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Westjordanland: USA und EU sollten Hamas an Gesprächen beteiligen

Ein Interview mit Dr. René Wildangel, geführt von Sandra Schulz, Deutschlandradio.

Lesedauer: 7 Minuten

Für René Wildangel, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah, deuten die Anzeichen derzeit auf eine bevorstehende israelische Bodenoffensive im Gazastreifen hin. Damit drohe die Wiederholung des "absolut desaströsen Krieges" von 2008.

Sandra Schulz: In Ramallah im Westjordanland erreichen wir René Wildangel, den Leiter des Büros der Heinrich Böll Stiftung dort. Guten Tag!

René Wildangel: Guten Tag, Frau Schulz!

Schulz: Herr Wildangel, steht eine Bodenoffensive bevor?

Wildangel: Na ja, die Befürchtungen hier sind natürlich genauso groß wie in Washington oder in Israel. Die Fakten wurden ja eben genannt, es ist eine enorme Zahl an Reservisten eingezogen worden, die jetzt an der Grenze zu Gaza stehen. Natürlich hoffen auch hier alle darauf, dass es noch zu einem Waffenstillstand kommt. Unsere Besorgnis ist aber groß und im Moment deuten die Anzeichen darauf hin, dass es zu einer Bodenoffensive kommen könnte. Es wäre mit einer Wiederholung dessen zu rechnen, was wir bereits 2008 erlebt haben, nämlich einen absolut desaströsen Krieg, der damals 1300 Menschen auf palästinensischer Seite und mehrere Dutzend Menschen auf israelischer Seite das Leben gekostet hat. Die Befürchtung ist also, dass die Lage noch weiter eskaliert, als das bereits in den letzten vier Tagen der Fall war.

Schulz: Wäre das denn eine Wiederholung von 2008? Ist die Lage nach dem Sturz Mubaraks in Ägypten nicht eine vollkommen andere?

Wildangel: Einerseits ist die Lage völlig anders, andererseits sitzt natürlich der neue ägyptische Präsident Mursi auch in einer Zwickmühle. Er erhält ganz deutliche Signale von den USA, den Friedensvertrag mit Israel nicht anzurühren. Die USA sind im Moment für Ägypten ein ganz zentraler Partner. Einerseits ist Ägypten ist in einer Umbruchsituation und auf die wirtschaftliche Hilfe der USA angewiesen, andererseits kommt natürlich auch in Ägypten wie in der ganzen arabischen Welt, der große Druck von der Straße. Die Menschen erwarten jetzt, dass sich Ägypten nach der Revolution anders verhält. Und es gibt auch Symbole diesbezüglich: der ägyptische Botschafter in Israel wurde abgezogen, gestern gab es einen Besuch des ägyptischen Premierministers Kandil und heute war der tunesische Außenminister vor Ort. Das ist aber erst mal nur eine Symbolpolitik. Ich glaube wirklich massive Schritte, die die Beziehung mit den USA und anderen großen, wichtigen Machtinhabern beeinträchtigen könnten, kann man erst mal nicht erwarten.

Schulz: Es gab gestern - Sie haben den Besuch des ägyptischen Ministerpräsidenten Kandil gerade schon angesprochen - ja sehr deutlichen Rückhalt für die Hamas. Kann Ägypten als Vermittler für einen Waffenstillstand agieren?

Wildangel: Ich glaube, dass Ägypten eine ganz zentrale Rolle spielt und auch mit den USA in Kontakt steht. Aber Ich glaube, dass von allen Seiten, auch von der EU, viel mehr Nachdruck notwendig ist, um wirklich deutlich zu machen: Das ist ein Schritt, der große Gefahren mit sich bringt, und zwar für beide Seiten. Für die palästinensische Zivilbevölkerung, 1,7 Millionen Menschen, die, wie Sie das eben schon beschrieben haben, die ganze Situation bereits jetzt als albtraumhaft erlebt und wirklich tagtäglich um ihr Leben bangt. Aber auch aus israelischer und aus strategischer Sicht ist die Situation gefährlich, denn eine solche Bodenoffensive wird auf beiden Seiten viele Tote bringen. Sie wird aber keine Probleme lösen, denn nach 2008 hat man im Prinzip den Gazastreifen vergessen. Man hat die Blockade eingerichtet, es ist eine Tunnelwirtschaft entstanden und man hat ein bisschen so getan, als ob es die tiefer liegenden Probleme in Gaza gar nicht gäbe. Diese kann man aber nur mit Diplomatie lösen. Wenn es eine neue Kriegsrunde gibt, dann ist das Ergebnis: viele Tote, es ist aber keines der Probleme in der Region gelöst. Wenn es hoffentlich zu einem Waffenstillstand kommt, beginnt dort die Arbeit. Ägypten wird dabei eine zentrale Rolle spielen, um endlich diese diplomatischen Probleme anzugehen. Vor allem Ägyptens enge Beziehung zur Hamas ist dabei von Wichtigkeit.

Schulz: Wir erreichen Sie, heute in Ramallah im Westjordanland. Welchen Rückhalt hat die Hamas denn dort?

Wildangel: Ja, das ist so ein bisschen schizophren. Seit den Spannungen und der Spaltung von 2007 zwischen Fatah und Hamas sind hier wirklich zwei fast völlig voneinander getrennte Staatsgebiete entstanden, einmal der Gazastreifen, wo die Hamas regiert, andererseits das Westjordanland, wo die Fatah regiert. Hier ist natürlich auch die Hamas präsent, in Demonstrationen während der letzten Tage konnte man auch ein paar Fahnen der Hamas sehen, aber die Organisation ist hier sehr geschwächt. Man blickt natürlich insgesamt vom Westjordanland nach Gaza, viele Palästinenser hier haben auch Freunde, enge Familie dort und machen sich große Sorgen. Aber es sind schon sehr getrennte Welten. In der Westbank gibt es Demonstrationen, es gab ein paar kleinere Ausschreitungen, aber insgesamt ist der Gazakrieg hier doch erschreckend weit weg.

Schulz: Ich würde gerne noch ein bisschen allgemeiner fragen: Welche Entwicklungen oder vielleicht auch welche Akteure sind es jetzt, die über Krieg oder Frieden entscheiden?

Wildangel: Ich glaube schon, dass es die unmittelbar beteiligten Akteure sind, also die Hamas und Israel an erster Stelle. Das Kalkül auf beiden Seiten ist nicht ganz klar. Natürlich wissen wir, dass auf israelischer Seite eine Wahl bevorsteht, sodass die israelische Regierung hier mit harter Hand durchgreifen will. Sie will auch zeigen, wir tolerieren keinerlei Raketenbeschuss seitens der Hamas. Andererseits will Hamas deutlich machen, dass sie noch Widerstand leisten kann, dass sie auch militärische Fähigkeiten hat. Aber man hat so ein bisschen das Gefühl, dass beide Seiten jetzt eigentlich nicht so richtig wissen, wie sie denn diese schwierige Situation in einen Sieg ummünzen sollen. Wie gesagt, für Israel ist eine Bodenoffensive auch mit großen Gefahren, großen Ungewissheiten verbunden. Die Fortsetzung dieses Raketenbeschusses ist auch für die Palästinenser und für die Hamas mit einer weiteren furchtbaren Zerstörung im Gazastreifen verbunden. Da kann man nur hoffen, dass irgendwie von beiden Seiten ein Ausweg gefunden wird. Und es muss jetzt massiv diplomatisch eingegriffen werden. Einerseits von den erwähnten regionalen Kräften, aber ich denke auch, dass sich zum Beispiel die EU und die USA hier viel stärker einbringen und äußern müssen, als sie das bisher getan haben.

Schulz: Welche Form des Einbringens schwebt ihnen da vor?

Wildangel: Zum Beispiel im Rahmen der UN, in einem Rahmen wirklich konkreter Präsenz in der Region und konkreten Gesprächen. Man muss auch dieses Paradigma der Vergangenheit, dass man die Hamas an solchen Gesprächen nicht beteiligt, überdenken und wahrscheinlich auch über Bord werfen. Was wir bisher erleben, sind eine Reihe von Solidaritätserklärungen, das Recht auf Selbstverteidigung - das ist alles richtig, aber das reicht nicht. Man hat manchmal das Gefühl, dass das eher die Konfliktparteien in ihrem Vorgehen bestärkt, auch die Solidarität der arabischen Welt mit der Hamas. Das bringt aber nichts. Wie gesagt, es muss konkrete diplomatische Initiativen geben, Initiativen in der UN, in der Arabischen Liga und hier vor Ort, die die Konfliktparteien an einen Tisch bringen.

Schulz: Aber die Hamas bestreitet das Existenzrecht Israels. Inwiefern ist sie ein adäquater Gesprächspartner?

Wildangel: Ja, das ist die Frage. Sie ist vielleicht kein adäquater Gesprächspartner, aber es ist ja eine Frage der Pragmatik und der Diplomatie. Man hat nach der Wahl von 2006, die die Hamas ja gewonnen hatte, diese berühmten drei Bedingungen gestellt. Es wurde gesagt: Wir werden erst mit der Hamas reden, wenn sie diese Bedingungen erfüllt. Eine dieser Bedingungen war die Anerkennung Israels. Das hat die Hamas nicht getan und es ist auch nicht anzunehmen, dass sie das in Zukunft tun wird. Aber in der Diplomatie muss man natürlich versuchen Lösungen und Auswege zu finden. Und diese drei Bedingungen waren dabei nicht sehr hilfreich. Man hat in den letzten fünfeinhalb Jahren sehr viel Zeit verschwendet. Und die Bedingungen im Gazastreifen, den ich selber dieses Jahr sehr oft besucht habe, sind einfach katastrophal. Die Hamas ist daran mit verantwortlich. Aber wenn man eine Mauer um den Gazastreifen baut, nur so tut, als ob er nicht vorhanden ist und wenn man nicht mit der Hamas redet, wird man keine Möglichkeit haben, die schwierige Lage dort auch selbst zu beeinflussen. Von daher ist, nach diesem Krieg und nach einem Waffenstillstand wirklich sehr viel Kreativität und sehr viel neue diplomatische Aktivität gefragt.

Schulz: René Wildangel, Leiter des Büros der Heinrich Böll Stiftung in Ramallah und heute hier in den "Informationen am Mittag" im Deutschlandfunk. Danke Ihnen!

Wildangel: Danke schön! Tschüss!


Das Interview wurde am 17.11.2012 vom /Deutschlandradio/Deutschlandfunk veröffentlicht.