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Die fünfte Gewalt: Über die Neuausrichtung der medialen Gewaltenteilung

In der modernen Demokratie hat Journalismus zwei zentrale Aufgaben: Erstens soll er die Bevölkerung aufklären. Wüsste sie nicht dank einer freien Presse, was vor sich geht, wäre die Wahl, die eine Regierung legitimiert, sinnlos. Zweitens klärt Journalismus auch die Regierenden auf. Durch Wahlen informiert (oder auch diszipliniert), finden sich die Regierenden gezwungen, die öffentliche Meinung zur Kenntnis zu nehmen. Eingeholt wird diese Meinung durch Journalisten. Das demokratische Kräfteverhältnis, das Jürgen Habermas einst so eindringlich in «Strukturwandel der Öffentlichkeit» skizziert hat, besteht so jedoch nicht mehr. 

Seitdem sich an der Hand von Algorithmen eine Veröffentlichungsgesellschaft gebildet hat, hat sich das Gleichgewicht der Kräfte verschoben: Auf Internetplattformen bloggen die Bevölkerung ebenso wie die Politiker. Beide surfen, kommentieren, holen Informationen ein und veröffentlichen ohne den Umweg über die Presse. Facebook, Twitter und Wordpress sind ihnen dabei ebenso wie Suchmaschinen eine Hilfe. Das ändert die politische Kultur einer Demokratie. Welche Funktion hat Journalismus in diesem neuen medialen Raum? Haben Algorithmen zusammen mit der neuen digitalen Öffentlichkeit die klassischen Aufgaben des Journalisten übernommen? Oder haben sie ihm neue Aufgaben gegeben? Sehen wir nach. 

Politik erreicht Bürger 

Was in Deutschland noch selten der Fall ist, ist tatsächlich in anderen Demokratien mittlerweile unübersehbar: Immer öfter wenden sich Politiker ohne den Umweg über Journalisten und die Presse an ihre Bevölkerung. In Großbritannien hat es das Kabinett von Premierminister David Cameron mit dem Government Digital Service erreicht, die politische Teilhabe zu verbessern. Die Bevölkerung kam in Scharen auf die Webseite und blieb: Eine Million Besucher, die sich dort durchschnittlich bis zu vier Minuten lang informierten, wurden gezählt. Das ist eine längere Verweildauer, als mancher Nachrichtenauftritt aufweisen kann. 

Die Gestaltung und das Interaktionsdesign der Seite legten Wert auf intelligente Diskussion. Die Frage beispielsweise, welche Regulierungen aktuell mittelständischen Unternehmen im Wege stehen, stieß auf offene Ohren und tippende Hände. Oftmals ging es dabei um ganz simple Dinge wie die verwirrende Vielfalt von Verordnungen, mit denen zum Beispiel Einzelhändler konfrontiert waren; mittlerweile sind diese übersichtlich zusammengefasst. Oder die Pflicht, Rauchverbotsschilder anzubringen, die sich bei allgemeinem Rauchverbot erübrigt hatten; in der Zwischenzeit ist auch sie auf digitale Anregung hin erlassen worden. Vor allem lernten die Bürger jedoch, dass die Politiker für sie erreichbar sind. 

Bürger proben Politik 

Auch im Kleinen erprobte England die Digitalisierung: Der Nord-Londoner Bezirk Redbridge versuchte unter Leitung des Gemeindevorsitzenden Roger Hampson, seine gut 270.000 Gemeindemitglieder immer wieder auf innovative Weise in politische Entscheidungen einzubinden. Eine Art interaktives Spiel auf der Seite YouChoose machte mit der Komplexität der Dinge vertraut: Die Benutzer konnten die Posten im Haushalt der Gemeinde festlegen, durften die Kommunalsteuer dabei aber nur um fünf Prozent erhöhen. Am Schieberegler galt es, die Themen zu gewichten, welche die Gemeinde bewegten: Bildung, Wohnen und Obdachlosigkeit, Straßen und Müllbeseitigung, Sozialhilfe, Gemeindearbeit und öffentliches Engagement, Sicherheit auf den Straßen, Umweltschutz, schließlich Kultur, Sport und Freizeit. Dabei wurde man auch detailliert mit den Konsequenzen konfrontiert, welche die jeweiligen Entscheidungen haben würden. 5.000 Bürger nahmen an dem Online-Versuch zu Hause oder in öffentlichen Bibliotheken teil, wobei Mitarbeiter auch gezielt Leute ansprachen, die selbst keinen Rechner hatten oder das Internet nicht bedienen konnten. Mittlerweile wird bei jeder großen Entscheidung der Gemeinde digital «vorgehorcht» und die Beiträge der Bürger dann debattiert. 

Schon lange vorher, im März 2010, hatte das Außenministerium der USA mit der Website Opinion Space an einem ähnlichen Ansatz gearbeitet. Das Projekt, von der derzeitigen Außenministerin Hillary Clinton emphatisch als «Staatskunst des 21. Jahrhunderts» gepriesen, wurde vom Medienzentrum der Universität von Kalifornien entwickelt und sollte testen, wie Politik zugänglicher werden kann. Die erste Frage, auf welche das Ministerium eine Antwort haben wollte, wurde von 4.000 Teilnehmern diskutiert: «Wenn Sie die Außenministerin Hillary Clinton treffen, welches  Thema würden Sie ansprechen? Warum ist Ihnen dieses Thema besonders wichtig? Und welchen Vorschlag haben Sie, das Problem anzugehen?» Wissenschaftler sortierten anschließend die Masse der Beiträge – auch hier kommen die Algorithmen wieder ins Spiel – und evaluierten sie, schließlich visualisierten sie das Ergebnis. Der Klimawandel, der Einfluss Chinas, die iranische Visa-Politik, Bildungschancen für Frauen sowie die politische Unruhe um Israel beschäftigten die Menschen demnach am meisten. 

Auch in Island ging man unkonventionelle Wege: Dort suchte man Anregungen für eine neue Verfassung per Crowdsourcing. Nachdem das Land 1944 die politische Unabhängigkeit von Dänemark gewonnen hatte, übernahm man pragmatisch weite Teile des dänischen Textes und ersetzte die Bezeichnung «König» durch «Präsident». Jetzt sollte ein eigener Text entstehen. Mit 950 zufällig ausgewählten Bürgern wurde einen Tag lang über die Inhalte gesprochen, dann konnte jedermann auf der Webseite Stjórnlagaráð 2011 und bei Facebook über die Formulierungen weiterdiskutieren. Bei Beispielen wie diesen verschränken sich reale und digitale Welt. Sie zeigen: Der öffentliche Raum hat sich ausgeweitet. Die Meinung des Volkes können sich die Politiker jetzt direkt einholen, und das sollten sie auch tun. Doch die digitale Öffentlichkeit ist deshalb nicht grundsätzlich Journalismus. 

Alte und neue Öffentlichkeit 

Als die Meinungsbildung sich von den Plätzen, Straßen und Cafés in den medialen Raum auf Zeitungen, Radios und Fernseher ausgeweitet hatte, wurde dort bekanntermaßen der Journalismus für sie zuständig. Durch das Internet wurde seine Vormachtstellung wiederum herausgefordert: Jetzt war der mediale Raum nicht mehr nur für Journalisten reserviert, sondern wurde für potenziell jeden zugänglich. Manifestiert im Streit «Blogger vs. Journalisten» sorgte die neue Unschärfe zu Beginn des Internets als Massenmedium für allerhand Unruhe und stiftete Verwirrung. Erst mit der Zeit bildete sich die Erkenntnis heraus, dass beide einer unterschiedlichen medialen Logik folgen und Öffentlichkeit von nun an ein Begriff sein würde, der einen Plural braucht. Mit dem Internet und seinen neuen, einfach zugänglichen Formen der Veröffentlichung entsteht ein weiteres Konzept von Öffentlichkeit, das sich mit dem paradoxen Begriff der Privatöffentlichkeit umschreiben lässt. Sie folgt ihrer eigenen Logik. 

Die Unterschiede zwischen digitaler Privatöffentlichkeit und journalistischer Öffentlichkeit werden sichtbar, wenn man sich Hannah Arendts Bestimmung von gesellschaftlicher Öffentlichkeit zuwendet. In ihrem Werk «Vita Activa» macht sie an gesellschaftlicher Öffentlichkeit zwei Aspekte aus: Sie ist etwas, das für alle zugänglich und zugleich auch für alle relevant sein muss. Etwas ist öffentlich, schreibt sie, wenn es «erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann». Zugleich setzt sie voraus, dass es die Menschen «im Interesse an einer ihnen gemeinsamen Welt versammelt». Während journalistische Öffentlichkeit mit gesellschaftskritischem Anspruch diese beiden Kriterien erfüllen muss, sind die Beiträge der digitalen Öffentlichkeit dagegen oft rein private Äußerungen; online zwar für alle zugänglich, aber nicht für alle relevant. 

Die Logik der digitalen Öffentlichkeit 

Das bedeutet jedoch nicht, dass digitale Öffentlichkeit von minderwertiger Qualität ist. Vielmehr folgt sie schlichtweg einer anderen Logik, durch die sie den Journalismus ergänzen kann: Sie ist für ihn potenzielle Quelle. Journalismus ist grundsätzlich auf das Ereignis ausgerichtet, das entweder als Neuigkeit oder als Jahrestag auftreten kann. Alles, was nicht in diese Kategorie passt, hat es im Journalismus schwer, Aufmerksamkeit zu erheischen. Deshalb verpasst er vieles. Anders in der digitalen Logik: Was dort von Nutzern veröffentlicht wird, folgt deren jeweiligen Interessen. Im Ergebnis ist die digitale Öffentlichkeit deshalb thematisch weitaus breiter und weniger selektiv. Wie der Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger einmal bemerkte: «Noch lange nachdem die Karawane der professionellen Journalisten weitergezogen ist, spüren Twitter-Nutzer den Themen, die sie bewegen, hinterher.» Und eben deshalb kann der Journalismus von dieser zweiten, kontinuierlich vor sich hin arbeitenden Öffentlichkeit ausgezeichnet profitieren. 

Damit hat sich die Aufgabe des Journalismus, investigativ und kritisch zu recherchieren, gewandelt. Immer noch gilt es, gesellschaftliche Wahrheiten ans mediale Tageslicht zu bringen. Neben der klassischen, kleinteiligen Detektivarbeit – dem Sprechen mit Betroffenen, dem Überprüfen von Hinweisen – gilt es heute zusätzlich, die übrige digitale Informationslandschaft ernst zu nehmen. Auch hier muss man Hinweisen nachgehen und kommunizieren, man tut das allerdings im digitalen Raum: Journalismus hat begonnen, die klassische Arbeit um neuere Ansätze wie «offenen Journalismus» oder «Datenjournalismus» zu ergänzen. 

Sachdienliche Hinweise willkommen 

Der Guardian nutzte für seine investigativen Recherchen immer wieder die muntere Veröffentlichungsgesellschaft und zwang mit ihrer Hilfe auch den britischen Verteidigungsminister Liam Fox zum Rücktritt. Nach Anschuldigungen, er nutze sein Amt, um guten Freunden einen Gefallen zu tun, war seine Position ins Wanken geraten. Die Vorwürfe, Fox hätte den Rüstungslobbyisten Adam Werritty auf Staatsreisen mitgenommen und so an potenzielle Kunden herangeführt, wies er zunächst jedoch von sich. Monatelang hatte der Guardian-Journalist Rupert Neate nach Belegen gesucht und von seiner Recherche immer wieder in Artikeln, aber auch auf Twitter berichtet – ein transparentes Vorgehen, dass den offenen Journalismus kennzeichnet. Eines Tages wurde er vom italienischen Blogger «Nomfup» auf Twitter kontaktiert. Dieser hatte auf Youtube Fernsehmaterial gefunden, dass Fox auf Dienstreise beim Präsidenten Sri Lankas, Mahinda Rajapaksa, zeigte. Im Hintergrund gut erkennbar: sein enger Freund, Adam Werritty. Konfrontiert mit dem Material, trat Fox zurück. Die digitale Öffentlichkeit war dem Journalisten zur Seite gesprungen. 

Datenberge erschließen 

Ein weiteres Beispiel: 2009 erstand die Londoner Zeitung The Daily Telegraph ein Dokument, das die Spesen der Britischen Abgeordneten dokumentierte. Darunter waren auch völlig überzogene Ausgaben – etwa ein Entenhaus für einen privaten Schlossteich oder eine Bestellung von Regalen im Wert von 18.000 Euro, geordert kurz vor der Pensionierung. Das Problem: Das fast 500.000 Seiten starke Dokument war unüberschaubar. Der Guardian wiederum stellte das Dokument kurzerhand ins Internet und bat seine Leser unter dem Motto «Überprüfen Sie Ihren Abgeordneten», Datenjournalismus zu betreiben. Und die entdeckten einiges: einen Füllfederhalter zu 225 Pfund, die Radierung einer Giraffe zu 240 Pfund oder Leinenhandtücher zu 930 Pfund – Luxus auf Kosten der Bürger. 

Ein solches Vorgehen ist auch eine Antwort darauf, dass derart umfangreiche Dokumentensammlungen von einem einzigen Menschen gar nicht mehr gelesen werden können. Neben den Augen vieler durch Crowdsourcing-Methoden kommen deshalb auch computergestütze Auswertungen und damit die Algorithmen ins Spiel. Als die Plattform Wikileaks Geheimdokumente der US-Regierung erhalten hatte, fand sie sich ebenfalls einem über 400.000 Seiten dicken Materialberg gegenüber, der erst zusammen mit El Pais, dem Spiegel, der New York Times und dem Guardian verifiziert, erschlossen und veröffentlicht werden konnte.

Die umfangreichen Dokumente wurden dann technisch in einfach zugängliche Versionen – ein Großteil des Datenjournalismus basiert auf Excel-Tabellen – umgewandelt. So konnten die journalistischen Experten sie nach Schlüsselwörtern oder Situationen durchsuchen: Datenjournalismus. 

Man sieht: Im Zeitalter der Digitalisierung begegnen einem Algorithmen beinahe überall. In einer Welt, in der immer mehr Handlungen und Transaktionen digital festgehalten werden, in einer Welt, in der am Telefon, per Email oder am Laptop beinahe soviel kommuniziert wird wie offline, ist das Hantieren mit Algorithmen für Journalisten nicht nur unabdingbar, sondern äußerst hilfreich geworden. Darüber hinaus ändert und verschiebt es aber auch den Resonanzraum des Journalismus selbst. 

Die neue Gewaltenteilung 

Der öffentliche Raum hat sich ausgeweitet. Mit der Digitalisierung ist er von den Straßen und Plätzen auf die Medien übergesprungen; im medialen Raum hat sich neben der journalistischen Öffentlichkeit die digitale Öffentlichkeit gebildet. Das Verhältnis des Journalismus zu ihr ist – wie schon bei der Politik – durch eine Doppelrolle gekennzeichnet: Wieder gilt es hier, Meinungen einzuholen, denn tausende von Augen und Ohren finden mehr als zwei, vier oder zehn. Darüber hinaus wird zweitens auch die Funktion der Aufklärung wichtig: Durch die digitale Öffentlichkeit ist die politische Öffentlichkeit pluraler und lebendiger denn je. Sie ist aber auch komplexer, schwieriger zu überschauen und technisch steuerbar. Deshalb ist es wichtig, Algorithmen zu beobachten und sicherzustellen, dass sie nicht manipuliert werden, wenn Mehrheiten mit ihnen ermittelt, Umfragen durchgeführt oder Suchergebnisse geliefert werden: Technologie muss ebenso wie Politik kritisch hinterfragt und im Auge behalten werden. 

Im Ergebnis hat sich ein neues Gleichgewicht der Kräfte entwickelt: Einerseits beobachtet der Journalismus kritisch die Fundamente und das Geschehen der digitalen Öffentlichkeit, andererseits kontrolliert und bereichert diese aber auch den Journalismus. Und das ist von Vorteil: Schon seit langem beunruhigt unsere Demokratien die Tendenz, dass die politische und die mediale Öffentlichkeit zunehmend deckungsgleich werden. Hier kann dem Journalismus ein kritisches Gegengewicht nur gut tun, da Phänomene wie Absprachen und sauber abgesteckte Felder, vielleicht auch Freundschaften zwischen den Chefetagen den kritischen Blick auf die Konkurrenz gemildert haben. Eine neue Gewaltenteilung dient damit auch seiner demokratischen Funktion. Begrüßen wir also eine zweite, digitale Öffentlichkeit, betrieben durch die flinken Finger der Bürger, die bewaffnet mit Tastatur, Rechner und unterstützt von Algorithmen der ersten Öffentlichkeit zur Seite getreten ist – als fünfte Gewalt.


Dr. Mercedes Bunz ist Kulturwissenschaftlerin, Medienexpertin und lebt in London. Sie war Mitbegründerin des Magazins De:Bug, Chefredakteurin von Tagesspiegel Online sowie Medienredakteurin des Guardian. Bücher: «Die Geschichte des Internet» (2008), «Die Stille Revolution» (erscheint 2012).