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"Die Bewaffnung einer Bewegung bedeutet ihre Vermännlichung"

Aus Angst um sein Leben hat Dara Nawaf Abdallah Syrien verlassen. Zur Zeit wohnt er im Heinrich-Böll-Haus Langenbroich und schreibt dort u.a. an einem ausführlichen Essay mit dem Titel „Revolution – Geschlecht." Im Interview spricht er über die aktuelle Lage in Syrien, die Erfolgschancen der demokratischen Strömungen und die Rolle der Frauen.

Lesedauer: 8 Minuten

Wie sind Sie auf die Stiftung aufmerksam geworden?
Weil es in Syrien in den Bereichen Politik, Verfassung und Organisationen keine starken Traditionen gibt, ist es schwierig, von Organisationen Kenntnis zu erlangen, besonders, wenn sie für Kultur, Menschenrechte und freiheitliche Werte eintreten. Offen gesagt erfuhr ich von Ihrer Stiftung auf einem Workshop in Beirut, einer zivilen Aktivität, die von der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt und gefördert wurde.

Warum haben Sie Syrien verlassen?
Die Situation in Syrien ist unerträglich geworden. Anfangs habe ich viele Ausreiseangebote abgelehnt, weil ich an Syrien hänge und außerdem die Vorgänge in Syrien aus der Nähe mitverfolgen wollte. Aber nach meiner letzten Hafterfahrung war ich in dauernder Sorge um meine Person, und mein Leben war so chaotisch geworden, dass ich nichts mehr unternehmen konnte. Offen gesagt habe ich Syrien aus Todesangst verlassen, das ist der direkte und einzige Grund.

Wie schwierig war der Weg von Syrien nach Deutschland?
Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten auf dem Weg hierher.

Wie ist es Ihnen möglich, Kontakt nach Syrien zu halten? Was wird Ihnen berichtet?
Die einzige Möglichkeit, Kontakt nach Syrien zu halten, bietet das Internet. Die visuellen Medien geben ein völlig konfuses Bild von den Geschehnissen in Syrien, deshalb ist direkter persönlicher Kontakt der beste Weg, eine genaue Information zu erhalten. Die Nachrichten aus Syrien sind fast immer die gleichen. Politisch ein Zustand völliger Stagnation, vor Ort ein Höchstmaß an Gewalt, Mord, Zerstörung und Vernichtung.

Was können Sie von hier aus bewirken?
Ich wünsche mir, dass ich in Deutschland mehr Ruhe zum Lesen habe, außerdem möchte ich Deutsch lernen.

Wo waren Sie im März 2011 und wie haben Sie den Beginn der Revolution erlebt?
Bei Ausbruch der Proteste in Syrien studierte ich an der Fakultät für Humanmedizin der Universität Damaskus. Zu Anfang, bevor die obrigkeitliche Gewalt zum offenen, zerstörerischen, mit militärischen Mitteln geführten Krieg mutierte, war die Teilnahme der studentischen Jugend an den syrischen Protesten wirkungsvoll und intensiv. Ich werde nie das erste Schweige-Sit-in in der humanmedizinischen Fakultät im dritten Monat des Aufstands vergessen, das Kräfte der „Studentenunion“ mit Schlägen und Verhaftungen unterdrückten.

Inwiefern haben die fast zwei Jahre andauernden Proteste Sie persönlich verändert?
Der Aufstand hat eine tiefgreifende Rolle bei der Konstituierung meiner Persönlichkeit gespielt. Dies war vor allem darauf zurückzuführen, dass ich mich in die allgemeinen syrischen Belange einmischte und nicht mehr nur für meine eigene Person Sorge trug. Hinzu kommt ein wiedererwachtes Interesse für Bildung und Lesen, um damit die Grundlage für eine geistige Arbeit zu legen, die sich mit der dynamischen praktischen Arbeit, wie sie Aktivisten in Syrien zurzeit vor Ort leisten, messen kann.

Haben Sie vor, nach Syrien zurückzukehren?
Ich habe noch nicht entschieden, ob ich nach Syrien zurückkehren werde.

An welchem Projekt arbeiten Sie zurzeit in Langenbroich?
Ich werde jetzt an einem Buch mit literarischer Prosa arbeiten, außerdem arbeite ich an einem ausführlichen Essay mit dem Titel „Revolution – Geschlecht.“

Zu den auffälligsten Merkmalen der syrischen Revolution gehört die starke und aktive Beteiligung der Frauen. Welche Rolle würden Sie den Frauen in der Transition zuschreiben?
Die Stellung der Frau ist der Prüfstein, an dem sich jede Emanzipationsbewegung und alle fortschrittlichen Ambitionen messen lassen müssen. Ich bin der Ansicht, dass die Situation der Frau in der social map Syriens in erster Linie von religiösen Reformen abhängt, das heißt von einer tiefgreifenden Veränderung im islamischen Religionsverständnis. Deshalb ist es im Falle Syriens erforderlich, auf dem Wege der Säkularisation eine vollständige Gewährleistung der Frauenrechte herbeizuführen.

Die Beteiligung der Frauen am syrischen Aufstand war effektiv und intensiv, aber nach der Eskalation der Gewalt und der Verbreitung von Waffen nahm die Mitwirkung der Frauen immer mehr ab. Die Bewaffnung einer Bewegung bedeutet ihre Vermännlichung, die Bewaffnung führte zur Abwesenheit der Frau im öffentlichen Raum.

Nach fast 50 Jahren Alleinherrschaft einer Familie und einer Partei gibt es in Syrien keine Kultur des kritischen Austausches, der gesellschaftlichen Debatte und der privaten Initiativen – das politische Leben war nahezu tot. Wie groß ist der Einfluss von Schriftstellern und Kulturschaffenden auf die Demokratisierung Syriens?
Ich bin der Meinung, die syrischen Intellektuellen sollten ein Gleichgewicht schaffen zwischen zwei Herangehensweisen: Die erste ist die psychisch-gefühlsmäßige und die andere die wissenschaftlich-programmatische. Mit anderen Worten: Sie sollten ein Gleichgewicht schaffen zwischen einer rein moralischen Parteinahme für den syrischen Aufstand einerseits und streng rationaler Analyse des Geschehens in Syrien andererseits. Der syrische Intellektuelle sollte, wenn er wirklich die Grundlage für eine friedliche und gesunde Zukunft legen will, eine echte und strenge kritische Distanz zu den Vorgängen wahren.

Unter welchen Bedingungen kann die Demokratiebewegung in Syrien siegen?
Diese Frage ist wirklich allgemein und ungenau. Es gibt viele Bedingungen, die mitbestimmen werden, ob der künftige Staat demokratisch sein wird oder nicht – viele ineinandergreifende und miteinander verwobene Faktoren, darunter vor allem die Art und Weise, wie das syrische Regime stürzen wird. Je mehr die Gewalt eskaliert und sich die dschihadistischen islamischen Organisationen ausbreiten, desto geringer sind die Erfolgschancen für die demokratischen Strömungen, und je eher der Konflikt einen politischen Charakter annimmt, desto größer werden die Chancen jener Strömungen.

Das syrische Regime herrschte mit dem größtmöglichen politischen Autoritarismus, der sich auf die Geheimdienstapparate und die Kontrolle von Gedanken, Medien und Kommunikationsmitteln stützte. Woher nimmt der Protest in Syrien den langen Atem?
Viele Dinge sind daran beteiligt, dass die Proteste in Syrien andauern, obwohl das Regime auf das Mittel militärischer Kriegsführung zurückgreift. Vor allem die Religiosität spielt eine Rolle, da, wo sie gegenüber einem erbarmungslosen Nihilismus wie dem Nihilismus des syrischen Regimes den sichersten kulturellen Rückhalt bildet. Hinzu kommen die verwandtschaftlichen Beziehungen in der Bevölkerung, denn auch sie sind wichtig für Zusammengehörigkeitsgefühl, Solidarität und Beharrungsvermögen.

Welche Errungenschaften der neu erwachten Zivilgesellschaft sehen Sie als besonders hoch an?
Genau genommen kann man im Zusammenhang mit der politischen Lage in Syrien nicht von einer voll ausgeprägten „Zivilgesellschaft“ sprechen, dies ist noch verfrüht, aber zu den wichtigsten Errungenschaften der Protestbewegung gehört, dass sich die Syrer als selbständige Wesen begreifen, die sich der herrschenden politischen Kontrolle entziehen und ihr sogar entgegentreten.

70 Prozent der Syrer sind unter 30 Jahre alt, sie sind der Motor der Revolution. Sehen Sie einen Generationenkonflikt? Wie kann man die politische Teilhabe der jungen Träger/innen der Revolution sichern?
Die Erfahrungen in Tunesien und Ägypten zeigen, dass eine bestimmte Gruppe durch öffentlichen Protest allein nicht zu ihrem Recht kommt, solange sie sich nicht zu politischen Organisationen mit klaren Zielen und Programmen zusammenschließt. Die traditionellen politischen Parteien werden im Augenblick der Wahlen die Macht gewinnen. Die Jugendströmungen müssen das Klagen und Nörgeln hinter sich lassen und stattdessen politische Organisationen gründen, die sich an der Regierung beteiligen können. Das ist die einzige Gewähr für ihre Rechte. 

Der revolutionären syrischen Intellektuellen- und Kunstszene ist vorgeworfen worden, den immer stärkeren Konfessionalismus der Auseinandersetzungen zu ignorieren. Wie sehen Sie das?
Das ist teilweise richtig. Es gibt zwei Herangehensweisen bei der Behandlung des Konfessionalismusproblems in Syrien. Die erste ist wertfrei-abstrakt, sie sieht den Konfessionalismus für die Situation in Syrien als vorübergehend und bedeutungslos an. Die andere Richtung betrachtet den Konfessionalismus als den einzigen Schlüssel zum Verständnis der syrischen Lage.

Wenn wir die Absolutheit dieser beiden Ansätze hinter uns lassen und die syrischen Verhältnisse genauer unter die Lupe nehmen, werden wir sehen, dass es tatsächlich ein tiefgreifendes und ernstes Konfessionenproblem in Syrien gibt. Der syrische Volkskörper leidet unter zahlreichen Wunden, und ich kann nicht sagen, ob ihre Heilung im nationalen Kontext möglich sein wird. Dabei ist der Konfessionalismus kein Produkt syrischer Geheimdienste, wie manche behaupten, denn es gab einen stillen und latenten Konfessionalismus in Syrien schon vor dem Baath-Regime. Um es genauer zu sagen: Das Baath-Regime konnte das Konfessionenproblem in einer Weise instrumentalisieren, die ihm Macht, Einfluss und Herrschaft sicherte.

Eine der großen Chancen der syrischen Gesellschaft liegt in dem Potential der vielen Menschen, die aktiv geworden sind und sich am Aufbau eines demokratischen Staates beteiligen wollen. Wie kann eine internationale Unterstützung hier aussehen? Was kann eine Organisation wie die Heinrich-Böll-Stiftung tun?
Auf diese Frage weiß ich keine Antwort.

Was erwarten Sie für den Fall, dass Assad gestürzt wird?
Ich bin, offen gesagt, pessimistisch in meinen Aussichten für die syrische Zukunft. Es gibt siebzigtausend Tote, Millionen von Flüchtlingen, Tausende von zerstörten Häusern. Syrien durchläuft zurzeit die schwierigste Phase seiner gesamten politischen Geschichte. Für Syrien etwas vorherzusagen und zu prophezeien ist sehr schwierig. Ich erwarte ein zersplittertes und erschöpftes Syrien, geführt von einem gescheiterten Staat, der nicht in der Lage ist, seine Herrschaft über das gesamte Staatsgebiet auszudehnen.


Aus dem Arabischen von Christine Battermann