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"Die syrischen Intellektuellen spielten eine wesentliche und einflussreiche Rolle für die syrische Straße"

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Zu Beginn der syrischen Revolution hielt sich Hiba Alansari in Damaskus auf. Sie beteiligte sich an Demonstrationen und wurde zweimal verhaftet. Aus Angst getötet oder abermals verhaftet zu werden verließ sie Syrien. Zur Zeit arbeitet die Künstlerin an Installationsprojekten über die syrischen Gefängnisse und die Kinder aus dem Flüchtlingslager in Nordsyrien.


Wie sind Sie auf die Stiftung aufmerksam geworden?
Über einen Freund, der bereits ein Stipendium von ihr erhalten hatte.

Warum haben Sie Syrien verlassen?
Weil ich in Gefahr war, getötet oder verhaftet zu werden.

Wie schwierig war der Weg von Syrien nach Deutschland?
Es gab andauernd Gefechte im Zentrum und an den Rändern von Damaskus, und der Weg von Damaskus nach Beirut war schwierig, denn er war voller Militärsperren des Regimes.

Wie ist es Ihnen möglich, Kontakt nach Syrien zu halten? Was wird Ihnen berichtet?
Über Telefon und Internet.

Was können Sie von hier aus bewirken?
Ich kann mich mit den Kunstrichtungen hier vertraut machen, die deutsche Sprache lernen und an künstlerischen Projekten arbeiten.

Wo waren Sie im März 2011 und wie haben Sie den Beginn der Revolution erlebt?
In Damaskus – ich beteiligte mich an einigen Demonstrationen in der Universität und wurde zweimal verhaftet.

Inwiefern haben die fast zwei Jahre andauernden Proteste Sie persönlich verändert?
Ich habe den uneingeschränkten Glauben gewonnen, dass die Völker gegen Tyrannei und Mord etwas ausrichten können. Und ich habe durch den Kriegszustand ausgefallene und neue Vokabeln gelernt.

Haben Sie vor, nach Syrien zurückzukehren?
Ja.

An welchem Projekt arbeiten Sie zurzeit in Langenbroich?
An einem Installationsprojekt über die Gefängnisse mit dem Titel „Einzelzelle 315“. Und an einem Installationsprojekt über das „Nicht-Wissen-wohin“ mit Kindern aus den Flüchtlingslagern in Nordsyrien, unter dem Titel „Haus-Häuser“.

Zu den auffälligsten Merkmalen der syrischen Revolution gehört die starke und aktive Beteiligung der Frauen. Welche Rolle würden Sie den Frauen in der Transition zuschreiben?
Sie sollen am Aufbau eines mulitkonfessionellen demokratischen Staates mitwirken, denn dieser ist zur Konstituierung der Gesellschaft wichtig und unerlässlich. 

Nach fast 50 Jahren Alleinherrschaft einer Familie und einer Partei gibt es in Syrien keine Kultur des kritischen Austausches, der gesellschaftlichen Debatte und der privaten Initiativen - das politische Leben war nahezu tot. Wie groß ist der Einfluss von Schriftstellern und Kulturschaffenden auf die Demokratisierung Syriens?
Die syrischen Intellektuellen spielten eine wesentliche und einflussreiche Rolle für die syrische Straße, indem sie Lieder, Plakate, und Filme schufen, die die Situation, die wir erleben, deutlich machen.

Unter welchen Bedingungen kann die Demokratiebewegung in Syrien siegen?
Es muss einen Pluralismus politischer Parteien geben und ein demokratisches Klima herrschen.

Das syrische Regime herrschte mit dem größtmöglichen politischen Autoritarismus, der sich auf die Geheimdienstapparate und die Kontrolle von Gedanken, Medien und Kommunikationsmitteln stützte. Woher nimmt der Protest in Syrien den langen Atem?
Aus der Sehnsucht nach Freiheit und einem zivilen Staat – und danach, sich von einem verbrecherischen Regime zu befreien, das das Land in ein Schlachtfeld und ein großes Gefängnis verwandelt hat.

Welche Errungenschaften der neu erwachten Zivilgesellschaft sehen Sie als besonders hoch an?
Revolutionszeitungen, revolutionäre Fernsehkanäle, zivile Organisationen, künstlerische Projekte, syrische Gruppierungen, die für eine Übergangsgerechtigkeit sorgen, und eine große Zahl von Filmen und Medienberichten.

70 Prozent der Syrer sind unter 30 Jahre alt, sie sind der Motor der Revolution. Sehen Sie einen Generationenkonflikt? Wie kann man die politische Teilhabe der jungen Träger/innen der Revolution sichern?
Ja, es gibt zwischen den traditionellen politischen Parteien und der Jugendbewegung einen klaren Konflikt über das Denken und die Arbeitsweise. Und es gibt einen deutlichen Konflikt zwischen traditionellem und neuheitlichem Denken zwischen beiden Generationen.

Der revolutionären syrischen Intellektuellen- und Kunstszene ist vorgeworfen worden, den immer stärkeren Konfessionalismus der Auseinandersetzungen zu ignorieren. Wie sehen Sie das?
Einige westliche Medien versuchen, gerade diesen Aspekt in den Vordergrund zu rücken, obwohl er nur schwach ausgeprägt ist. Das Regime hat sich seit Beginn der Revolution bemüht, den Konfessionalismus zu kultivieren und anzuheizen und Konflikte zwischen den Minderheiten heraufzubeschwören, so dass ich sagen kann, dass das Regime das Land an den Rand eines Bürgerkriegs geführt hat. Aber das syrische Volk ist so umsichtig, dass eine konfessionelle Eskalation in Zukunft unwahrscheinlich ist.

Eine der großen Chancen der syrischen Gesellschaft liegt in dem Potential der vielen Menschen, die aktiv geworden sind und sich am Aufbau eines demokratischen Staates beteiligen wollen. Wie kann eine internationale Unterstützung hier aussehen? Was kann eine Organisation wie die Heinrich-Böll-Stiftung tun?
Sie kann die zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützen, sie kann die gebildete Jugend fördern und an ihren Erfahrungen Anteil nehmen.

Was erwarten Sie für den Fall, dass Assad gestürzt wird?
Einen demokratischen, gerechten und freien Staat.


Aus dem Arabischen von Christine Battermann

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