Ein Bericht zur Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt:
26. Juni 2012
Inklusion: Schöne Utopie oder realistisches Ziel?
Wie kann selbstbestimmte Teilhabe für Menschen mit Behinderung erreicht werden?
Unsere Gesellschaft steht unter hohem sozialen Druck. Lebenswirklichkeiten, soziale Teilhabe und Zukunftsperspektiven driften immer deutlicher auseinander. Inklusion – umfassende inklusive Politik – ist die richtige und angemessene Antwort auf reale Ungerechtigkeiten und Unsicherheiten. Ein Teil dieser inklusiven Politik ist auch das 2008 von der UN verabschiedete Übereinkommen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Zentrales Ziel dieser Konvention ist die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft, anstatt sie von staatlicher Seite aus zu bevormunden. Dabei geht es auch darum, eine möglichst unabhängige Lebensführung zu gewährleisten.
Wir fragten, welche Bedeutung das Recht auf Teilhabe im Bereich Arbeit in diesem Zusammenhang hat. Gab es Veränderungen nach der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention? Und welche Arbeitsformen sind im Hinblick auf das gesellschaftliche Ziel der Inklusion angemessen?
Die Podiumsgäste waren Prof. Dr. Saskia Schuppener (Professorin für Geistigbehindertenpädagogik, Erziehungswissenschaftliche Fakultät an der Universität Leipzig), Uwe Frevert (Sozialpädagoge und Vorstand im Verein Selbstbestimmt Leben e.V.) und Norbert Wendt (Geschäftsführer der Halleschen Behindertenwerkstätten). Moderiert wurde die Diskussion von Peter Sellin, dem Referenten für Sozialpolitik der Heinrich-Böll-Stiftung. Mit den geladenen Gästen gelang es, unterschiedliche Perspektiven in der Diskussion um Inklusion – auf Schulebene, der Ebene der beruflichen Ausbildung und schließlich auf der Ebene des Arbeitsmarktes – exemplarisch einzufangen.
Integration und Inklusion
In ihrem Eingangsstatement machte Saskia Schuppener zunächst noch einmal den Unterschied zwischen Integration und Inklusion deutlich. Beides seien keine neuen Themen für die Geistigbehindertenpädagogik. „Integration“, so die Hochschulprofessorin, „ist es, wenn etwas vorher ausgesondertes, bzw. exkludiertes wieder zu etwas hinzugefügt werden soll. Bei der Inklusion sind hingegen von Anfang an die Strukturen so offen, dass Chancengleichheit und Selbstbestimmung möglich ist“.
Auch für Uwe Frevert steht der Begriff der Inklusion für einen umfassenderen Ansatz. Er betonte, dass es grundsätzlich darum gehe, die Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen zu wahren. Er stelle hier große Defizite in Deutschland fest, vor allem was die institutionelle Exklusion (d.h. Unterbringung in Heimen und Anstalten) angehe. Frevert machte deutlich, dass die UN nicht zuletzt wegen der Situation in Deutschland in der Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention ein Mittel zur Verbesserung der Menschenrechtsbedingungen für behinderte Menschen sah.
Prof. Dr. Saskia Schuppener verwies am Beispiel der schulischen Inklusion vor allem auf aktuelle strukturelle Entwicklungen im Bereich der Geistigbehindertenpädagogik. Hier stellte sie als besonders problematisch heraus, dass die Gruppe der geistig-mehrfachbehinderten Personen häufig aus dem Blick heraus fallen und damit von der Gesellschaft zu „forgotten people“ gemacht werden – an dieser Stelle also eine Exklusion stattfinde. Dies wäre auch ein Grund, weshalb diese Gruppe in der derzeitigen Inklusionsdebatte keine Rolle spiele.
Uwe Frevert machte eindrücklich deutlich, dass gerade die „Verwahrung“ von Menschen mit Behinderung in ‚besonderen‘ Institutitionen wie Förderschulen, Behindertenwerkstätten etc. das schaffe, was eigentlich verhindert werden soll – ein exkludierendes System. Norbert Wendt hielt als Geschäftsführer der Halleschen Behindertenwerkstätten dagegen, dass diese Institutionen auch einen ‚Schutz- und Schonraum‘ für Menschen mit geistigen und psychischen (weniger mit körperlichen) Behinderungen darstellten, den einige benötigten. Ihm wäre es am liebsten, wenn es gelänge möglichst viele seiner Klienten in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Er stellte jedoch auch klar, dass der derzeitige erste Arbeitsmarkt kein ‚sozialer Arbeitsmarkt‘, sondern auf größtmögliche Effizienz angewiesen sei – was die Einstellung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung schwierig mache.
Ergebnisse und Herausforderungen
Ein wichtiges Ergebnis der Diskussion war das einstimmige Plädoyer für mehr Wahlmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung und damit einhergehend, eine bessere finanzielle Ausstattung. Letzte soll es ermöglichen, Menschen mit Behinderung vermehrt ambulant zu behandeln und weniger auf Institutionen zu setzen, die einen Großteil des für Menschen mit Behinderungen bereitgestellten Geldes zur Sicherung des eigenen Überlebens verschlingen.
Im Bereich der schulischen Bildung liegt die besondere Herausforderung darin, von der von Saskia Schuppener so bezeichneten „Einzelintegration“ bzw. „Einzelinklusion“ zu einem System zu kommen, dass auf die teuren parallelen Schulstrukturen verzichtet. Stattdessen muss auf inklusive Schulen gesetzt werden mit dem dafür erforderlichen Betreuungsschlüssel.
Norbert Wendt sah weitergehend im Bereich der beruflichen Ausbildung die Notwendigkeit, diese zukünftig über die zuständigen Handwerkskammern bzw. Industrie- und Handelskammern zertifizieren zu lassen, damit Menschen mit Behinderung in Zukunft über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen, die auch auf dem ersten Arbeitsmarkt anerkannt wird. Hier, so Norbert Wendt, seien derzeit auch in den Behindertenwerkstätten enorme Veränderungen im Gange.
Für Uwe Frevert liegt die größte Herausforderung darin, die exkludierenden Strukturen, die derzeit durch den Staat über die staatliche Finanzierung gestützt und gefördert werden, abzubauen. Er forderte daher einen Ausstieg aus der Heim- und Anstaltsstruktur.
Unisono war die Meinung der Podiumsgäste, dass wir bisher in Deutschland noch nicht von Inklusion sprechen können, sondern immer noch und im besten Fall von Integration von Menschen mit Behinderungen. Der Bereich, in dem inklusive Strukturen, trotz aller Einschränkungen, bisher am meisten durchgesetzt wären, ist laut Prof. Dr. Saskia Schuppener, der schulische.