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Welches Europa wollen wir?

Es gibt glücklicherweise nicht nur einen Faktor, der Europa zusammenhält, sondern viele. Für sich genommen sind sie nicht stark genug, Zusammenhalt herzustellen, aber in Kombination können sie eben das leisten. In letzter Zeit haben sie schweren Schaden genommen, was erklärt, warum die gegenwärtige Krise den Gedanken von Europa und die Legitimität dieser Idee so sehr bedroht.

Was uns zuallererst zusammenhält, ist das Vermächtnis der Vergangenheit. Viele Menschen behaupten heute, die Erzählung von Krieg und nachfolgender Versöhnung habe ausgedient, spräche die Menschen und besonders die Jüngeren nicht mehr an. Das sehe ich nicht so. Unsere Vergangenheit ist ganz wesentlich, wollen wir die Gegenwart und Zukunft verstehen. Die Vergangenheit ist der Spiegel in den wir blicken, wenn wir voranschreiten und Entscheidungen für die Zukunft treffen.

Die Vergangenheit als Überlebensgrundlage

Wie funktioniert die Vergangenheit? Zuerst einmal bedeutet Europäer zu sein sich, ständig kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dies führt zu einer wichtigen psychologischen Selbsthemmung und begrenzt die Art, in der die Akteure Macht ausüben. Während der gegenwärtigen Krise haben wir das immer wieder gesehen. Und obgleich sich die Machtverhältnisse in der EU verschoben haben, halten sich alle Länder – und nicht nur Deutschland, das einen Sonderfall darstellt – erheblich zurück und versuchen nicht, ein wirtschaftliches Machtgefälle in ein politisches umzusetzen. Das bedeutet nicht, alle Staaten seien gleich, oder dass Entscheidungen nicht durch die ungleichen Machtverhältnisse beeinflusst werden. Dennoch muss man aber einräumen, dass innerhalb der EU das übliche Gerangel um Machtpositionen und überhaupt Machtpolitik, wie sie sonst in der internationalen Diplomatie gang und gäbe ist, zahmer und versöhnlicher ausfällt als anderswo auf der Welt. Eben deswegen – und obgleich es zu einer erheblichen Machtverschiebung vom Rand zum Zentrum und von einigen EU-Institutionen (der Kommission) hin zu anderen (der EZB) gekommen ist – ist das europäische System noch nicht zusammengebrochen.

Zweitens formt die Vergangenheit nicht nur die Spielregeln des politischen Verhaltens und bremst die natürlichen Machtgelüste der Mitgliedsstaaten, sie gibt uns auch eine Vision für die Zukunft und eine Anleitung dafür, wie wir sie gestalten können. Wenn es um Machtpolitik und Hegemoniestreben geht, hat Europa schon so ziemlich alles mitgemacht. Die Vision einer internationalen und europäischen Ordnung ist entsprechend von dem Wunsch geprägt, Macht zu teilen, Souveränität gemeinsam auszuüben und eine wohlhabendere und gerechtere Welt zu schaffen. In diesem Sinne steht Europa für die fortschrittlichste Form eines aufgeklärten, funktionierenden Multilateralismus, die die Welt je gesehen hat.

Was Europa ebenfalls zusammenhält, ist die spezielle Art in der hier Probleme gelöst werden. Diese Methode ist umständlich, oft verwirrend und immer wieder nervt sie – dennoch steht sie aber für ein multinationales rechtsstaatliches System, in dem Entscheidungen weitgehend im Konsens getroffen werden. Ganz gleich, was die Euroskeptiker sagen, im Unterschied zur Sowjetunion ist die EU kein Völkergefängnis, sondern ein freiwilliger Zusammenschluss souveräner Staaten und deren Bürgerinnen und Bürger. Dafür, dass es innerhalb der EU so lange braucht, Entscheidungen zu treffen und diese dann auch umzusetzen, gibt es einen guten Grund: Grundlage der EU sind vernunftgelenkte Regierungen und funktionierende Nationalparlamente, die von weitgehend rational handelnden Bürgerinnen und Bürgern gewählt werden. Dies ist ein weiterer Faktor, der uns Europäer vereint.

Gutes Leben innerhalb der Europäischen Union

Eine zweite Sache, die uns zusammenschweißt, ist eher materieller Natur. Selbst als die Krise ihren Höhepunkt erreicht hatte, sprach immer noch mehr für ein Leben innerhalb als außerhalb der EU. Das bedeutet nicht, alle Vorzüge würden zwischen und innerhalb der Länder gleichermaßen verteilt. Einigen Ländern nützt der freie Markt mehr als anderen, und Unternehmer sowie Menschen mit Uniabschluss profitieren stärker von der EU-Integration als Ladenbesitzer, Facharbeiter in reichen Ländern (die fürchten, ihre Jobs würden in Billiglohnländer verlagert) und Menschen mit geringer Qualifikation. Zwangsläufig werden diejenigen, denen die EU mehr nutzt, diese auch stärker unterstützen, als Menschen, denen sie weniger nutzt. Dass zahlreiche Beitrittskandidaten für die Mitgliedschaft Schlange stehen zeigt aber, alles in allem spricht sehr viel dafür, Mitglied der EU zu sein.

Die aktuelle Krise bedroht all diese Säulen, auf denen die EU ruht, und die für sie überlebenswichtig sind. Erstens wurden dadurch alte nationale Stereotype wiederbelebt, und Europa scheint in einen fleißigen Norden und einen faulen Süden zu zerfallen. Zweitens sind dadurch alte Ressentiments, speziell Deutschland gegenüber, wieder auferstanden. Drittens wurde das Machtgleichgewicht zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien gestört, und Deutschland legte an Bedeutung stark zu, während die anderen beiden Länder noch weiter in der Bedeutungslosigkeit verschwanden. Viertens wuchs die wirtschaftliche Kluft zwischen den Mitgliedsstaaten und die bereits zuvor tiefen strukturellen Unterschiede zwischen Norden und Süden nahmen weiter zu.

Europa muss folglich, will es die Krise nicht nur überstehen, sondern aus ihr gestärkt hervorgehen, seine Vergangenheit am Leben erhalten und an seiner ganz eigenen Vision von der Zukunft, seiner ganz eigenen Art, Probleme zu lösen, festhalten. Gleichzeitig muss es auch darum gehen, alles zu tun, damit das politische, institutionelle und wirtschaftliche Gleichgewicht zwischen den Mitgliedsstaaten bestehen bleibt. 

Solidarität muss mit Verantwortung einhergehen

Was also bedeutet Solidarität in Europa? Es bedeutet beispielsweise hinsichtlich des Wohlfahrtsstaates (Renten, Arbeitslosengeld), dass ein größerer gesellschaftlicher Zusammenhalt geschaffen werden muss und im Hinblick auf Fragen der Sicherheit (siehe Artikel 5 des Nordatlantikpakts), dass die Staaten einander in Notlagen beistehen müssen. Für Solidarität braucht es selbstverständlich klare Regeln und Abläufe – inklusive Sanktionen (nicht Strafen) gegen diejenigen, die gegen diese Regeln verstoßen. Anders ausgedrückt, Solidarität muss mit Verantwortung einhergehen – und eben diese Verbindung versucht die EU heute herzustellen. Die Alternative wäre eine Art von sozialdarwinistischem Europa, eines in dem nur die Starken überleben und der Markt entscheidet, wer überlebt und wer nicht. Mit der Europäischen Union hätte dies nichts zu tun. In der aktuellen Lage ist es angemessen, im Gegenzug für finanzielle Unterstützung Strukturreformen zu fordern. Oder anders ausgedrückt: Es ist nicht falsch, Leistungen mit Bedingungen zu verknüpfen. Das Problem ist ein anderes: Ohne Wachstum verwandelt sich die Dynamik zwischen Reformen in den einzelnen Ländern und Unterstützung von außen in einen Teufelskreis und die Krise wird zu mehr und mehr Schuldzuweisungen führen und die Position Europas auf den Weltmärkten erschüttern.

Ohne Solidarität wird es zu einem Siegeszug des Sozialdarwinismus kommen, wird Europa auseinanderbrechen. Es wird dabei nicht in ein Europa der zwei Geschwindigkeiten zerfallen – das ist bereits heute mehr oder weniger der Fall – sondern in zwei Europas, und das ist eine völlig andere Sache. In einem Europa der zwei Geschwindigkeiten verfolgt man die selben Ziele, trifft Entscheidungen gemeinsam, und die Regeln dafür, wie man von einer Ebene auf die andere wechseln kann sind transparent und für alle die gleichen. Zwei Europas, würde hingegen bedeuten, dass es einen Kern und einen Rand gibt, und es unmöglich ist, von einer Zone in die andere zu wechseln – entweder, weil die Kriterien ungerecht sind (ich kann abnehmen, aber wachsen kann ich nicht), oder aber weil die Mitglieder der Kerngruppe den Beitritt neuer Mitglieder einseitig ablehnen können. In einem Europa, das aus zwei Europas besteht werden sich die Verhältnisse zwischen Zentrum und Rand schwierig gestalten (vgl. das Verhältnis USA – Mexiko), und es wird unaufhörlich über die Verteilung von Ressourcen gestritten werden (Handelsdefizite, Auslandsinvestitionen, Wechselkurse) sowie über bestimmte Normen (in den Bereichen Arbeit, Gesundheit, Umwelt und Grenzkontrollen).

Ein solches Europa bestehend aus zwei Europas ist kein ganz unrealistisches Szenario. Zu der Lage, in der wir uns heute befinden, ist es wegen eben solcher Dynamiken gekommen. Aktuell wird die EU bedroht von allerhand politischen, institutionellen und wirtschaftlichen Ungleichgewichten. Gelingt es uns nicht, diese zu beseitigen, wird Europa entweder de jure oder aber de facto in zwei Europas zerfallen. Dies zu verhindern, ist die Herausforderung, der wir uns heute stellen müssen. 


José Ignacio Torreblanca ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am European Council on Foreign Relations und leitet das Madrid-Büro der Organisation. Der Text ist sein Beitrag zur Konferenz "Europas gemeinsame Zukunft" am 25./26 September 2012.

Aus dem Englischen von Bernd Herrmann

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