Es gibt etwas, für das man die europäische Krise bewundern kann. Das fortwährende Bangen, ob der Euro-Raum zusammengehalten werden kann oder nicht, hat eine beachtliche Gelassenheit gegenüber jeglicher Form von Alarmismus hervorgebracht. Müde lächelnd kann man inzwischen darüber hinweggehen, wenn einer wie der FDP-Spitzenmann Rainer Brüderle einmal mehr mit dem Austritt Italiens aus der Euro-Zone kokettiert.
Vor Jahr und Tag hätte man Brüderle wohl noch einen gefährlichen Zündler genannt, und er selbst hätte sich in der Rolle des tapferen Redners gesehen, der unliebsame Wahrheiten aussprechen muss. Inzwischen jedoch stellt sich kaum mehr ein als das Gefühl, dass hier einer mit dem Finger auf die Wiederholungstaste gerutscht ist. Und die Rating-Agenturen liefern passend dazu ihre Bewertungen wie eine ewig wiederkehrende Melodie aus dem Radio-Wecker zum Murmeltier-Tag. Zur europäischen Dauerkrise gehört eben auch die Erfahrung einer alltäglichen Kontinuität. Und es ist vermutlich sogar ein gutes Zeichen, dass die Diskussion über die Rhetorik eines Kanzlerkandidaten und diplomatischen Stil trotz gewisser Ermüdungserscheinungen nicht abreißen will. Wo man sich so leidenschaftlich über europäische Clowns und ihre Geschichte verständigt, scheint die kulturelle Grundlage des Kontinents noch nicht verloren.
Vergiftete Worte
Zur dieser gehört allerdings auch die dunkle Seite des Ressentiments, auf die sich Innenminister Hans-Peter Friedrich spezialisiert zu haben scheint. Angesichts der Klage von Kommunen und Gemeinden über zunehmende Anträge auf Sozialleistungen, insbesondere von Menschen aus Bulgarien und Rumänien, warnte er vor einem drohenden Sozialleistungstourismus aus der EU. Mit vergifteten Worten wie Flächenbrand und Sozialbetrug bekräftigte Friedrich zuletzt seine Vorstellungen von einem Europa, in den dem man sich erfolgreich gegeneinander abschotten muss.
Das verkennt allerdings die Wanderungsbewegungen, die man bereits lange vor Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise als lebendige europäische Praxis hätte wahrnehmen können. Gut ausgebildete Handwerker zog es beispielsweise aus den baltischen Ländern nach Irland, weil sie dort bessere Verdienstmöglichkeiten vorfanden. Dabei handelte es sich keineswegs um eine Migration auf Dauer. Als die Arbeit getan war, kehrten viele Litauer, Letten und Esten wieder in ihre Heimatländer zurück.
Es ist eines der bemerkenswertesten Lehrstücke seit der Einführung des Euro, das sich an den europäischen Rändern vollzog. Von den Kernländern der EU so gut wie unbemerkt, gelang – zumindest bis zum Beginn der Währungskrise – eine mehr oder weniger funktionierende Integration durch Arbeit, die ohne leicht entflammbare Vorurteile auskam. Es wäre daher ratsam, die aufgeladene Diskussion über die Arbeitsmigration aus einigen Balkanländern, die hierzulande statistisch kaum einen nennenswerten Niederschlag gefunden hat, mit gesamteuropäischen Erfahrungen abzugleichen.
Lust auf urbane Abwechslung
Jenseits der dumm machenden Energien einer Diskussion über Armutseinwanderung und der Erschleichung von Sozialleistungen sollte man sich vielmehr auf die schöpferischen Kräfte der neuen europäischen Wanderungsbewegungen besinnen. Wohl noch nie zuvor hat es in der europäischen Geschichte eine vergleichbare Situation gegeben, in der so viele junge, gut ausgebildete Menschen in friedlicher Absicht ihre Zukunftschancen jenseits ihrer Herkunftsgrenzen suchen.
Europa hat sich auf den Weg gemacht, und es ist keineswegs der erhöhte wirtschaftliche Druck allein, der sie über die Grenzen treibt. Es gehört zu den viel zu selten bemerkten sozialen Errungenschaften, dass die anhaltende Prosperität der letzten Jahrzehnte über die politischen Einigungsbemühungen hinaus die Voraussetzungen für eine durchlässige europäische Gemeinschaft geschaffen hat, in der neben der Aussicht auf Erwerbsarbeit auch kulturelle Neugier und die Lust auf urbane Abwechslung eine attraktive Währung darstellen.
Das bedeutet nicht, dass Europa in sozialer Hinsicht ein Idyll ohne Spannungen sein ist. Es ist ein anhaltender Skandal, dass Bevölkerungsgruppen wie die Sinti und Roma bislang kaum hinreichende Integrationsangebote und Siedlungsanreize erhalten haben. Anstatt sich jedoch auf eine schroffe Abschottungsrhetorik zu beschränken, käme es darauf an, die neue europäische Beweglichkeit auch als sozialen Motor für eine internationale Gemeinschaft zu erkennen, die nur dann eine sein wird, wenn sie nicht nur von oben gedacht wird, sondern auch von unten entsteht.
Der Beitrag erschien am 13.3.2013 zuerst in der Frankfurter Rundschau und in der Berliner Zeitung.
Harry Nutt, Ressortleiter Meinung, Frankfurter Rundschau und Berliner Zeitung, Berlin