Zwei junge Journalisten landen in Moskau, Hauptstadt Russlands, einem anscheinend autoritären Staat ohne Presse- und Meinungsfreiheit. Die beiden Journalisten wagen ein riskantes Experiment: Sie provozieren die Staatsmacht, und das mitten in Moskau.
Zwei große russischsprachige Schilder sind unsere selbstgemachten Waffen: „CPAXY-HET!“ (Nein zur Angst!) steht mit großen kyrillischen Buchstaben darauf, wir haben das X durch einen Totenkopf ersetzt, um dem vermuteten Desinteresse vorzubeugen.
In der Mitte Moskaus liegt der Puschkinplatz, zentraler Treffpunkt für Jung und Alt. Hier werden Festivals gefeiert und, internationale Schachturniere veranstaltet. Man kann Meilensteine der russischen Architekturgeschichte bewundern, flankiert von blinkender Pepsi-, Nokia- und Rolex-Werbung. Ein idealer Ort für ein lebensmüdes Experiment, wie es von einigen Einheimischen bezeichnet wurde, die uns Geschichten erzählten über die brutale Zerschlagung von friedlichen Protesten. An diesem Samstagmittag ist die „Puschkinskaya“ noch verschlafen: Die mongolische Eisverkäuferin zwischen den zwei U-Bahnausgängen wird ihr original sowjetisches Vanilleeis am Stiel nur langsam los und ein paar fette, urbane Tauben machen es sich auf Puschkins Kopf gemütlich. Verschlafen wirken auch die zahlreichen Polizisten, die auf dem Platz patrouillieren.
Es geht hier nicht um Politik!
„Was haben Sie denn da schon wieder für eine Aktion?“ ruft eine ältere Dame, während sie ihre getönte Brille in ihr getöntes blondes Haar steckt. Die Moskauer kennen Demos, wie wir eine veranstalten. Die Frau habe keine Angst, sagt sie. „Ich kann alles tun und sagen was ich will. Unsere Verfassung garantiert die Meinungsfreiheit unserer Bürger.“ Sie ist Professorin für Rechtswissenschaft an einer der Moskauer Universitäten. Ihren Namen und den ihrer Hochschule wird sie nicht verraten. Nach wenigen Minuten nähern sich drei Milizionäre, die uns von Anfang an beobachten. Als einer von ihnen auf die Frage, was denn hier passiere, als Antwort „eine soziologische Umfrage“ vernimmt, hält er kurz inne. „Können Sie das genauer erklären?“ „Es geht hier nicht um Politik“, feuert energisch und resolut die angstfreie Dame. Die Herren zögern, brummen etwas und ziehen wieder ab.
„Die Angst ist ein winzig kleiner Bestandteil der menschlichen Psyche und sie machen mit dieser Sondierung eine riesengroße Sache daraus. Das ist doch lächerlich. Statt diesem Blödsinn, sollten sie lieber was dagegen machen“, murrt die Dame und zeigt mit sichtlichem Ekel auf den gegenüber schlafenden Obdachlosen, während ihre Stimme immer lauter wird. „Hier ist ein sauberer und feiner Platz in Moskau, an dem ich meinen Samstagmorgen genießen will. Stattdessen muss ich mir ansehen, wie er daliegt und stinkt.“
Ein Haufen Kompromat
Die Professorin ist kaum weg, da braust Natalia, die Nachbarin: „Na los, fragen Sie mich!“ und macht schnell etwas Platz auf der Bank. Angst vor dem Tod, Schmerz, Tod ihrer Nächsten habe sie. Ach ja, und Angst vor Spinnen. Wo diese Ängste herkommen kann sie sich nicht genau erklären. Politische Angst? Fehlanzeige. Ihr etwas altmodisch gepflegtes Äußeres – die zum Zopf gebundenen braunen Haare, der gerade geschnittene Pony, das feine Hemd, akkurat in die Jeans gestopft, und die genau farbpassende Jeansjacke – , geben der 19-jährigen Jurastudentin etwas naiv-pionierhaftes. Und tatsächlich, die junge Frau hat durchaus Sympathien für das verlorene System. „Sind Sie eine Oppositionelle?“ schießt Natalia wie aus dem Nichts und klärt schnell selbst die Fronten: „Ich bin bei den Naschi.“ Sie spricht schnell und viel und schaut häufig erst kurz in den Himmel, wenn sie vor einer Antwort weit ausholt. „In unserem Land ist Demokratie unmöglich. Wie auch in Amerika. Die Verfassung soll bloß den Schein einer Wahl bieten, damit die Leute ruhig bleiben. Was wir brauchen, ist ein kluger Kopf an der Macht. Ob Putin, oder jemand anderes, egal.“
Erst im April brach eine Skandalvideowelle in die russischen Medien. Explizite Videos kursierten im Ru-net und zeigten Oppositionelle wie Jaschin und Limonov, oder andere kritische Journalisten bei angeblichen Bestechungsversuchen oder Beischlaf mit ein und demselben Call-Girl. Dass die Videos offensichtlich Teil eines größeren Diskreditierungsversuchs russischer Opposition waren, schien die Reputation der betroffenen nicht retten zu können. „Diese Oppositionellen machen nur PR für die eigene Person“, verkündet Natalia und fügt plötzlich hinzu: „Und sie kooperieren mit den westlichen Kräften, um die Zerstörung Russlands systematisch voranzutreiben.“ Ihr Redefluss ist kaum zu bändigen und so erzählt Natalia mehr von der westlichen Verschwörung und zum Selbstverständnis der Naschi. Die sei: „jung, demokratisch und antifaschistisch“. Über die Kremlnähe, die sich schon auf der Website der Gruppierung in einem Banner mit einem Porträt des Präsidenten und des Premiers und der Frage: „Bist du der Dritte?“ manifestiert, spricht Natalia ungern.
Am 15. Mai 2010, für die Aktion „Unser Sieg“, karrten die Naschi massenhaft junge Leute in Bussen aus den Regionen an. Jeder von ihnen bekam eine symbolische Patronenhülse von einem Veteranen, mit der Aufschrift: „Erinnere dich an den Krieg, beschütze das Vaterland“. Natalia selbst stand 7 Tage in der Woche im Moskauer Zentrum und sammelte Telefonnummern der Passanten, damit diese kommen. Aktives Werben sei für sie keine Verfälschung der öffentlichen Teilnahme. „Die Leute kamen noch nie für eine Idee. Sie folgen immer einem charismatischen, autoritären Anführer.“ So etwas möchte Natalia nach dem Studium auch machen: „mit Menschen arbeiten“. Auf die Frage nach dem Namen ihrer Hochschule, stöhnt sie. „Ich rede mich hier um Kopf und Kragen. Einen Haufen Kompromat (Was ist ein Kompromat?). Du hast auch wirklich kein Diktiergerät in der Tasche?“
„Wie ein Viereck auf meinem Karohemd“
Vlad wartet auf der anderen Seite des Puschkindenkmals. Er ist 75 Jahre alt, fühlt sich aber mindestens ein halbes Jahrhundert jünger, sagt er. Die engsitzenden Perlenketten aus Holz verschwinden teilweise in einer riesigen Falte an seinem Hals. „Ich habe keine Angst! Aber ich interessiere mich auch nur für mich selbst“, sagt Vlad, nachdem er eines unserer Plakate gesehen hatte. „Mir würde sowieso keiner zuhören, Russland wird von Idioten regiert.“
Vor 25 Jahren hatte er einmal versucht zu demonstrieren, den Grund hat er vergessen. Aber da wäre die Staatsmacht noch idiotischer als heute gewesen. Putin und Medwedew seien wenigstens weniger idiotisch und würden die Chance auf individuelles Glück für jeden Bürger Russlands sichern. Als er nach 1945 seine ganze Familie im Krieg verlor, kam er als kleiner Junge in ein Waisenhaus in der Nähe von Moskau. „Ich bin dort in der Masse untergegangen, wie ein Viereck auf meinem Karohemd“, sagt er und zupft mit seiner linken Hand an seinem Kragen. Heute hätte er wenigstens die Freiheit, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und seine Rente mit Gesang und Gesangsunterricht zu verbessern. Vlad gibt zu, dass es ihm viel besser als die meisten Russen geht. Immerhin lebt ein Drittel unter der Armutsgrenze, diese Menschen haben 5083 Rubel (113 Euro) im Monat. Er könne sich noch ab und zu leckeres Essen leisten und muss sich nicht um seine zwei Söhne und seine vier Enkel kümmern. „Ich bin einfach zu beschäftigt, um mir auch noch um die Gesellschaft und die Politik Sorgen zu machen. Die hat mich damals im Stich gelassen, jetzt lasse ich sie im Stich und ich bin nicht alleine!“. Dann sagt er: „Wir Russen sind zwar nicht dumm, aber die meisten von uns sind nicht gebildet, da spielt der Mythos der Demokratie und all der andere Scheiß keine Rolle“.
Unser politisches Leben ist ein Phantom
Eine viertel Stunde entfernt vom Puschkinplatz befindet sich das Menschenrechtszentrum Memorial, am Zwetnoy Boulevard.
Im Keller von Memorial stehen Kisten und Stapel mit von Büchern, Papieren und Broschüren. Mittendrin steht der Menschenrechtler Aleksey Tscherkasov. Sein Jeanshemd spannt ein wenig über dem Bauch, die kurzen Haare sind verschwitzt und verstrubbelt, und seine roten, wässrigen Augen lassen Schlafmangel erahnen. Dank seiner Arbeit hat Aleksey unzählige Erfahrungen mit Demonstrationen und deren abrupten und gewaltsamen Auflösungen. Für ihn sind die Gründe für die politische Apathie der Russen klar: „Unsere Gesellschaft ist ein Phantom. Phantom-Parlament, Phantom-Rechtstaat, Phantom-Meinungsfreiheit.“ Die Farce sei zur Norm geworden.
Durch den krassen Bruch, dem plötzlichen Zugang zu Geld und Konsum, hätten die Menschen jeglichen Sinn für Solidarität verloren, sagt er. Noch im Jahr 1988 gingen die Menschen auf die Straße, um gegen militärische Einsätze in zu protestieren. Heute, solange den Leuten die persönliche Beziehung zu bestimmten Themen fehle, sähen sie keinen Grund, sich für gesellschaftliche Probleme einzusetzen. Hinzu komme die individuelle Angst, gespeist aus Erfahrungen anderer – man kennt die Schicksale der Protestierenden. Ein gutes Beispiel sei die russische Armee, sagt Tscherkasov. Jede Mutter, die einen Sohn hat, wisse, was mit dem Schulabschluss auf ihn zukommt. Die Fälle der brutalen Dedowschina – Schikane durch Ältere – seien allgemein bekannt. Und doch tragen die Gruppen der gesellschaftlichen Aktivisten meist sprechende Namen, wie „Komitee der Soldatenmütter“, also derjenigen, die die Erfahrungen bereits hinter sich haben. In Russland wird eben behandelt, anstatt vorzubeugen.