Nach zwölf Jahren, in denen die Regierung nicht von der PRI gestellt wurde, stehen wir in Mexiko derzeit erneut vor dem Amtsantritt einer PRI-Regierung. Dieser Moment wirft viele Fragen auf: Ist mit der Rückkehr der PRI die Rückkehr zu Kontrolle und Autoritarismus verbunden? Haben sich die archaischen politischen Praktiken in der Zwischenzeit verändert? Wird die neue Regierung lediglich den Diskurs verändern, die alten Verhaltensweisen jedoch beibehalten?
Als Menschenrechtsverteidiger fragt man sich, ob die Menschenrechte in Mexiko künftig besser als bisher geachtet werden oder ob das Gegenteil der Fall sein wird.
Woher wir kommen
Die Geschichte der mexikanischen Menschenrechtsbewegung beginnt in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Das heißt, dass ein Großteil ihrer Geschichte unter PRI-Regierungen verlief - auf lokaler und auf Bundesebene. Charakteristisch für die Anfangszeiten waren die Versuche der Machthaber, die zivilen Organisationen in Frage zu stellen. Organisationen der Zivilgesellschaft wurden entweder beschuldigt, die Souveränität des Landes anzugreifen oder im Auftrag ausländischer Interessen tätig zu sein. Zu Beginn der Verhandlungen der Zedillo-Regierung mit dem Amt des Hohen Kommissars für Menschenrechte im Vorfeld des Kooperationsabkommens zwischen den Vereinten Nationen und der mexikanischen Regierung machte sie den Ausschluss der Zivilgesellschaft zur Vorbedingung. Bis zum Ende der PRI-Regierungen hat sich daran nicht viel geändert.
Im Jahr 2000 erreichte die politische Wende auch das Präsidentenamt. Eine der ersten Veränderungen war die Übernahme des Menschenrechtsdiskurses sowie die Anpassung an internationale Gepflogenheiten. Der damalige mexikanische Außenminister, Jorge Castañeda, kündigte auf der Jahrestagung der UN-Menschenrechtskommission eine Politik der offenen Türen an. Dies führte zu einer ganzen Reihe von internationalen Beobachterreisen durch Mexiko und in deren Folge zu einer Vielzahl von Empfehlungen. Die PAN-Regierungen zeigten sich jedoch außerstande, diese umzusetzen.
Am zweiten Tag nach dem Amtsantritt des ersten PAN-Präsidenten Vicente Fox wurde das Abkommen mit dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte unterzeichnet. Im Jahr 2002 wurde in Mexiko-Stadt eine Vertretung dieses Amts eingerichtet. Sie legte einen Zustandsbericht über die Lage der Menschenrechte in Mexiko vor, der die FOX-Regierung dabei unterstützen sollte, ein Nationales Programm für Menschenrechte zu entwickeln. Im Nachhinein betrachtet brachte das aber wenig Ergebnisse. Aus heutiger Sicht könnte man Menschenrechtsaktivitäten der ersten PAN-Regierung sogar als Null und nichtig zu bezeichnen[1].
Wegen des Wahlbetrugsvorwurfs wurde die Legitimität der zweiten PAN-Regierung unter Felipe Calderón von Anfang angezweifelt. Sie versuchte sehr schnell, sich diese Legitimierung mit ihrem „Krieg gegen den Drogenhandel“ zu verschaffen, in dem die Gefährdung des Lebens und der Unversehrtheit der Staatsbürger und die Verletzung ihrer Menschenrechte als einer von vielen „Kollateralschäden“ angesehen wurden.
Wo wir stehen
Die von Präsident Calderón aufoktroyierte Sicherheitspolitik ist gescheitert[2], denn sie hinterlässt das Land in einer Situation, die von Gewalt gekennzeichnet ist und die allgemein als sehr unsicher wahrgenommen wird.
Die Anzahl der im Kontext des Kreuzzuges gegen das organisierte Verbrechen ermordeten Menschen ist immens. Die Schätzungen reichen von 65.000 bis zu 100.000 Toten, niemand verfügt über genaue Zahlen. Im Januar 2011 kündigte die mexikanische Bundesregierung die Schaffung einer Datenbank an mit dem Titel: Todesfälle, bei denen ein Zusammenhang mit Auseinandersetzungen unter rivalisierenden verbrecherischen Organisationen angenommen wird[3]. Darin wurde die Anzahl der Morde bis einschließlich Ende 2012 mit 34.612 beziffert. Die Datenbank wurde aber nur sporadisch aktualisiert und schließlich gar nicht mehr. Aus diesem Grunde verfügt man nicht über genaue Zahlen; sicher ist aber, dass die aus dem Amt scheidende Regierung Tausende von Todesopfern hinterlässt.
Hinzu kommen Tausende von Verschwundenen. Das mexikanische Innenministerium musste anerkennen, dass es angesichts der Vielzahl der Fälle der Forderung der betroffenen Familien nach Gerechtigkeit nicht ansatzweise entsprechen kann.
Wie in jedem Krieg wächst auch in diesem Drogenkrieg die Akzeptanz von Gewalt. Nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission gab es 2005 zwar nur eine einzige Beschwerde wegen Folter[4], im Jahr 2011 wurden dort jedoch mehr als 2.400 Beschwerden aufgrund dieser Menschenrechtsverletzung angezeigt. Diese Daten zeigen, dass die Behörden alle Mittel einschließlich der Folter eingesetzt haben, um die drohende Ausweitung des Drogenhandels zu verhindern.
Die Gewalt betrifft fast alle. Derzeit zählt man 73 ermordete Journalisten in Mexiko. Praktisch kein Mord wurde bestraft. Bei den Menschenrechtsverteidigern sieht die Lage nach Angaben des Netzwerks „Alle Rechte für alle“ (Todos los derechos para todas y todos), so aus, dass zwischen Januar 2011 und Oktober 2012 insgesamt 188 Fälle von Übergriffen registriert wurden. Eine relevante Tatsache ist in diesem Zusammenhang, dass mehreren dieser Angriffe eine Verleumdungskampagne vorausging, in der Menschenrechtsverteidiger diskreditiert wurden. Dies führte zu einem situativen Kontext, in dem der jeweilige Übergriff gerechtfertigt schien.
Fazit: Die Strategie des Krieges ist gescheitert und sollte nicht fortgeführt werden. Eine Veränderung tut not.
Neue Wege
Zur Entwicklung einer adäquaten Strategie braucht man eine solide und vertrauenswürdige Analyse. Genau dies müsste eine der ersten Aufgaben Peña Nietos sein: die Rechenschaftsablegung gegenüber der Gesellschaft und die Information über seine Einschätzung der derzeitigen Sicherheitslage. Außerdem sollte er folgende Fragen beantworten: Wie bewertet er die Aktionen der vergangenen Jahre? Welche Gründe sieht er für die gegenwärtige Gewaltsituation im Land? Wer trägt derzeit wofür die Verantwortung?
Während der Wahlkampagne und in den Monaten nach dem Wahltag am 1. Juli hat der künftige Präsident keinerlei Diagnose über die Themen Sicherheit, Justiz und Menschenrechte vorgelegt. Dies sollte er zu Beginn seiner Amtszeit schleunigst nachholen. Eine Wiederholung der Politik Calderóns, der zwischen seinem Wahlversprechen, ein „Präsident der Arbeitsplätze“ zu sein, eine Kursänderung zu einem „Präsidenten der Toten“ vollzogen hat, wäre nicht wünschenswert.
Außer einer Analyse müsste Peña Nieto klar stellen, wie er der Straflosigkeit Einhalt gebieten will. Interessant in diesem Zusammenhang sind Daten der Arbeitsgruppe über das Verschwinden von Personen[5], die nach einem Besuch Mexikos über Tausende von Verschwundenen berichtet, und gleichzeitig über nur ganz wenige Strafurteile in diesem Zusammenhang. Ähnlich sieht die Lage bei Menschenrechtsverletzungen und im Strafrechtsbereich ganz allgemein aus.
Von daher sollte die Implementierung des Anklagestrafrechtssystems mit Priorität verfolgt werden. Der neue Präsident sollte sich verstärkt darum kümmern, dass dieses System spätestens im Jahr 2016 im ganzen Land gültig ist und allen Menschen Zugang zu fairen Justizverfahren gewährleistet.
Ein weiterer entscheidender Punkt ist eine Strategie zum Aufbau einer professionellen und vertrauenswürdigen Polizei. Diese Notwendigkeit wurde bereits 1988 vom Präsidenten Ernesto Zedillo als eilig benannt und duldet keinen Aufschub. Welche Maßnahmen werden ergriffen, damit Mexiko in absehbarer Zeit über einen modernen, demokratischen und die Menschenrechte achtenden Polizeiapparat verfügt?
Mit dem Aufbau eines professionellen Polizeiapparats sollte eine Verringerung und letztlich der Ausschluss der Beteiligung der Armee bei polizeilichen Aufgaben einhergehen. Hier müssten Fristen benannt werden, in denen diese juristisch unhaltbare Situation aufgehoben und die Maxime umgesetzt wird, nach der innere Sicherheit immer eine Aufgabe von Zivilisten ist.
Unabhängig davon, wie die Ausrichtung der künftigen Sicherheitspolitik sein wird, muss diese als unverzichtbare Komponente eine Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen einschließen, die Arbeit, Beschäftigung und ein menschenwürdiges Leben zum Ziel haben. Das alte Modell einer „armen Sozialpolitik als einer Politik für die Armen“ ist überlebt.
Am 11. Juli 2011 ist die Verfassungsreform[6] in Kraft getreten, die im Hinblick auf die Menschenrechte versichert, dass „alle staatlichen Stellen in ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich dazu verpflichtet sind, die Menschenrechte zu fördern, zu achten, zu schützen und zu gewährleisten.“ Was wird die neue Regierung tun, damit Sätze wie dieser in die Tat umgesetzt werden? Wie können Behörden, die gegen Menschenrechte eingestellt sind, zu solchen werden, die sich die Verteidigung dieser Rechte auf die eigenen Fahnen schreiben?
Ein erster Schritt wäre vielleicht, den in den vergangenen Jahren eingeschlagenen Weg einer Bürokratisierung der Menschenrechte zu verlassen. Jede Regierungsstelle, zumindest auf Bundes- und Bundesstaatenniveau hat mittlerweile ein Büro, das dem Namen nach für Menschenrechte zuständig ist, die in Wahrheit aber ihre jeweiligen Chefs gegen jeglichen Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen verteidigt.
Diese Stellen sind bei der Menschenrechtsarbeit nicht nur hinderlich, sondern kosten auch sehr viel Geld. Nach Angaben des Lehr- und Forschungszentrums für Wirtschaftswissenschaften (CIDE) beliefen sich die öffentlichen Haushaltsausgaben für die Nationale Menschenrechtskommission, deren Entsprechung in den Bundesstaaten und die sonstigen staatlichen Menschenrechtsstellen im Jahr 2010 auf insgesamt 2,34 Mrd. Pesos. Das entspricht etwa 140 Mio. Euro. In den zukünftigen Planungen müsste also vorgesehen werden, dass diese Amtsstellen die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Menschenrechte innerhalb der öffentlichen Verwaltung umgesetzt werden.
In den Berichten, die die mexikanische Bundesregierung internationalen Stellen vorlegt, wird ausführlich aufgeführt, was im Menschenrechtsbereich alles getan wurde. Allerdings ist keine kohärente Strategie zu erkennen, die die dort erwähnten Aktionen untereinander vernetzt und die darauf abzielt, die Ursachen der Menschenrechtsverletzungen anzugehen. Aus diesem Grunde ist dringend geboten, dass die Regierung künftig auf disperse und nicht untereinander verbundene Aktionen verzichtet. Vielmehr muss sie ein Menschenrechtsprogramm entwickeln, das Schlüsselbereiche mit spezifischen Zielen und messbaren Indikatoren ausweist. Aus den Fehlern der PAN-Regierung sollte gelernt werden.
Ein weiterer Schwerpunkt sollte die Identifizierung des Gremiums innerhalb der Bundesregierung sein, das für die Koordinierung der Menschenrechtspolitik zuständig sein soll. Derzeit ist dies angeblich die Aufgabe aller, weshalb sie tatsächlich von niemandem wahrgenommen wird. Menschrechte sollten ein essentieller Bestandteil der Innenpolitik sein. Dies sollte in der klaren Verantwortlichkeit des Innenministeriums liegen, das diese Verantwortung gegenüber dem restlichen Amtsapparat durchsetzen müsste. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass die jüngsten Vorschläge Peña Nietos zur Umstrukturierung des Innenministeriums keinerlei Hinweise in diese Richtung beinhalten.
Menschenrechte umfassen auch die Bereiche Gesundheit, Bildung, Umwelt und andere soziale, ökonomische und kulturelle Rechte. Um auch in diesen Bereichen vorwärts zu kommen, könnte man die Arbeit des Nationalrats zur Evaluierung des Sozialpolitik (CONEVAL) nutzen. Beispielsweise könnten Evaluierungen auf Basis der Einschätzung der Bevölkerung hinsichtlich der Einhaltung ihrer Rechte erfolgen. Und schließlich müssten die Empfehlungen des Rats Rechtsverbindlichkeit haben.
Fazit: Im Menschenrechtsbereich ist noch viel zu leisten. Um genau zu sein: so gut wie alles.
Edgar Cortéz, vom unabhängigen Instituto Mexicano de Derechos Humanos y Democracia, setzt sich aktiv für die Verteidigung von Menschenrechten ein.
[1] Maza Calviño, Emma Consuelo, Los Derechos Humanos en México: ¿retórica o compromiso? FLACSO September 2008. http://conocimientoabierto.flacso.edu.mx/tesis/310
[2] Castañeda, Jorge / Aguilar, Rubén, Los saldos del narco. Punto de lectura 2012
[3] Presidencia de la República, Base de datos de fallecimientos ocurridos por presunta rivalidad delincuencial. http://www.presidencia.gob.mx/base-de-datos-de-fallecimientos/
[4] Rede des Vorsitzenden der nationalen Menschenrechtskommission vor dem Menschrechtsausschuss des mexikanischen Senats am 21.11.2012 http://www.cndh.org.mx/Discursos
[5] Absatz 32 des Berichts der Arbeistgruppe über Verschwindenlassen, Organ der Vereinte Nationen, vom 20.12.2011
[6] Instituto Mexicano de Derechos Humanos y Democracia, A. C. La reforma constitucional en materia de derechos humanos: hacia una nueva convivencia. 2012 http://imdhd.org/folleto%20RC_web.pdf