Deutschland vor der Wahl: Wird die Eurokrise den europäischen Sozialstaat zusammenbrechen lassen?

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Deutschland muss sich seiner Verantwortung für Europa bewusst werden; Bild: Európa Pont/Flickr, Lizenz: CC-BY

11. September 2012
Craig Willy
Bei jeder Einschätzung der Rolle Deutschlands in der Eurokrise muss auf zweierlei hingewiesen werden: dass Deutschland hier der mit Abstand wichtigste Akteur ist. Und darauf, wie gewaltig die Katastrophe ist, mit der Europa derzeit zu kämpfen hat: die in zwei Wellen verlaufende Rezession, die eine Wiederbelebung der Weltwirtschaft bedroht, zunehmende Arbeitslosigkeit von aktuell 11,3 Prozent (bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent in einigen Ländern) sowie massive Angriffe auf demokratische Verfahrensregeln in einigen der Randländer – insbesondere in Griechenland, Italien und Irland. Das Verhalten der deutschen Regierung und der Europäischen Zentralbank (EZB) droht dabei, die derzeitige Katastrophe in eine Tragödie von wahrhaft historischem Ausmaß zu verwandeln, durch die Ungleichheit, Armut und Einkommensunsicherheit dauerhaft ansteigen werden.

Das Ende des europäischen Sozialmodells

Der derzeitige Kurs von Bundesregierung und EZB ist dabei bemerkenswert undemokratisch, unsozial und wirtschaftsfeindlich – soll heißen: ineffektiv. Dazu gehört, dass durch den Fiskalpakt der Keynesianismus auf Ebene der Nationalstaaten verboten wird, und unabhängige Offizielle der EZB, das heißt Personen, die gewählten Regierungsvertretern keine Rechenschaft schulden, die Aufsicht über den europäischen Finanzsektor übertragen wird. All dies geschieht, obgleich sich durch solche Maßnahmen weder die Krisen in Spanien und Irland – beides Länder mit niedrigem Schuldenstand – hätten abwenden lassen, und obwohl die EZB die Spekulationsblasen an den Rändern Europas vollständig ignorierte. Noch 2007 sagte der damalige Präsident der EZB, Jean-Claude Trichet: „Nicht selten sprechen meine Kollegen und ich im EZB-Direktorium darüber, dass die irische Wirtschaft in vielerlei Hinsicht ein Vorbild für die Eurozone ist.“

Am aufschlussreichsten ist aber, dass die Strategie der EZB und Deutschlands darauf setzt, Gerhard Schröders Agenda 2010 und seine Hartz-Reformen nach ganz Europa zu exportieren. Die unterschiedlichen Rettungsmaßnahmen und die Vorgaben der EZB (die besonders Italien auferlegt wurden) zielen nicht nur darauf, das Defizit in den Staatshaushalten zu senken – was bei der Vergabe von Krediten verständlich ist –, sie enthalten auch Maßnahmen, die damit in keinem Zusammenhang stehen, beispielsweise Privatisierung, Lohnkürzungen und eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes.

Es stimmt, dass durch solche Reformen einige Menschen in Deutschland erheblich wohlhabender geworden sind und die internationale Position des Landes gestärkt wurde, aber durch diese Reformen nahm auch die Ungleichheit in Deutschland erheblich zu und die Armutsrate stieg an (zwischen 2001 und 2010 von 10 auf über 15,5 Prozent) – wozu auch ein beschämender Anstieg der Kinderarmut gehört. Konkret gilt ein Ein-Personen-Haushalt dann als arm, wenn das monatliche Einkommen unter 925 € im Monat liegt – ein Hungerlohn.

Schlimmer noch: Die EZB, eine angeblich unpolitische Institution, hat sich ideologisch sehr einseitig verhalten. Im Februar 2012 erklärte ihr Präsident, Mario Draghi, gegenüber dem Wall Street Journal, eine finanzwirtschaftliche Konsolidierung sei dann gut, wenn die Steuern sänken. Dabei spielt es offensichtlich keine Rolle, dass die Länder am Rande Europas, in denen der Einfluss der EZB am stärksten wirkt, innerhalb Europas die tiefste Kluft zwischen Reich und Arm haben sowie die niedrigsten Steuersätze. Nebenbei bemerkt haben die wirtschaftlich stärksten Staaten Europas hohe Steuersätze, nämlich die Niederlande, Deutschland, Österreich, Frankreich und die nordischen Staaten....

Das europäische Paradox: eine vermeidbare Schuldenkrise


Das Paradox der europäischen Schuldenkrise besteht darin, dass die Eurozone weniger verschuldet ist als die meisten entwickelten Staaten, im Besonderen weniger als die USA, Japan und Großbritannien und das durchschnittliche Haushaltsdefizit (etwa vier Prozent des BIP) nur die Hälfte oder weniger als in den genannten Ländern beträgt. Der Economist hat darauf hingewiesen: „Das Problem der Eurozone ist nicht die Höhe der Verschuldung, sondern dass diese Verschuldung bruchstückhaft verteilt ist. Zusammengenommen beläuft sich die Verschuldung der öffentlichen Hand in der Eurozone auf 87 Prozent des BIP; in den USA sind es über 100 Prozent.“

Hinzu kommt, dass, obwohl Angela Merkel beteuert, die Europäer würden über ihre Verhältnisse leben, die Eurozone zwischen 1992 und 2008 insgesamt einen Primärüberschuss erzielte. Es wurde mehr eingenommen als ausgegeben – wenn man von den Schuldzinsen absieht – und die Eurozone hatte im internationalen Vergleich eine der geringsten Verschuldungen der  Einzelhaushalte. Diese Faktoren sind wichtig, wenn man bedenkt, dass die Eurozone verglichen mit anderen Staaten sehr hohe Zinssätze bezahlt. Im Jahr 2009 wurden über vier Prozent des BIP in Italien und Griechenland für den Schuldendienst aufgewendet. Selbst die hochverschuldeten USA, Japan und Großbritannien geringere Zinszahlungen leisteten für ihre Schulden (zwischen 1 und 1,7 Prozent) als das weniger verschuldete und so „vorbildliche“ Deutschland (2,3 Prozent).

Kurz gesagt, die Finanzen könnten einfach konsolidiert, die Haushalte ausgeglichen werden, würde Europa nur weniger Zinsen zahlen. Die Folgen wären finanzpolitische Stabilität und neuerliches Wirtschaftswachstum.

Die Schwierigkeit dabei, Europas Kosten für die Refinanzierung zu senken, ist, dass dies einer ausgeprägten finanzpolitischen Solidarität bedürfte, denn die Risiken müssten entweder dadurch aufgefangen werden, dass die Schulden gemeinsam getragen werden (durch die Ausgabe von Eurobonds) – oder aber dadurch, dass die EZB zum letztinstanzlichen Kreditgeber wird, d.h. dass sie die Schulden der Nationalstaaten „aufkauft“. Letzteres ist für Zentralbanken ganz normal, wird so doch während einer Finanzkrise für Stabilität gesorgt. Die Bank of England, die Federal Reserve der USA und die Bank of Japan verfahren so, und auch die Bundesbank hat dies schon getan.

Allen müsste klar sein, verfügten sie nur über die nötigen Informationen und die nötige Einsicht, dass das System der Eurozone, so wie in Maastricht entworfen, einer Reform bedarf: Entweder es müssen die erforderlichen föderalen Befugnisse geschaffen werden, um es zu vereinheitlichen – oder aber man schafft es ab. Alle mit der nötigen Einsicht würden zudem zustimmen, dass mehr finanzielle Solidarität zwischen Europäern – sei es durch die EZB oder durch Eurobonds – einhergehen muss mit Kontrollbefugnissen auf europäischer Ebene, um sicherzustellen, dass das System nicht missbraucht wird. Die Frage ist, wie derartige Befugnisse aussehen sollen, und speziell, ob sie demokratisch legitimiert sein werden und sich mit der historischen Errungenschaft des europäischen Sozialmodells vereinbaren lassen.

Alternativen zum deutschen Kurs

Die Gefahr liegt darin, dass die deutsche Konservative die EZB noch mächtiger, noch weniger rechenschaftspflichtig ausgestaltet, den Mitgliedsstaaten jegliche nach Keynes riechende Maßnahme untersagt und in ganz Europa für mehr Armut, mehr Ungleichheit und mehr Laissez-faire-Kapitalismus sorgt, bevor sie einer Rettung der Eurozone zustimmt. Meldungen über Merkels Vorschläge für einen neuen europäischen Vertrag deuten, obgleich sie noch schwammig sind, darauf hin, dass sie in diese Richtung steuern will.

Es gibt jedoch zahlreiche Alternativen zu dem Kurs, den derzeit die deutsche Regierung und die europäischen Institutionen verfolgen. Der fortschrittliche französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Pikkety hat eine begrenzte Form von Föderalismus ins Spiel gebracht, durch welche die Schulden der Eurozone an neue, kollektive Schuldenobergrenzen hinsichtlich der nationalen Ausgaben gebunden würden, deren Höhe eine neue „Generalversammlung der Eurozone“ festlegte, die aus gewählten Vertretern bestünde. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums hat der britische Economist vorgeschlagen, die Schulden vorübergehend zusammenzulegen und so die gegenwärtige Krise zu beenden, während gleichzeitig die Schaffung neuer, möglicherweise undemokratischer föderaler europäischer Strukturen auf ein Minimum begrenzt werden sollte. Über diese Alternativen muss es eine gelassene, demokratische Debatte geben, damit die Europäerinnen und Europäer die Chance habe, sich für eine Lösung zu entscheiden, die sowohl die Wirtschaftskrise beendet als auch demokratische Rechte sichert.

Was nicht geschehen darf ist, dass in der Hitze des Gefechts die anti-keynesianischen, unsozialen und undemokratischen Strömungen von einer Regierung zum Teil der Europäischen Verträge gemacht werden. Sollte dies geschehen, wäre der Euro der Totengräber des europäischen Sozialmodells, und die christlich-soziale Demokratie würde ersetzt durch eine ungeheure, nicht rechenschaftspflichtige und so gut wie unreformierbare europäische Technokratie.

Die französische Linke reicht nicht aus

Es ist klar, dass bei den Auseinandersetzungen darüber, wie die Eurozone vernünftiger und demokratischer gestaltet werden soll, die französische Linke allein nicht viel ausrichten kann. Im Mai 2012 sagte Rebecca Harms, die Vorsitzende von Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament: „Mit dem Machtwechsel in Frankreich wird hoffentlich auch das demokratische Defizit des Fiskalpakts angegangen.“ Bedauerlicherweise hat die von Präsident François Hollande versprochene „Revision“ des Fiskalpaktes bei Merkel zu keinen weiteren Zugeständnissen geführt als zu einem peinlich inhaltsleeren „Wachstumspakt“ der aus nichts besteht als einem winzigen, vorgeblichen Konjunkturprogramm, das etwa ein Prozent des BIP umfasst (und größtenteils aus bereits vorhandenen Mitteln besteht). Der Spiegel nannte dies zu Recht einen „Mogelpakt“ [[18]]. Es ist raue Wirklichkeit, dass heute der französische Präsident gegen die Zentralbank und die deutsche Kanzlerin machtlos ist.

Das Schicksal Europas hängt heute, wie schon so oft zuvor, von Deutschland ab. Sollte der aktuelle Kurs weiterverfolgt werden, wäre dies ein Trauerspiel. Europa, einst die Hoffnung auf einem zerrissenen Kontinent dauerhaft Frieden zu schaffen, hätte dann nichts weiter bedeutet als eine undemokratische Aushöhlung des europäischen Sozialmodells. Langfristig wird dies zu Armut führen, werden die Ungleichheit und die gesellschaftlichen Krisen die Gefahr von Extremismus und Nationalismus – und damit von Krieg – schüren. Jeder in Deutschland und besonders die deutsche Linke hat eine historische Verantwortung dafür zu sorgen, dass dieser Albtraum nicht Wirklichkeit wird.



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Craig Willy ist Euroblogger und publiziert zu Themen der Europäischen Union. Außerdem ist er bei Twitter zu finden.

Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Herrmann.

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