Mexiko vor den Präsidentschaftswahlen 2012: Die Macht der Nostalgie und die Nostalgie der Macht

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Massenproteste in Mexiko-Stadt. 46.000 Menschen bekunden ihre Kritik an der ehemaligen Staatspartei PRI, die vor der derzeitigen PAN-Regierung sieben Jahrzehnte lang die Geschicke des Landes bestimmte. Die zurzeit von Mittel- und Oberschicht getragenen Proteste fordern in der Hauptsache Medienfreiheit.
Foto: Mercedes Chavarría Sánchez. Dieses Foto steht unter einer Creative-Commons-Lizenz: CC BY 2.0

30. Mai 2012
Eva Bräth

Einen Monat vor den mexikanischen Präsidentschaftswahlen ist die heiße Phase des Wahlkampfes angelaufen. Angesichts der großen Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierungspolitik des amtierenden Präsidenten Felipe Calderón von der Partido Acción Nacional (PAN) und dem hohen Vorsprung, den die ehemalige Staatspartei Partido Revolucionario Institucional (PRI) monatelang in Meinungsumfragen für sich beanspruchen konnte, deutete bis vor kurzem alles auf einen deutlichen Wahlsieg des PRI-Kandidaten Enrique Peña Nieto hin. Jedoch haben die jüngsten Proteste gegen den Favoriten den bislang recht farblosen und inhaltlich wenig interessanten Kampagnen der vier Konkurrent/innen (neben Peña Nieto stellen sich noch Josefina Vázquez Mota für die PAN, Andrés Manuel López Obrador für die PRD und Gabriel Quadri für die Nueva Alianza zur Wahl) eine neue Dynamik gegeben.

Allein in der Hauptstadt Mexiko-Stadt bekundeten vor kurzem ca. 46.000 Menschen in einer Protestkundgebung ihre Ablehnung gegenüber der Partei, die auf der Grundlage eines ausgeklügelten klientelistischen und autoritären Systems sieben Jahrzehnte lang die politischen Geschicke des Landes bestimmt hatte. In 17 weiteren Städten der Republik fanden ähnliche Veranstaltungen statt, die aus sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter heraus initiiert, und vor allem von Jungwähler/innen besucht wurden. Die Teilnehmer/innen kritisierten die autoritären und korrupten Züge des PRI-Systems und appellierten an das politische Gedächtnis der mexikanischen Gesellschaft, das sich durch die medienwirksame Neuinszenierung des sogenannten „Dinosauriers“ mit Hilfe der Privatsender Televisa und TV Azteca nicht beirren lassen solle. Bislang schien es der PRI vor dem Hintergrund des eskalierenden Drogenkrieges zu gelingen, sich für weite Teile der Bevölkerung als Hoffnungsträger für eine Eindämmung der Gewalt zu stilisieren. Die aktuellen Proteste zeigen jedoch, dass sich die Partei nicht allein auf eine nostalgische Rückbesinnung stützen kann.

Die post-hegemoniale PRI bleibt zentraler Akteur des Parteiensystems

Die aktuelle Mobilisierung „Yo soy 132“ geht von Studierenden aus öffentlichen und privaten Universitäten aus. Sie entzündete sich an der Zusammenarbeit des telegenen Peña Nieto mit dem marktführenden Privatsender Televisa, die eine erhebliche Beschränkung der Informationsfreiheit bedeutet. Das dürfte für die PRI eine recht überraschende Entwicklung darstellen. Nachdem die Partei während der aktuellen Präsidentschaftsperiode zahlreiche Wahlsiege verzeichnen konnte und mit dem ehemaligen Gouverneur des Estado de México einen populären Kandidaten ins Rennen schickte, dominierte der Eindruck eines Wiedererstarkens der Partei, die nach ihren Wahlverlusten gegen die PAN 2000 und 2006 bereits totgesagt worden war. Verschiedene Politikwissenschaftler/innen hatten damals einen inneren Auflösungsprozess der Partei in die zahlreichen Machtgruppen und Fraktionen prognostiziert, die sich mehrere Dekaden einer extremen Disziplin untergeordnet hatten. Mit dem Wegfall garantierter Wahlsiege und dem damit verbundenen Zugang zu Ämtern und Staatsressourcen bröckelte das Fundament der klientelistischen Loyalitätsbeziehungen, in welchen Dienstleistungen und Güter von oben gegen politische Zustimmung und Unterstützung von unten getauscht wurden.

Ein gutes Jahrzehnt nach dieser Analyse, in welcher der Partei ihre Rolle als gesellschaftliche Führungskraft und zentrales politisches Gewicht weitgehend abgesprochen wurde, stellt sich die Lage jedoch anders dar.

Zum einen erfährt der PRI-Kandidat in den Umfragen von GEA-ISA[1], Parametria[2] und Mitofsky[3] trotz persönlicher Patzer und des Verdachts der illegalen Wahlkampffinanzierung immer noch größere politische Zustimmung als seine Hauptkonkurrent/innen Josefina Vázquez Mota, die in den Regierungen von Fox und Calderón Ministerposten bekleidete, sowie der ehemalige Bürgermeister der Hauptstadt Andrés Manuel López Obrador, der dieses Mal für das Linksbündnis aus PRD, Partido de Trabajo (PT), Movimiento Ciudadano (MC) und Movimiento para la regeneración nacional (MORENA) antritt. Die Ereignisse um die Wahl 2006, in denen der PRD-Kandidat monatelang die Umfragewerte für sich bestimmen konnte, letztlich aber die Wahl knapp verlor, rufen jedoch in Erinnerung, dass bis zum Wahltermin noch viel geschehen kann und die Prognosen nur einen begrenzten Aussagewert besitzen.

Darüber hinaus ist die Präsidentschaftswahl, ungeachtet ihrer herausragenden Bedeutung im politischen System, nur ein Gradmesser für die Stärke von Akteuren in einer föderalen Bundesrepublik wie der mexikanischen. Aus diesem Grunde erscheint es aussagekräftiger, einen Blick auf die Wahlergebnisse zu werfen, die während der 6-jährigen Amtszeit von Felipe Calderón in Gemeinden, Bundesstaaten sowie bei den Wahlen zum Kongress erzielt wurden. Die Besetzung der öffentlichen politischen Ämter zeigt an, dass die ehemalige Staatspartei ein, wenn nicht sogar der zentrale Akteur im mexikanischen Parteiensystem bleibt. Aus den Zwischenwahlen 2009, in denen das Abgeordnetenhaus, sowie sechs Gouverneursposten und 16 Bezirksbürgermeisterposten neu bestimmt wurden, ging die PRI nicht nur als klare Siegerin hervor, sondern erzielte sogar ihr bestes Wahlergebnis seit 1994.[4] Im Abgeordnetenhaus verfügt sie seitdem mit dem Koalitionspartner Partido Verde Ecologista de México (PVEM) über die absolute Mehrheit der Mandate, und hat wieder erhebliches Gewicht in der Politikgestaltung auf Bundesebene erlangt.

Auch fünf der Gouverneursposten in den Staaten Querétaro, San Luis Potosí, Campeche, Colima und Nuevo León gingen in der Zwischenwahl an die PRI. Seit 2009 hat sie damit auf bundesstaatlicher Ebene der politischen Konkurrenz lediglich fünfmal den Vortritt lassen müssen; darunter befinden sich mit Sonora, Sinaloa, Oaxaca und Puebla allerdings vier ehemalige PRI-Hochburgen, in denen zuvor noch nie ein Regierungswechsel stattgefunden hatte. Aktuell regiert die PRI allein oder in Koalition mit der PVEM oder der PANAL in 20 der 32 Staaten. Es bleibt abzuwarten, wie die politische Landkarte nach den Wahlen am 1. Juli aussieht, wenn außer dem Präsidentenamt auch die Regierungen in sechs Staaten (Chiapas, Guanajuato, Jalisco, Morelos, Tabasco, Yucatán) und der Bundeshauptstadt bestellt werden.

Positiv war die Bilanz der Partei auch auf lokaler Ebene. 2009 gelang es der PRI, die besonders die Wählerschaft in ländlichen und armen Wahlbezirken zur Stimmenabgabe bewegt, zuvor an die Opposition verlorene, urbane Bezirke wieder für sich zu gewinnen (Guadalajara, Cuernavaca, Naucalpan). Im bevölkerungsreichsten Staat Estado de México ließ sie PAN und PRD mit besonders großem Abstand hinter sich. Trotz punktueller Verluste dominiert die umstrittene Partei das politische Geschehen auf lokaler Ebene. Aktuell hat sie in 921 der insgesamt 2457 Regierungsbezirke die Mehrheit und bestimmt damit die Politikgestaltung für ungefähr 55 % der mexikanischen Bevölkerung.

Die Partei versucht, eine erneute Ablösung der Regierungspartei PAN als Zeichen für die Stabilisierung des demokratischen Wechselspiels zu präsentieren. Dies wird besonders in der Kampagne von Beatriz Paredes um das Amt der Hauptstadtbürgermeisterin deutlich, die unter dem Motto „Zeit für den politischen Wandel“ geführt wird. Demgegenüber stellen die aktuellen Proteste den Aufwärtstrend der PRI in ein anderes Licht. Sie artikulieren die Befürchtung vor einer Rückkehr zu autoritären Strukturen und der Unterhöhlung des mühsam erlangten demokratischen Institutionensystems.

Dezentralisierung statt Demokratisierung

Tatsächlich besitzt die These, dass ein erneuter Wahlsieg der PRI per se mit einem weiteren Schritt in der demokratischen Konsolidierung des Landes gleichgesetzt werden kann, wenig Überzeugungskraft. Das würde voraussetzen, dass die Partei die Oppositionszeit für eine Hinwendung zur Demokratie genutzt hat, und dadurch das Vertrauen der Bürger_innen zurückgewinnt. Für diese Interpretation lassen sich jedoch nur wenige Anhaltspunkte identifizieren. Zweifelsohne verhindert der institutionelle Wandel in Gestalt der Einführung der Wahlbehörde Instituto Federal Electoral (IFE), der Etablierung des Parteienpluralismus sowie des Abbaus der korporativen Strukturen, dass die PRI erneut eine hegemoniale Kontrolle des politischen Wettbewerbs ausüben und die formalen Regeln des politischen Systems in der gleichen Weise durch informelle Verhandlungskanäle und Machtbeziehungen aushöhlen kann wie in der Vergangenheit. Da die politischen Ämter inzwischen von Parteimitgliedern unterschiedlicher Couleur besetzt sind, könnte auch Peña Nieto nicht mehr die Funktion des über sämtliche Politiken und Personalfragen entscheidenden „gran legislador“ und „gran elector“ einnehmen. Immer wieder zu vernehmende Beschwichtigungen, die alte PRI könne ja gar nicht zurückkommen, übersehen jedoch leicht, dass dies den Errungenschaften der jungen Wahldemokratie zu verdanken ist und nicht unbedingt einer Veränderung der Partei.

Im Abgeordnetenhaus waren die Entscheidungen der PRI-Fraktion bislang vor allem parteipolitischen Machtstrategien und weniger sachlich orientierten Überzeugungen geschuldet; dabei wurde die Verhinderung wichtiger Strukturreformen wie z.B. Veränderungen des Arbeitsrechtes und des Sicherheitsgesetzes sowie einer Finanzreform in Kauf genommen. Die PAN-Regierung konnte aufgrund der Mehrheitsverhältnisse Gesetzesvorlagen nur gegen Zugeständnisse an die PRI verabschieden, die diese Machtposition ausgiebig zu nutzen wusste. So knüpfte die PRI 2009/2010 ihre Zustimmung zu einer geplanten Steuererhöhung an die Bedingung, dass die PAN bei den Gouverneurswahlen im Estado de México kein Wahlbündnis mit der PRD einging. Die PRI nutzt die politischen Kräfteverhältnisse demnach nicht dazu, die Funktion einer demokratischen Kontrolle der Regierungspolitik auszuüben, sondern unterminiert vielmehr die formalen Strukturen des Regierungssystems mit dem Ziel, erneut möglichst viel Einfluss über staatliche Ressourcen zu erlangen. Es spricht nicht für die Qualität der Parteiendemokratie Mexikos, dass sich die seit langer Zeit als einzig unabhängige geltende Oppositionspartei PAN auf diese Verhandlungen einlässt.

Auf den Wandel des politischen Umfeldes reagierte die PRI zwar mit Reformen ihrer Organisationsstruktur. Analysen der Veränderungen im Bereich der Kandidat/innenauswahl deuten jedoch darauf hin, dass diese weniger als Demokratisierung sondern vielmehr als Dezentralisierung des Parteiinnenlebens zu werten sind. Außer in der Bestimmung des Parteivorsitzenden sowie in den 1999 eingeführten Vorwahlen zur Ernennung des Präsidentschaftskandidaten, in der alle Parteimitglieder stimmberechtigt sind, hat die Parteibasis immer noch sehr wenig Mitspracherecht. Tritt dann noch wie im Vorfeld der Wahl 2012 nur ein Kandidat an, ist selbst die Qualität dieser Mitbestimmung zu hinterfragen, da vermutet werden kann, dass die ausschlaggebenden Entscheidungen in der gewohnten, intransparenten Weise zwischen den unterschiedlichen Machtgruppen in der Partei verlaufen sind. Die Kandidat/innen für Gouverneursposten sowie für die beiden Kammern des Kongresses werden zwischen dem obersten Parteigremium „Comité Ejecutivo Nacional“ (CEN), den Gouverneuren und teilweise den Vertretern der gewerkschaftlichen Massenorganisationen ausgehandelt, wobei in den vergangenen Jahren ein zunehmender Einfluss der ressourcenstarken Gouverneure konstatiert werden konnte.[5] Kritiker/innen bemängeln, dass die Gouverneure dabei ihre persönlichen Favorit/innen durchsetzen, um weiterhin Einfluss ausüben zu können. So entsteht eine neuartige Form der Klientelbeziehung, in welcher nicht mehr der Präsident, sondern die Gouverneure an der Spitze stehen und die Bundespartei geschwächt wird. Es fand also lediglich eine Restrukturierung autoritärer Strukturen statt, die mit der Schwächung der Massengewerkschaften und Stärkung der Landesregierungen eventuell eine stärkere Übergehung der Parteimitglieder auf unteren Ebenen bedeutet als zu Zeiten der Parteihegemonie. Die Änderung der formalen Regeln und Organisationsstrukturen wirkt deshalb nicht demokratisierend, weil die klientelistischen Logiken der Vergangenheit fortbestehen und die Reichweite von Reformen in einen engen Handlungsrahmen pressen.

Spitzenkandidaten repräsentieren Kontinuität klientelistischer Politikmuster

Obgleich es dem Präsidentschaftskandidaten Peña Nieto mithilfe von kostspieligen Medienkampagnen gelang, das Image eines dynamischen und volksnahen Politikers aufzubauen, spricht sein Rückgriff auf traditionelle Seilschaften und Methoden des Klientelismus gegen die Erwartung eines Bruchs mit der alten PRI. Das ehemalige Regierungsoberhaupt des Estado de México (2005-2011) gehört nicht nur der starken Gruppe der (Ex-)Gouverneure an, sondern ist darüber hinaus Mitglied der einflussreichen „Grupo Atlacomulco“, die sich aus freundschaftlich oder verwandtschaftlich verbundenen Machtträgern des gleichnamigen Ortes zusammensetzt, und deren Existenz von Politikern der PRI regelmäßig dementiert wird. Aus diesem Zirkel stammten bereits Inhaber einflussreicher Posten auf bundesstaatlicher und nationaler Ebene, die oft in einem Verwandtschaftsverhältnis mit Peña Nieto stehen; etwa sein Vorgänger und Onkel Arturo Montiel, der die politische Karriere des aktuellen Präsidentschaftskandidaten maßgeblich förderte, indem er 2005 dessen Kandidatur für den Gouverneursposten durchsetzte. Peña Nieto verfügte zu dieser Zeit über wenig Wahlkampferfahrung und war in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt.

Seine Regierungszeit zeichnete sich durch enorme Ausgaben für die medienwirksame Inszenierung der eigenen Person und von Großbauprojekten aus, die oft von Privatunternehmen kofinanziert wurden. Nach Angaben der Zeitschrift Proceso gab die Regierung des Bundesstaates im Auftrag des „Telekandidaten“ jährlich 742 Mio. Pesos für Medienkampagnen aus, wobei 691 Mio. Pesos dazu dienten, in als Information und Interviews getarnter Werbung ein positives Image des Regierungschefs aufzubauen. Die geschickt vermarkteten Bauprojekte seiner Regierung trugen jedoch nicht zur Verbesserung der großen Probleme Armut und Unsicherheit im Estado de México bei. Daten des Nationalrates für die Evaluierung von Entwicklungs- und Sozialpolitiken (CONEVAL) belegen nicht nur, dass im Zeitraum 2008-2010 ein Anstieg der Personen in Armut um 33 000 zu verzeichnen ist, sondern bescheinigen dem Bundesstaat darüber hinaus die traurige Spitzenposition in Bezug auf die Erhöhung der Anzahl von Menschen, die in Situationen extremer Armut leben (Anstieg um 214.000).[6] Insgesamt erleiden nach Angaben des Direktors von CONEVAL González Licona 43,7% der rund 15 Mio. Einwohner/innen Armut. Im gleichen Zeitraum ist zudem eine Verschärfung der sozialen Ungleichheit im Estado de México zu verzeichnen, der nun nach Baja California das Regierungsgebiet mit dem stärksten Auseinanderklaffen von arm und reich darstellt. Die 10% der einkommensstärksten Haushalte konzentrieren mittlerweile 42% des Gesamteinkommens auf sich, während die Einnahmen der 10% der ärmsten Haushalte von 2% auf 1,6% fielen.

In die Kritik der Zivilgesellschaft geriet Peña Nieto hauptsächlich aufgrund der Vernachlässigung der geschlechtsspezifischen Gewalt in seinem Regierungsgebiet, in welchem in den vergangenen 10 Jahren landesweit die meisten Feminizide verübt wurden, sowie der Menschenrechtsverletzungen bei einem gewaltsamen Polizeieinsatz in Atenco 2006. Wie nahe er jener autoritären Geringschätzung politischer Minderheiten und der Einschränkung der Vertretung ihrer Interessen steht, die die PRI der hegemonialen Epoche verkörpert, verdeutlichte er nicht zuletzt mit der Forderung, eine „Regierungsklausel“ einzuführen, die einer Partei, die 40% der Stimmen auf sich vereint, automatisch die absolute Mehrheit im Parlament sichert.

Auch die Kandidatin für das Bürgermeisteramt der Hauptstadt, Beatriz Paredes Rangel, steht der alten Garde der PRI nahe. Während Peña Nieto vor allem mit den Technokraten der Partei um den Ex-Präsidenten Carlos Salinas in Verbindung gebracht wird, reichen die persönlichen Kontakte von Paredes weiter in die Geschichte der PRI zurück. Seit die Tochter eines Governeurs von Tlaxcala mit 21 Jahren den damaligen Präsidenten Luis Echerverría auf sich aufmerksam machte, hat sie fast alle Wahlämter bekleidet, die im politischen System Mexikos existieren: Sie war Abgeordnete in ihrem Heimatstaat Tlaxcala, Abgeordnete und Fraktionsführerin der PRI im Bundesparlament, Senatorin sowie als zweite Frau in der Geschichte des Landes Gouverneurin. Im Laufe ihrer Parteikarriere, die in einer Gewerkschaft des Agrarsektors begann, und danach Stationen im Landwirtschaftsministerium und Innenministerium unter Salinas und Zedillo, den Posten der Botschafterin in Kuba, der Partei-Generalsekretärin sowie den Parteivorsitz beinhaltete, stellte die Politikerin insbesondere die Anpassungsfähigkeit an sämtliche Veränderungen der Partei unter Beweis. Die Repräsentantin des klassischen nationalrevolutionären Projektes der PRI zeigte den technokratischen und neoliberalen Präsidenten ihre Loyalität und blieb auf diese Weise auch in den Krisenzeiten der Partei stets eine Kandidatin für attraktive Ämter. Die politische Erfahrung in der PRI hat sie gelehrt, dass die Nähe zum jeweils aktuellen parteiinternen Machtzirkel entscheidend ist.

Paredes politische Sozialisierung in Zeiten der Parteihegemonie äußert sich nicht nur darin, dass sie der Parteieinheit einen hohen Stellenwert einräumt, wie sie im Anschluss an ihre nach Wahlbetrug riechende Niederlage in der Auseinandersetzung um den Parteivorsitz 2002 bewies. Darüber hinaus gilt sie als Meisterin der informellen Aushandlungen zum Ziel des Machterwerbs. Als Abgeordnete 2000-2003 sowie in der aktuellen Legislaturperiode erlangte sie durch Absprachen mit der PAN Finanztransfers an die PRI-regierten Bundesstaaten sowie die erwähnte Verhinderung von Allianzen der Oppositionsparteien. Demgegenüber zeichnete sie sich in keinem der genannten Ämter durch die Setzung neuer Impulse aus. Die Regierungszeit der bei Amtsantritt 33-jährigen in Tlaxcala (1987-1992) stand in der Tradition der vorangegangenen PRI-Regierungen und wird vorwiegend mit Landwirtschaftsprogrammen verbunden, während sich die Situation der Menschenrechte in dem von Armut, Ungleichheit und Menschenhandel geprägten Staat nicht verbesserte.

Dieser Politikstil der alten PRI-Garde beinhaltet die Toleranz gegenüber Wahlbetrug und die Unterordnung inhaltlicher Kriterien unter Strategien des Machtgewinns. Deswegen steht Paredes regelmäßig in der Kritik, eine inhaltsleere, opportunistische Politik zu betreiben. Ihre eloquenten Diskurse, die je nach Adressatenkreis fortschrittsorientiert sind oder an die Tradition appellieren, feministische Ideen repräsentieren oder die Kategorie Geschlecht völlig ausblenden, lassen eine Positionierung der Politikerin nicht erkennen. Ihre Strategie, die unterschiedlichsten Ideen für sich zu vereinnahmen, brachte ihr insbesondere im Zusammenhang mit der feministischen Debatte heftige Kritik ein. Während ihrer Präsidentschaft der Partei stimmten PRI-Abgeordnete in 17 Staaten der Republik gegen eine Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung, ohne dass Paredes eine klare Position äußerte. Dagegensprach sie sich hinter dem Rücken der Öffentlichkeit mit Abtreibungsgegnern wie Bischöfen und Gouverneuren ab.

Macht der Nostalgie oder Nostalgie der Macht?

Angesichts der Persistenz der autoritären und klientelistischen Ausrichtung der PRI scheint eine plausiblere Erklärung für das politische Meinungsklima darin zu liegen, dass es der Partei erfolgreich gelingt, an die Macht der Nostalgie zu appellieren. Ein Faktor für das Gelingen dieser Strategie liegt in der Enttäuschung der Bevölkerung, welche die 12 Jahre der PAN-Regierung mit uneingelösten Versprechungen und der Eskalation von Gewalt und Unsicherheit im Zusammenhang mit dem so genannten Drogenkrieg assoziiert. Angesichts der prekären Sicherheitslage scheint ein hoher Bevölkerungsanteil „das kleinere Übel PRI“ als Option in Erwägung zu ziehen und dabei auf die Verhandlungsgeschicke und Kooptationsstrategien aus der hegemonialen Epoche zu setzen, in welcher Stillhalteabkommen zwischen Regierung und Drogenkartellen ein relativ hohes Maß an Stabilität bewirkten. Der PRI-Staat erreichte die vergleichsweise hohe Sicherheit demnach nicht durch die effektive Prävention oder Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, sondern durch sein Arrangement mit den Drogenkartellen. Jedoch zeigt die Forschung zum Verhältnis Staat - Organisiertes Verbrechen, dass sich dabei die Handlungsmacht im Laufe der Jahrzehnte immer mehr vom Staat auf die Drogenkartelle verlagerte, die bereits ab den 1970er Jahren über ein hohes Maß an Autonomie gegenüber Polizei und Sicherheitsbehörden verfügten bzw. diese erfolgreich infiltrierten. Die Entlarvung von Sicherheitskräften oder Beschäftigten des Justizwesens als Komplizen der Kartelle, wie zu Jahresbeginn in  Veracruz, Coahuila und Nuevo León und nun in dem prominenten Fall des Ex-Gouverneurs von Tamaulipas Tomás Yarrington, ist Resultat dieses Systems, das die Korruption von Amtsträgern förderte.

Die Grundlagen des Diskurses, der sich auf eine von Ordnung, Sicherheit und Effektivität charakterisierte Vergangenheit bezieht, sind demnach sehr fragwürdig. Der Sozialwissenschaftler Frederico Vázquez Calero warnt vor einer Flucht in die Vergangenheit, die nicht durch eine besonders hohe staatliche Kapazität, sondern vielmehr durch einen gigantischen Verwaltungsapparat und kostspielige Vermittlerstrukturen gekennzeichnet war.[7] Der mexikanische Staat zeichnete sich nie durch die Durchsetzung rechtsstaatlicher Grundlagen aus, sondern erlangte soziale Integration aufgrund des Austausches von Gefälligkeiten und der partikularen Verteilung von Vorteilen und Gütern. Der Wunsch einer Rückkehr zum alten System der sozialen Befriedung ist insofern nicht nur mit erheblichen Legitimitätsproblemen verbunden. Darüber hinaus fehlen der ehemaligen Staatspartei auch schlicht die Ressourcen, so dass der Versuch einer Reetablierung mit der Gefahr andauernder sozialer Konflikte und einer Destabilisierung der demokratischen Institutionen einhergeht. Im Hinblick auf die Sicherheitslage ist daran zu erinnern, dass die PRI seit der demokratischen Öffnung des politischen Wettbewerbs nicht mehr über die Kontrollmechanismen und Vermittlungsstrukturen verfügt, die früher eine politische Unterordnung der Drogenkartelle und eine Verhinderung von Gewalteskalationen sicherstellten.

Aber die Partei hat Erfahrung in der diskursiven Erzeugung von Legitimität; war es ihr doch über Jahrzehnte gelungen, sich als Repräsentantin der Errungenschaften und Versprechungen der mexikanischen Revolution darzustellen. Sie schaffte es dabei, die „dunkle Seite“ der klientelistischen Austauschbeziehungen in Gestalt von Unterdrückung und Manipulation auszuklammern und stattdessen auf ihren sozialen Charakter zu verweisen. In einem Land, in dem 52 Mio.[8] der insgesamt 112 Mio. Einwohner/innen in Armut leben und das mit Honduras als einziges Land Lateinamerikas und der Karibik einen signifikanten Anstieg der Armut seit 2010 verzeichnet,[9] kann dieser Mechanismus als weitere Erklärung für den Wiederaufstieg der PRI gelten. Aus anderen Kontexten ist bekannt, dass in Situationen der sozialen Unsicherheit eine höhere Bereitschaft besteht, auf persönliche Beziehungen zurückzugreifen und dabei formale, als schwach wahrgenommene Institutionen zu umgehen.

Die Zustimmung zur PRI kann zumindest teilweise dadurch erklärt werden, dass sich die Unzufriedenheit mit den zwei Legislaturperioden der PAN mit der Hoffnung auf einen besseren Zugang zu Ressourcen mithilfe der altbekannten Aushandlungsprozesse verbindet. Jedoch zeigt die gegenwärtige Mobilisierung gegen Peña Nieto, dass das Vertrauen in die Macht der Nostalgie in einer jungen Gesellschaft wie der mexikanischen nicht ausreichend ist. Bei der Wahl im Juli werden 24 Mio. Jungwähler/innen unter 29 Jahren, davon 14 Mio. erstmals, bei einer Präsidentschaftswahl stimmberechtigt sein. Ihre Erinnerung an die Regierungszeit der PRI dürfte schwach ausgeprägt sein, während sie die einseitige Medienberichterstattung als reale und konkrete Einschränkung ihrer Informationsfreiheit wahrnehmen. Zudem werden die neuen Medien dazu eingesetzt, an die Korruption und Freiheitsbeschränkungen der Vergangenheit zu erinnern. Die Gruppe „Di no al voto del PRI para este 2012“ im sozialen Netzwerk Facebook, welche an die Begrenzung der politischen Meinungsfreiheit und Beteiligungsmöglichkeiten mit dem Höhepunkt der gewaltsamen Niederschlagung der Studenten/innen-Proteste 1968 durch das PRI-Regimes erinnert, hat bereits ca. 144.000 Anhänger/innen.

Die Etablierung einer PRI-Kultur?

Die imaginäre Rückbesinnung auf die Vergangenheit stellt jedoch nur einen Faktor dar, der die Wahlerfolge der PRI erklären kann. In noch stärkerem Maße basieren diese wohl auf der Durchdringung der mexikanischen Gesellschaft durch die Partei. Während der jahrzehntelangen Hegemonialherrschaft schuf sie Verbindungen und Loyalitätsbeziehungen zu Akteuren aus sämtlichen sozialen Milieus der Gesellschaft und erlangte dadurch eine Präsenz, die die Oppositionsparteien nur schwer erzielen können. Das äußert sich nicht zuletzt darin, dass sowohl PAN als auch PRD auf lokaler Ebene häufig über keine Kandidat/innen und Mitgliederbasis verfügen, und in der Folge auf ehemalige PRI-Politiker/innen und deren dichte soziale Netzwerke und Ressourcen zurückgreifen.

Die Tatsache, dass Politik in Mexiko jahrzehntelang als Angelegenheit einer einzigen Partei verstanden und weniger mit den zeitlich begrenzten Mandaten verbunden wurde, führt dazu, dass die anderen Akteure des Parteiensystems sich immer noch in einem Handlungsrahmen bewegen, der durch die ehemalige Staatspartei bestimmt wird. Dieser Rahmen ist nicht zuletzt durch bestimmte politisch-kulturelle Handlungsmuster geprägt, die sich während der PRI-Herrschaft herausbildeten, aber scheinbar die Flexibilität besitzen, sich an den pluralen Wettbewerb der Wahldemokratie anzupassen. So zeigt sich im Verhältnis von Bürger/innen und Parteien der Fortbestand der alten klientelistischen Aushandlungsbeziehungen, wobei die Konkurrenz mehrerer Parteien zu einer Schwächung der Verbindlichkeit solcher Beziehungen und tendenziell zu einer höheren Autonomie der Mittlerpersonen führt, die nun als politische Unternehmer/innen mit allen Parteien verhandeln. Sicherlich ist es zu einfach, allen Parteipolitiker/innen gleichermaßen Klientelismus zu unterstellen; Studien zu diesem Themenfeld zeichnen ein recht heterogenes Bild der politischen Realität. Jedoch lässt sich belegen, dass Wahlgeschenke und Stimmenkauf immer noch übliche Praktiken darstellen, die insbesondere von der PRI, aber auch von PAN, PRD und anderen Parteien angewendet werden.

Zudem lassen sich die drei großen Parteien, wenn auch in unterschiedlichem Grade, auf eine Unterminierung der formalen Institutionen durch informelle Absprachen ein. Eine Studie des Politikwissenschaftlers Todd Eisenstadt über Nachverhandlungen von Wahlergebnissen kommt zu dem Resultat, dass es sich dabei um keine Ausnahmepraxis handelt. Im Zeitraum 1989-2000 wurden immerhin 15% der Resultate von lokalen Wahlen zwischen PRI und PAN in informellen Verhandlungen verändert, d.h. die PRI zeigte sich damit einverstanden, z.B. Bürgermeisterposten an PAN-Politiker/innen zu vergeben, wenn diese dann im Gegenzug Maßnahmen verabschieden und umsetzen halfen, die von der PRI ausgingen. Während der Hegemonie der PRI mag diese Praxis eine der wenigen Möglichkeiten gewesen sein, als Oppositionspartei Repräsentanz in den politischen Institutionen zu erhalten. Dass jedoch auch Jahre nach Einführung der unabhängigen Wahlbehörde daran festgehalten wird, verdeutlicht die starke Verankerung der „Kultur des Aushandelns“ gegenüber der schwachen Verinnerlichung der demokratischen Regelungen. Ein weiteres prominentes Beispiel für die Schwächung des Institutionensystems durch die Parteien ist der Umgang mit der Wahlbehörde IFE: Entgegen der Idee, in einem parteiübergreifenden Konsens möglichst unabhängige Mitglieder der Einrichtung zu bestimmen, nutzen die Abgeordneten ihre Nominierungskompetenz zur Durchsetzung von Parteimitgliedern und/oder –sympathisant/innen. Die Institution, die einst als besondere Stärke der mexikanischen Wahldemokratie galt, wurde in jüngster Vergangenheit zunehmend zum Zankapfel der Parteien, wie sich in der über einjährigen Verzögerung der Besetzung von drei Räten des IFE 2010/2011 zeigte.

Nicht alle politischen und gesellschaftlichen Akteure sind den politisch-kulturellen Strukturen des Klientelismus und der informellen Aushandlungen verhaftet. Die mexikanische Gesellschaft lässt sich vielmehr durch die Gleichzeitigkeit der Praktiken des autoritär-korporativen Systems und innovativer, demokratischer Politikformen charakterisieren. Die große Herausforderung der Demokratisierung besteht darin, die autoritären Enklaven aufzubrechen und Vertrauen in die Regeln des demokratischen Wettbewerbs zu schaffen. Die vergangenen Jahre belegen, dass es dazu über die Herausbildung eines demokratischen institutionellen Designs hinaus eine Stärkung der Akteure bedarf, die eine demokratische politische Kultur praktizieren und das vorhandene Veränderungspotential vor Augen führen. Die politischen Parteien haben bislang leider kein ernsthaftes Interesse gezeigt, Teil dieser Demokratisierungskoalition zu bilden. Sie folgen weiterhin einer Handlungslogik, die sich in der Epoche der Parteihegemonie herausgebildet hat und auf der klientelistischen Kooptation von Staat und Gesellschaft basiert. Der Gründungsgedanke der PRI, der nicht in der Herstellung von Mechanismen der politischen Interessenartikulation und –repräsentation, sondern vielmehr in der Schaffung eines  Instruments der friedlichen Machtübertragung und –rotation zwischen Eliten bestand, scheint insofern bis heute Auswirkungen zu besitzen. Die aktuelle Protestbewegung wird derzeit weitgehend von der urbanen Mittel- und Oberschicht getragen und besitzt eine auf die Medienfreiheit fokussierte Agenda. Es bleibt abzuwarten, ob sie die Logik des politischen Wettbewerbs zukünftig grundlegender in Frage stellen und Alternativen präsentieren wird.


[1] Vgl. die neusten Umfrageergebnisse von GEA-ISA unter http://www.ricartur.com/contenido/GIESMX1204.pdf

[4] Maihold, Günther (2009): Die Rückkehr des Dinosauriers. Der Wahlerfolg der PRI vergrößert Mexikos Reformunfähigkeit, http://www.giga-hamburg.de/dl/download.php?d=/content/publikationen/pdf/gf_lateinamerika_0908.pdf

[5] Vgl. Langston, Joy (2008): The dinasour that did not die: Mexico´s PRI, http://democraciaenamericalatina.org/articulos/seminarios/sem_partidos/langston.pdf

[6] Consejo Nacional de Evaluación de Política de Desarrollo (2011); Pobreza en México y en las entidades federativas 2008-2010,     http://web.coneval.gob.mx/Informes/Interactivo/Medicion_pobreza_2010.pdf

[7] Vázquez Calero, Frederico (2011): La trampa de la nostalgia. La seducción del orden mafioso y el estado imaginario en México, http://library.fes.de/pdf-files/nuso/nuso-235.pdf, ab S. 144

[8]Vgl. OECD (2012), Perspectivas OCDE: México Reformas para el Cambio, http://www.oecd.org/dataoecd/35/8/49363879.pdf

[9]Vgl. CEPAL (2012), Panorama Social de América Latina 2011. Capítulo 1, http://www.eclac.cl/publicaciones/xml/1/45171/PSE2011-Cap-I-Pobreza.pdf

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Eva Bräth hat Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und der UNAM Mexiko-Stadt studiert. Von Februar bis Juni 2011 Praktikantin am Regionalbüro Mexiko/Mittelamerika/Karibik (Sitz Mexiko Stadt).