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Pragmatismus statt Leidenschaft: Die US-Wahlen aus europäischer Sicht

Der Blick der Europäerinnen und Europäer auf die Wahlen in den USA scheint auf den ersten Blick klar zu sein. Die große Mehrheit der Bürger/innen der Europäischen Union befürwortet eine Wiederwahl Barack Obamas, Romney ist fast so unbeliebt wie einst George W. Bush. So kommt eine Studie des jährlich in Cambridge stattfindenden Yougov-Cambridge-Forums zu dem Ergebnis, dass nur jeder 20te Europäer eine positive Meinung von Mitt Romney hat. Laut der jährlichen Studie „Transatlantic Trends“ des German Marshall Fund of the United States (GMF), würden 75 Prozent der Europäer Obama im November wählen, wenn sie denn könnten. Dies sieht nach einer Wiederholung der Situation von vor vier Jahren aus.

Keine Frage, das Europäische Herz schlägt weiterhin „demokratisch“. Mitt Romney wird hier keine großen Sympathien gewinnen, das wurde auch während seines Kurz-Trips nach Europa im Sommer dieses Jahres deutlich.

Und doch ist die Situation eine andere als 2008. Obgleich der US-Wahlkampf auch dieses Mal mit großem Interesse verfolgt wird, herrscht in der EU eine weit pragmatischere Stimmung vor. War Obamas Wahl vor vier Jahren noch mit größter Leidenschaft verfolgt worden, als neues Kapitel der wunderbaren transatlantischen Freundschaft, so ist die Stimmung derzeit weitaus nüchterner. Eine begeisterte Menge von Hundertausenden von Menschen, die Obama zujubeln, wie seinerzeit in Berlin, ist heute kaum mehr vorstellbar.

Wenig überraschend hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass auch Barack Obama kein europäischer Präsident ist, sondern Präsident der USA. In den meisten politischen Bereichen, die aus europäischer Sicht von zentraler Bedeutung sind, wie der Bekämpfung des Klimawandels oder der weiteren Verrechtlichung der internationalen Politik, haben die letzten Jahre keine großen Fortschritte gebracht. Stattdessen gab es immer wieder transatlantische Misstöne, vom ACTA-Abkommen über die Einbeziehung des Luftverkehrs in den Emissionshandel bis zu den richtigen Maßnahmen zur Lösung der Euro-Krise.

Strategisch haben sich die USA unter Obama stärker dem Pazifik zugewandt. Die EU wurde als pragmatische Partnerin dort genutzt, wo es zielführend war, beispielsweise in den Verhandlungen zum iranischen Atomprogramm. Aber Europa spielt schon länger nicht mehr die Rolle, die es zu Zeiten des Kalten Krieges in fast allen Belangen unverzichtbar machte. Das zeigt sich auch an den US-Plänen einer Verlagerung von Teilen des Militärs aus Europa. So spielt Europa auch im US-Wahlkampf kaum eine Rolle – es sei denn auf Seiten der Republikaner als sozialistischer Bösewicht, von dem es sich abzugrenzen gilt.

Gleichzeitig ist die Europäische Union stark mit sich selbst beschäftigt. Das ständige Krisenmanagement führt zu einem Mangel an Aufmerksamkeit für vieles, was außerhalb der EU passiert. Das ist durchaus nachvollziehbar, gilt es doch, das Europäische Haus wetterfest zu machen und eine neue Dimension der europäischen Integration einzuläuten.

Wenn es der EU jedoch gelingen sollte, diese Krise zu meistern, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und durch mehr Integration an Schlagkraft zu gewinnen, dann könnte sich dies auch für die Beziehungen zu den USA als Glücksfall erweisen. Eine stärkere Europäische Union wäre eine stärkere Partnerin für die USA und würde von den meisten Akteuren in Washington begrüßt.

Denn klar ist, dass jenseits der oben genannten globalen Verschiebungen das Verhältnis zwischen der EU und den USA auch in Zukunft von zentraler Bedeutung sein kann. Beide Seiten haben eine weitgehend kongruente Sicherheitspolitik, sowohl was die Bedrohungsszenarien angeht, als auch bezüglich des Abstimmungsverhaltens im Sicherheitsrat, und die NATO garantiert weiterhin eine institutionelle Einbettung der Beziehungen.

Auch finanz- und wirtschaftspolitisch bleibt die EU mit den USA aufs Engste verbunden. Die Euro-Krise nahm ihren Anfang mit der Finanzkrise in den USA, und das Management der Euro-Krise in Europa wirkt unmittelbar auf die USA zurück. Die Krisen auf beiden Seiten des Atlantiks sind letztlich zwei Seiten einer gemeinsamen Medaille – der Finanzierung des Wachstums der westlichen Industriestaaten über übermäßige staatliche und private Verschuldung, gekoppelt mit einer Deregulierung der Finanzmärkte.

Beide Seiten müssen die Wirtschafts- und Finanzkrise überwinden, um langfristig Sicherheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Wohlstand ihrer Gesellschaften zu sichern und auszubauen. Nur wenn das gelingt, wird „der Westen“ auch glaubwürdiges Vorbild für diejenigen außerhalb der westlichen Industriestaaten bleiben, die sich nach einer demokratischeren und gerechteren Welt sehnen. Und nur dann werden die USA und die EU auch in Zukunft die Kapazitäten haben, um gemeinsam zu einer sicheren und gerechten Weltordnung beizutragen. Der Wunsch danach ist noch immer auf beiden Seiten des Atlantiks deutlich. Laut der aktuellen "Transatlantic Trends" des GMF befürworten 52 Prozent der Europäer/innen weiterhin eine starke Führungsrolle der USA in globalen Angelegenheiten. In den USA befürworten sogar 63 Prozent eine starke Führungsrolle der EU. Die Grundlage für eine weitere intensive transatlantische Zusammenarbeit ist da, und Pragmatismus ist sicher nicht die schlechteste Voraussetzung, um diese Zusammenarbeit auszugestalten – wer immer im Januar ins Weiße Haus einziehen wird.