frage: Wollen wir zurück zu den Maastrichter Verträgen mit Eigenverantwortung der Staaten, aber verbindlichen Stabilitätskriterien? Oder wagen wir den großen Schritt zur politischen Union mit einer gemeinsamen Fiskalpolitik. (…) Der Zwischenweg, den wir gerade durch eine Ausweitung der Gemeinschaftshaftung ohne weitgehenden Souveränitätsverzicht einschlagen, ist riskant. Wenn wir die Risiken einmal vergemeinschaftet haben, gibt kein Staat mehr Souveränität ab.“ (12.5.)
Die Staaten müssen sich untereinander zur Räson gebracht haben, bevor eine weitere Vergemeinschaftung funktionieren kann. Durch die französische Präsidentschaftswahl kommt eine wichtige Nuance neu ins gemeinsame Spiel. Gutes Regieren in den Mitgliedstaaten bleibt aber die Voraussetzung, damit sich die notwendigen Mehrheiten für eine stärkere Vergemeinschaftung herausbilden können.
Wenn diese Analyse nicht ganz falsch ist, kann Griechenland zwar wahrscheinlich nicht mitziehen, muss die Währungsunion selbst aber keine Sackgasse sein.
Joscha Schmierer
Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.