Der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog

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Professor Xie Libin. Foto: privat.

16. Juli 2012
Professor Xie Libin ist seit 2011 Vizedekan der Akademie für vergleichende Rechtswissenschaft sowie Direktor des Chinesisch-Deutschen Instituts für Rechtswissenschaft an der China-Universität für Politik- und Rechtswissenschaften in Peking. Er hat an der Universität Hamburg promoviert und ist Experte für deutsches und chinesisches Verfassungsrecht.

Hbs: Der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog repräsentiert ein wichtiges Forum für den beidseitigen Vertrauensaufbau und Erfahrungsaustausch. In Deutschland gerät er jedoch immer wieder in die Kritik, er bringe keine Fortschritte. Als chinesischer Rechtswissenschaftler, was wissen Sie über den Dialog und wie bewerten Sie ihn?

Prof. Xie Libin: Beim deutsch-chinesischen Rechtsstaatsdialog handelt es sich zunächst um ein Forum für den beidseitigen Austausch. Austausch ist immer gut. Wenn es keinen Austausch gibt, kommt es nur zu Missverständnissen. Durch die direkte Begegnung werden Vorurteile abgebaut. Das ist ganz in unserem Sinn. Leider kommt es von Seiten der deutschen Medien noch immer zu viel Kritik, wenn es um den deutsch-chinesischen Austausch geht. Die deutschen Medien würden es gutheißen, wenn deutsche
Politiker die chinesischen Teilnehmer im Rahmen des Rechtsstaatsdialogs über Menschenrechte belehren. Aber ich denke, dass so eine Haltung nicht weit genug gedacht ist.

Hbs: Wie sollte der Rechtsstaatsdialog Ihrer Meinung nach dann stattfinden? In welchem Rahmen und in welchem Geist sollte dort miteinander gesprochen werden?

Prof. Xie Libin: Der Rechtsstaatsdialog ist ein Treffen von deutschen und chinesischen Politikern und Wissenschaftlern. Beide Seiten verfolgen ihre eigene Logik und Strategien. Politiker z. B. sind in ihren Handlungen sehr begrenzt. Sämtliche Argumentationen sind von vornherein festgelegt und sie können sich nur innerhalb einer vorgegebenen Rhetorik bewegen. Das ist sowohl auf deutscher Seite als auch auf chinesischer Seite der Fall. Beide Seiten tragen ihre Standpunkte vor und fahren danach wieder nach Hause.

Hbs: Was würden Sie sich persönlich von einem Austausch im Rechtsbereich mit Deutschland wünschen? Welche Ergebnisse wären durch ein solches Format erreichbar?

Prof. Xie Libin: Ich persönlich würde mir mehr Diskussionsspielräume wünschen. Als Wissenschaftler interessiere ich mich natürlich für den wissenschaftlichen Mehrwert eines solchen Austausches. Wissenschaftler sind meist offener und zeigen mehr Bereitschaft zum Lernen und zur Diskussion. Diese Bereitschaft sollte mehr in den Dialog integriert werden.

Hbs: Wäre es denkbar, im Rahmen des Rechtsstaatsdialogs, politische und wissenschaftliche Diskussionen zunächst getrennt voneinander zu führen und die Ergebnisse der beiden Gruppen später zusammen zu tragen? Was halten Sie davon?

Prof. Xie Libin: Diese Idee ist aus meiner Sicht sehr sinnvoll. Wenn man sich nur innerhalb der vorgegebenen Argumentationsstrukturen bewegt, kommt man zu keinem Ergebnis. Wenn man Wissenschaftler und Politiker voneinander trennt, könnten beide Seiten ihrer eigenen Logik folgen und zu sinnvolleren Ergebnissen gelangen.

Hbs: Wird der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog in China überhaupt wahrgenommen? Ist es bekannt, dass es ihn gibt und erfahren Sie im Vorfeld, welche Themen auf der Agenda stehen?

Prof. Xie Libin: In der chinesischen Öffentlichkeit gibt es bislang nur sehr wenig Berichterstattung über den deutsch-chinesischen Rechtsstaatsdialog. Es gibt vereinzelte Meldungen darüber, dass ein solches Format stattfindet; konkrete Inhalte werden darin aber meist nicht erwähnt. Ich persönlich weiß darüber Bescheid, weil ich Leute wie z. B. meinen Doktorvater kenne, der in den Dialog involviert ist. Über offizielle Kanäle erfährt man jedoch nur sehr wenig. Das ist sehr typisch für ein Treffen, an dem Politiker beteiligt sind. Auch in wissenschaftlichen Kreisen wird nur sehr wenig darüber geredet, da nur eine begrenzte Anzahl von Wissenschaftler beteiligt ist und keine ausführliche Berichterstattung für die Fachöffentlichkeit vorliegt.

Hbs: Sie glauben also nicht, dass durch den deutsch-chinesischen Rechtsstaatsdialog eine wirkliche Beratungsleistung erbracht wird, die letztendlich die chinesische Gesetzgebung beeinflusst?

Prof. Xie Libin: Ich habe bislang noch nicht gehört, dass der Dialog die chinesische Gesetzgebung beeinflusst. Aber um diese Frage zu beantworten, müsste man auch eher die Leute befragen, die für die Gesetzgebung zuständig sind. Ich bin kein Experte für den Rechtsstaatsdialog. Ich kann nicht beurteilen, ob der bisherige Austausch sinnvoll gewesen ist oder nicht und nehme Abstand von einer fachlichen Bewertung.

Hbs: Der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog wurde auf der deutschen Seite ursprünglich gefördert, um die Entwicklung in China zu mehr Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen. Ist das Ihrer Meinung nach noch zeitgemäß? Müsste sich die deutsche Seite vielleicht mehr darauf konzentrieren, den Austausch und das gegenseitige Verständnis füreinander zu fördern und weniger den Anspruch auf Beratungsleistung in den Vordergrund stellen?

Prof. Xie Libin: In China spricht man wörtlich vom Dialog zum Aufbau des Rechtssystems, nicht von einem Rechtsstaatsdialog. Zwischen diesen beiden Formulierungen herrscht kein Widerspruch. Für mich bedeutet Rechtsstaat in erster Linie „Schutz des Einzelnen“. Die Verbesserung des Rechtssystems in China u. a. mit Hilfe des Rechtsstaatsdialogs fördert notwendigerweise, auch – wenn nur mittelbar und über einen längeren Zeitraum – den Schutz des Einzelnen.

Hbs: Was ist dann die Motivation der chinesischen Regierung, sich an diesem Dialog zu beteiligen? Sind die Ziele der deutschen und der chinesischen Seite miteinander zu vereinbaren?

Prof. Xie Libin: Um das zu beantworten, muss man sich zunächst fragen, wie der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog zustande gekommen ist. Die deutsche Seite wird den Chinesen vorgeschlagen haben, sich zu treffen, woraufhin sich die chinesische Regierung wahrscheinlich gedacht hat, dass das nicht schaden kann. D. h. die Initiative zum Rechtsstaatsdialog ging von Deutschland aus. Die Erwartung an den Dialog, die Rechtsstaatlichkeit in China beeinflussen zu können, sollte nicht allzu groß sein. Beide Seiten sollten sich in erster Linie darauf konzentrieren, dass das Forum eine der wenigen Möglichkeiten bietet, sich bilateral austauschen und Missverständnisse aus dem Weg räumen zu können.

Hbs: Prof. Xie, wir danken Ihnen vielmals für das Gespräch.

 

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Das Interview wurde in der Online-Publikation "Bürgerrechte in China im digitalen Zeitalter" veröffentlicht

Redaktion Heinrich-Böll-Stiftung Berlin: Katrin Altmeyer, Ella Daschkey und Chan Yan Tung
Heinrich-Böll-Stiftung Peking: Zhu Yi und Christina Sadeler