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Der steinige Weg zur Macht

Der Versuch, die schwarz-gelbe Bundesregierung im Herbst abzulösen, ist nach der Niedersachsen-Wahl nicht leichter, sondern schwerer geworden. Zwar hat sich die Stimmung leicht aufgehellt, weil gezeigt wurde, dass Rot-Grün noch siegen kann – das gelang allerdings nur knapp in einem Bundesland, im Westen. Niedersachsen hat deutlich gemacht, dass das « Lager von unten » im Mitte-rechts-Spektrum voll intakt ist. Es brauchte nur wenige Signale von der mittleren Ebene, um die bürgerlichen Wähler an die großen Machtvorteile einer kleinen Stimmenumverteilung zu erinnern. Die Erinnerung an dieses Rechenexempel hält bis zum September. Auch ohne einen Lagerwahlkampf « von oben » – den es unter Merkel nicht gibt. Es ist die listige Strategie eines Lagerwahlkampfs ohne Lagerrhetorik und -polarisierung. Dazu kommt « Überleben der FDP » als eigenes, auf Bundesebene immer zugkräftiges Thema, das die FDP am Ende wahrscheinlich über die 5-Prozent-Hürde hebt. Vor allem, wenn es eine Woche vor der Bundestagswahl in Bayern nicht reichen sollte. Das eine umverteilte Prozent zwischen Schwarz und Gelb heißt für Rot-Grün, dass sie mindestens 47 Prozent für ihre eigene Mehrheit brauchen – ein Wert, den sie bei Infratest dimap zuletzt am 6. Oktober 2011 erreichten. Das war vor anderthalb Jahren.

Merkel betreibt Spurenverwischung. Jeder kämpfe für sich allein, sagt sie. Es sei zwar die erfolgreichste Regierung seit einem Vierteljahrhundert, aber sehen lassen will sie sich mit der FDP nicht. Im heißen Sommer wird die Abgrenzung noch zunehmen. Eine der üblichen taktischen Täuschungen Merkels. Früher nannte man das « Getrennt marschieren, vereint schlagen ». Der Vorteil liegt in der Verbreiterung des bürgerlichen Lagers – der harte Neoliberalismus wird der FDP überlassen, die CDU bemüht sich durch einen « sozialen Wahlkampf » um die sozial-konservativen Wähler. Die FDP im Bundestag, das sichert Merkel die Möglichkeit, nach der Wahl wählen zu können, wer mit (unter?) ihr regiert.

Merkels Strategie

Die Hauptstrategie Merkels ist aber gegen die SPD gerichtet. Sie arbeitet an dem Manöver, die SPD in die Defensive zu zwingen, ohne sie anzugreifen. Ihr Ziel ist die strategische Mehrheitsfähigkeit: Merkel bleibt Kanzlerin, politische Mehrheiten gegen die Union sind unmöglich. Die SPD wird aktiv demobilisiert über das Staubsaugerprinzip (Wegsaugen aller sozialen Gerechtigkeitsthemen), eine reduzierte Mobilisierung der eigenen Klientel findet nur noch über die Person Merkel und die ökonomische Kernkompetenz der Union statt. Es ist eine reduktionistische Strategie der Machtsicherung ohne inhaltliche Ambitionen.

Zu den Rahmenbedingungen des Wahljahres gehört eine eigenartige, gebrochene Form der Wechselstimmung, die noch nicht verrät, zu welchem Wechsel sie führt: Schwarz-Gelb ist abgewählt, Rot-Grün ist die mit Abstand beliebtere Koalitionspräferenz, eine Mehrheit will den Regierungswechsel im September, eine von CDU oder SPD geführte Bundesregierung wird mit etwa gleichen Anteilen gewünscht, eine Mehrheit will aber auch eine Fortsetzung der Kanzlerschaft Merkel – schwer, daraus schlau zu werden und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wie antwortet man auf Wähler, die ja zum Wechsel, aber gleichzeitig auch ja zu Merkel sagen? Die vielleicht nur die FDP ausgetauscht sehen wollen? Am liebsten würden die Wähler wie im Supermarkt agieren und selbst aus den Regalen nehmen, was ihnen gefällt: Die Merkel in den Korb, dazu ihre Euro-Politik, von der SPD den Mindestlohn und Kitas statt Betreuungsgeld, von den Grünen die Energiewende. Am Ende müssen die Bürger aber ein Partei wählen, keine einzelne Politik und auch kein Wahlergebnis. Das macht es so schwer.

Auch die Grundstimmung, die als Tiefenströmung des politischen Klimas auf so viele Einzelfaktoren ausstrahlt, ist heute ambivalent. « Sorgenvolle Zufriedenheit » ist eine Chiffre für diese aktuelle Gefühlslage in der Bevölkerung. Die materielle Zufriedenheit einer Mehrheit der Wähler ist messbar. Worüber aber sind sie gleichzeitig besorgt? Sie haben die Nase voll von zu viel Modernisierung – Agenda-Politik, Ökonomisierung aller Lebensbereiche, Turbo-Abitur an den Schulen. Die Liste der Sorgen ist lang. Die der Widersprüche auch: Wohlstandsgefühl, aber Euro-Ängste. Ungerechtigkeitsgefühl, aber wenig Unterschichtensolidarität. Wünsche nach Veränderung, aber ohne Kampf.

Die Grünen können eher auf diese ambivalente Grundstimmung reagieren, weil die materielle Zufriedenheit bei ihren Wählern besonders groß und mit einer kritischen Grundhaltung verbunden ist. Diese Wähler und die wahlkämpfenden Grünen können sich schwerpunktmäßig den Sorgen um die Energiewende, den Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit (für andere) und sozialen Zusammenhalt zuwenden.

Es gibt Mehrheiten für linke Themen, vom Mindestlohn über die gesetzliche Frauenquote bis hin zu Steuererhöhungen. Es existiert eine rot-grüne gesellschaftspolitische Wertemehrheit inmitten einer schwarz-gelben Ökonomie. Die Parteien des linken Spektrums verfügen über eine addierte Stimmenmehrheit. Mitte-Links hat also alle Voraussetzungen – es scheitert an sich selbst. Das linke Spektrum ist bislang nicht in der Lage, eine gesellschaftliche in eine politische Mehrheit umzuwandeln. Das auf dem linken Bein hinkende Zweilagersystem ist nur eine Ursache dafür.

Die Grünen wären zurzeit mit 13 bis 15 Prozent auf dem Niveau ihrer Bringschuld für eine rot-grüne Bundesregierung. Aber manch Grüner erlebt ein Strategie-Dilemma. Die Frage ist, was passiert, wenn sich auch im Laufe des Sommers keine realistische Machtperspektive einstellen will. Viele Grüne fühlen sich zu stark, um nur für ein unrealistisch werdendes Rot-Grün stillzuhalten. Sie denken, wir haben noch mehr Optionen: Schwarz-Grün und Rot-Grün-Rot. Sie wollen Rot-Grün, aber wenn es arithmetisch nicht reicht, wollen sie noch mehr. Viele sind innerlich zerrissen. Offen bleibt, wie lange die Partei noch erfolgreich von oben zusammengehalten werden kann. Das hat eher die SPD als sie selbst in der Hand. Jedes Prozent, das die SPD demoskopisch verliert, erhöht den Druck bei den Grünen.

Dabei haben die Grünen diesmal keine andere Wahl, wollen sie nicht sogar ihren Zuwachs seit der letzten Bundestagswahl riskieren. Die Wählerlogik zwingt sie zu einer unmissverständlichen Ansage für Rot-Grün. Ohne Hintertür. Noch ist die grüne Wählerschaft so, dass sie die Ansage einer Zweitpräferenz mit Stimmentzug bestraft – egal, ob sie nach rechts oder links geht. Die Landtagswahlen in Berlin und Hamburg waren nur zwei Beispiele dafür.

Regieren oder neuorientieren

Die Grünen wollen mehr. Sie wollen mehr als eine Option und mehr als die 3 bis 4 Prozent Zuwachs, die ihnen bei der Bundestagswahl winken könnten. Beides, das Mehr an Wachstum und Optionen, fällt ihnen aber nicht in den Schoß. Sie müssten es sich erarbeiten. Dabei ist « Arbeit » nicht das Problem, das können sie. Das Problem sind die Restriktionen neuer statt eingeschliffener Koalitionspräferenzen, die inneren Widerstände, denen neue Macht und neue Freiheiten abgerungen werden müssten. Die schwarz-grüne Option wird seit Jahren bei der Realo-Strömung besonders gepflegt, ähnlich wie das Linksbündnis bei der Parteilinken. Damit betrifft die Koalitionsfrage nicht einfach ein sachlich begründbares Thema, sondern die innerparteiliche Machtfrage. Deren Einfrieren aber hat viel zur positiven Außenwirkung der Partei in den vergangenen Jahren beigetragen.

Die im Bund regierende Mehrheit hängt am seidenen Faden einer einzigen Person. Die heißt Merkel. Der direkte Angriff gegen sie ist in der Sache möglich. Er ist risikoreich, aber er kann auch Punkte bringen. Vielleicht nicht für die SPD, aber für die Grünen, die, anders als die Sozialdemokraten, zwei günstige Voraussetzungen haben. Sie können an die CDU kaum etwas verlieren, weil der Wähleraustausch zwischen diesen Parteien gering ist. Und sie haben keine Anhänger der Großen Koalition unter ihren Wählern, die die härtere Gangart scheuen. Schließlich: Die SPD als Großpartei müsste aus den berühmten « staatspolitischen Gründen » für eine Große Koalition zur Verfügung stehen – ob sie will oder nicht. Unter einem solchen « Systemzwang » stehen die Grünen nicht. So verkünden sie, gefragt und ungefragt: « Grün oder Merkel ».

Die Grünen scheinen im Moment alles richtig zu machen. Auch mit einer List der Basisdemokratie, die sie selbst überrascht. Plötzlich – niemand wollte es so – hatten sie ein Spitzenduo, das auch objektiv bestens auf ihre Wählerschaft zugeschnitten ist. Die Partei wird jedoch nicht vergessen: Die Führung war zu dieser Entscheidung von sich aus nicht fähig.

Die Grünen arbeiten für ihre Geschlossenheit, die sich auch bei ihnen niemals spontan einstellt. Sie priorisieren gut nachvollziehbar ihre Themen und kontrollieren selbst die Realistik ihrer Problemlösungen. Sie leben in latenter, nicht offener Konkurrenz zur SPD. Die Grünen leisten gute Vorfeldarbeit. Aber am 22. September 2013 müssen sie springen: in eine zweite rot-grüne Bundesregierung mit Peer Steinbrück oder in eine längere Phase der Neuorientierung, aus der sie anders herauskämen als sie heute sind. 


Prof. Joachim Raschke ist Parteien- und Strategieforscher.
PD Dr. Ralf Tils arbeitet am Zentrum für Demokratieforschung der Leuphana-Universität.