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Friedliche Transformation von Konflikten: Die Arbeit der Organisation SERAPAZ in Mexiko

Lesedauer: 7 Minuten

Interview mit David Bermúdez, SERAPAZ México

Am 1. Dezember 2012 übernahm Enrique Peña Nieto in Mexiko das Präsidentenamt. SERAPAZ arbeitet seit Jahren zu friedlicher Transformation von Konflikten, speziell mit stark benachteiligten Gruppen der Gesellschaft. Wie analysierst du die wichtigsten Punkte der mexikanischen Politik auf dem Hintergrund des Regierungswechsels?

Es gibt drei besonders wichtige Punkte. Erstens ist Mexiko seit Jahren durch strukturelle Veränderungen geprägt. Basis ist die Ökonomie; sie hat aber natürlich Auswirkungen auf die sozialen Verhältnisse und die politischen Akteure. Der mexikanische Staat hat die Interessen der traditionell wichtigen Wirtschaftssektoren priorisiert und sie über die Interessen der Bevölkerung gestellt. Von den Megaprojekten sind Bevölkerungsgruppen, besonders indigene Gemeinschaften direkt betroffen, also z.B. von Großprojekten im Straßenbau, Stauseeprojekten, Ausbau der Minen und Bergbauindustrie oder auch vom Flughafenbau. Hier gibt es Konflikte der Bevölkerung mit dem Staat oder auch mit transnationalen Unternehmen.

Die zweite Kategorie der Konflikte hat mit der Transformation oder Flexibilisierung von erkämpften sozialen Rechten zu tun, die teilweise schon seit der mexikanischen Revolution Gültigkeit hatten. Unter der PAN Regierung wurde eine „Reform” des Arbeitsrechts durchgeführt, das bedeutet eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, Zulassung flexibler Arbeitszeiten - also Mehrarbeit, Outsourcing, Leiharbeit, Lohndumping usw.. Zu diesem zweiten Bereich der Kategorien der Konflikte gehört sicher auch die Privatisierung des Energiesektors, die Schließung eines wichtigen Stromversorgers und die Zerschlagung von dessen Gewerkschaft. Das wird sich noch verschärfen durch die weitreichenden  Maßnahmen der Privatisierung der Energieunternehmen und die geplante Öffnung der staatlichen Ölgesellschaft PEMEX für privates Kapital. Das wird natürlich zu schweren sozialen Konflikten führen.

Der dritte Bereich sind die Konflikte und die Gewalt, die aus dem sogenannten „Krieg gegen den Drogenhandel” resultieren: Militarisierung, Paramilitarisierung und schwerste Menschenrechtsverletzungen. SERAPAZ hat in diesem Kontext mit zahlreichen Gruppen von Opfern gearbeitet, also z.B. mit der „Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde” von Javier Sicilia und davon ausgehend mit verschiedenen Akteuren aus unterschiedlichen Bundesstaaten, vor allem in Ciudad Juárez (im Bundesstaat Chihuahua), in Saltillo (Coahuila) , in Monterrey (Nuevo León) und in Morelia und Cherán im Bundesstaat Michoacán. Wir arbeiten dafür, den Gewaltopfern bessere Bedingungen zu ermöglichen, um sich zu organisieren, Räume zum Gedankenaustausch zu schaffen und ihre aktive Beteiligung zu fördern und zu begleiten, damit sie ihr legitimes Recht, nämlich Wahrheit und Gerechtigkeit einzufordern, besser durchsetzen können.

Diese drei Kategorien von Konflikten werden auch unter der neuen Regierung fortbestehen. Was uns besondere Sorgen bereitet, ist, dass es unter der neuen Regierung im dritten Sektor der Konflikte zu einer Art Institutionalisierung der Gewalt im Land kommen wird. Präsident Peña Nieto hat für seine Amtszeit mehrere Veränderungen zum Thema innere Sicherheit angekündigt. Beraten wird er hierbei von General Óscar Naranjo, einem General im Ruhestand der kolumbianischen Bundespolizei. Er hat das Image des Super-Polizisten, wird aber von Menschenrechtsorganisationen beschuldigt, schwerste Menschenrechtsverbrechen begangen zu haben, für die er nie zur Rechenschaft gezogen wurde.

Peña Nieto und sein Berater Naranjo wollen ein Modell, wie es die PRI auch schon früher verfolgte, natürlich unter mittlerweile leicht veränderten Vorzeichen. Es soll eine einheitliche nationale Polizei geben unter dem Namen „Gendarmería Nacional”, geleitet von hohen Offizieren des Militärs und der Marine. Das Ministerium für öffentliche Sicherheit wird verschwinden, nur das Innenministerium (Secretaría de Gobernación) bleibt, so wie es früher war. Der Innenminister wird also sehr viel Macht haben. Die zivilen Geheimdienste sollen ausgebaut werden, um gegen die Organisierte Kriminalität vorzugehen. Man will sich von der Politik der Regierung Calderón bewusst abgrenzen. Wir werden einen neuen Diskurs haben zum Thema Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Das bedeutet nicht, dass sich alles ändert, es geht mehr um einen institutionellen Umbau, eine Umbenennung verschiedener Maßnahmen. Man wird nicht mehr vom „Krieg gegen den Drogenhandel” sprechen, sondern von „demokratischer Sicherheit”. Das ist eine Kopie des Diskurses von Ex-Präsident Álvaro Uribe in Kolumbien. Im Mittelpunkt des Diskurses zum Thema Sicherheit wird nicht mehr die Zerschlagung der Drogenkartelle stehen, sondern der Schutz der Bürgerrechte. Was die Opfer der Gewalt anbetrifft, wird das Thema Entschädigung in den Mittelpunkt gestellt. Das hört sich erst einmal gar nicht so schlecht an, wenn wir ein anderes Land, andere Bedingungen hätten. Was tatsächlich hierbei passiert, ist aber, dass sich staatliches Handeln über die Opfer legitimieren soll. Es geht nicht um Sühne und Wiedergutmachung, sondern um Abfindung und Entschädigung. Alle Formen des Klientelismus, wie wir sie von der PRI kennen, sind absehbar. Es wird sehr viel Geld geben für zivile und soziale Organisationen, die mit Opfern arbeiten. Man will das Image eines Staates aufbauen, der seine Bürger schützt. In Wirklichkeit geht es darum, dass sich der Staat politisch legitimiert, die Verbrechen in eine Epoche der Vergangenheit verschoben werden und suggeriert werden soll, dass jetzt alles besser wird. Wir gehen davon aus, dass der Gewalt-Index sinken wird. Die PRI wird eine neue Strategie der Verhandlungen mit den Drogenkartellen entwickeln. Sowohl Berater Naranjo, als auch die USA gehen davon aus, dass wir jetzt einen anderen historischen Moment haben und dafür werden sie viel Geld bereitstellen.

Auch in die Verhandlungen mit den Kartellen?

Ja, und sie werden wohl erreichen, dass sich die Situation in einigen Regionen entschärft. Sie werden eher mit dem Kartell von Sinaloa – weniger mit den Zetas – zu Einigungen kommen; schon Calderón hatte ja das Sinaloa-Kartell eher in Ruhe gelassen und mehr die Zetas attackiert. Jetzt werden sie versuchen, Bedingungen für eine Waffenruhe/Stillhalteabkommen zwischen den beiden Kartellen zu schaffen, die das Land schon untereinander aufgeteilt haben. Das hat die PRI ja auch schon früher gemacht. Unter Calderón und seinem „Drogenkrieg” gab es eine immense Zahl von Opfern in der Zivilgesellschaft (soziale Führungspersönlichkeiten, politische Führer, Menschenrechtsaktivist/innen, Journalist/innen, indigene Bevölkerung); das wird weitergehen, aber jetzt wird es eher eine selektive Repression geben. In den ersten Jahren wird die Regierung sehr darauf achten, dass es nicht zu viele Tote gibt. Unter dem Strich: Peña Nieto wird das fortsetzen, was Calderón begonnen hat. Calderón hat die Schmutzarbeit gemacht, Peña Nieto wird sie in dieser neuen Etappe institutionalisieren und dies mit Hilfe einer Allianz zwischen der politischen Klasse und einer Gruppe der wichtigsten Unternehmer.

Was heißt das für eure Arbeit?

Wir werden es schwerer haben. Schon unter der PAN-Regierung wurde es Organisationen der Zivilgesellschaft immer schwerer gemacht, bei Konflikten zu vermitteln. Der Staat wollte alles selbst in der Hand haben, hatte jedoch weder politische Erfahrung damit, noch die nötige Sensibilität. Die PRI hat beides, sie werden Mechanismen einführen, um die Beteiligung der Zivilgesellschaft auf ein Minimum zu beschränken. Unsere Möglichkeiten politisch Einfluss zu nehmen, auch auf höchster Ebene, werden sich reduzieren. Das Übergangsteam von Peña Nieto kam bereits auf uns zu, hat das Gespräch gesucht, aber wir haben klar gemacht, dass wir nur aktiv werden, wenn uns soziale Gruppen darum ersuchen. Ich gehe davon aus, dass sie uns keine führende Rolle bei der Vermittlung in Konflikten einräumen werden. Es wird ein Staat sein, der gegenüber der Zivilgesellschaft wesentlich reservierter ist.

Durch die neoliberale Politik ist es ihnen gelungen, die sozialen Bewegungen und linken Strömungen im Land stark zu schwächen. Wir haben es heute mit ganz anderen politischen Kräfteverhältnissen zu tun. Die PRD als linke politische Alternative befindet sich derzeit im Auflösungsprozess und ist tief gespalten. Der Bruch von Andrés Manuel López Obrador – AMLO (Ex-Regierungschef von Mexiko-Stadt und zweimal Kandidat der PRD für die Präsidentschaftswahlen) mit der PRD hat dazu geführt, dass die PRD derzeit keine politische Option für die sozialen Bewegungen ist. Die Rolle der PRD als dritte Kraft, als Gegengewicht zu den traditionellen Parteien, ist beendet. Momentan ist so etwas wie ein Vakuum entstanden, es gibt keine linke Alternative. Die Bewegung von AMLO „Morena” ist eine auf Wahlen konzentrierte Massenbewegung von Menschen, die an AMLO glauben, aber ohne relevante Beteiligung der sozialen Bewegungen im Land. „Morena” wird sich wohl bald als Partei gründen. Es ist aber genau umgekehrt als damals, als viele soziale Bewegungen die Notwendigkeit der Gründung einer politischen Partei als linke Alternative sahen und aktiv die Gründung der PRD vorantrieben und sich beteiligten.

Danke für das Gespräch.


Das Interview führte Jürgen Moritz.