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"Die Welt hat eine Verantwortung für die Demokratisierung Syriens"

Mohammad al-Matroud stand unter Ausreiseverbot, sein Name befand sich auf der Fahndungsliste des Regimes. Über einen von der Freien Syrischen Armee kontrollierten Grenzübergang gelang ihm dennoch die Ausreise in die Türkei. Von Istanbul aus ging es weiter nach Deutschland.

Lesedauer: 18 Minuten

Wie sind Sie auf die Stiftung aufmerksam geworden?
Einrichtungen, die für Menschenrechte und insbesondere die Rechte der Künstler eintreten, sind für uns grundsätzlich interessant. Also hören wir uns um und informieren uns über sie. Von Ihrer Stiftung erfuhr ich durch Freunde, die in enger Verbindung zu Ihnen stehen. So konnte ich mir ein eigenes Bild von ihr machen.

Warum haben Sie Syrien verlassen?
Niemandem auf der Welt bleibt verborgen, wie sehr Staat und Bevölkerung in Syrien seit zwei Jahren unter den Morden und der systematischen Zerstörung durch ein völlig unmoralisches Regime leiden. Auch ich persönlich wurde, wegen meiner Haltung zur Revolution und aufgrund meiner Positionen aus der Zeit vor der Revolution, zum Ziel von Verfolgung und Repressionen, so dass ich schließlich eine reale Gefahr für mein Leben und Überleben sah. Das Stipendium Ihrer Stiftung war für mich der Rettungsanker. Es half mir, die direkte Bedrohung hinter mir zu lassen und als Künstler und Aktivist weiterzuwirken, indem ich die Revolution unterstütze und die Leiden meines Volkes mittrage.

Wie schwierig war der Weg von Syrien nach Deutschland?
Ich stand unter Ausreiseverbot, und mein Name befand sich auf der Fahndungsliste, die an den Checkpoints des Geheimdienstes auslag. Die größte Schwierigkeit machte mir die Strecke von Qamischli nach Tall Abyad. Dort herrschte die Freie Armee, und deshalb war es für mich der einzige Übergang, um in die Türkei zu gelangen. Denn ich hatte mir Istanbul als Durchgangsstation ausgesucht, um von dort aus nach Deutschland weiterzureisen. Wäre ich verleumdet oder denunziert und vom Geheimdienst noch auf syrischem Gebiet verhaftet worden, wäre das mein Ende gewesen. In der Türkei hatte ich keine Schwierigkeiten, außer dass ich aufgehalten wurde, weil ich gerade zu den Oster- und Weihnachtsfeiertagen dort war.

Wie ist es Ihnen möglich, Kontakt nach Syrien zu halten? Was wird Ihnen berichtet?
Ich habe Kontakt nach Syrien über Telefon und soziale Netzwerke, und über visuelle Medien. Dabei erhalte ich viele und verworrene Informationen, größtenteils über das Morden dort und den inzwischen unhaltbaren Lebensstandard. Es sind im Allgemeinen unerfreuliche Informationen und Nachrichten, die einen traurig machen.

Was können Sie von hier aus bewirken?
Ich arbeite an einem Buch über doppelte Identität. Es geht um meine persönliche Erfahrung mit zwei Hauptbestandteilen der syrischen Bevölkerung, den Arabern und den Kurden, denn mein Vater ist Araber und meine Mutter Kurdin. Bei der Beschäftigung mit diesem Thema will ich zeigen, was diese beiden Seiten eint und was sie trennt. Außerdem bemühe ich mich aktiv darum, die syrische Revolution und ihre berechtigten Forderungen nach Freiheit und Gerechtigkeit unter den Deutschen und anderswo bekannt zu machen.

Wo waren Sie im März 2011 und wie haben Sie den Beginn der Revolution erlebt?
Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich als Journalist in Kuwait. Nacht etwa zwei Monaten reiste ich nach Syrien ein und wurde in der Geheimdienststelle eine Woche lang intensiv verhört. Danach fuhr ich in meine Heimatstadt Qamischli, um mich an den friedlichen Demonstrationen dort zu beteiligen. Dadurch waren ich und andere mit Verhören und der Gefahr willkürlicher Verhaftung konfrontiert.

Inwiefern haben die fast zwei Jahre andauernden Proteste Sie persönlich verändert?
Weil die Geheimdienste uns etwa fünfzig Jahre lang so fest im Griff hatten, hatten wir in Syrien Revolutionen nicht für möglich gehalten und geglaubt, wir würden immer Untertanen dieses diktatorischen Regimes bleiben – bis plötzlich die arabischen Revolutionen ausbrachen. Was mich betrifft, so spürte ich nun eine Kraft in mir, wie ich sie zuvor nicht gekannt hatte: die Kraft, das Alltägliche zu Kunst zu machen. Dies hatte Einfluss auf mein Inneres und mein Schreiben. Die Geschehnisse genau schildern können aber wird man erst nach dem Sieg der Revolution, wenn man das Ganze mit den Augen des Kritikers und Wissenschaftlers betrachtet.

Haben Sie vor, nach Syrien zurückzukehren?
Ich leugne nicht, dass mir Deutschland sehr gefällt mit all dem, was ich hier an Ordnung, Recht und Gesetz vorgefunden habe. Aber Syrien ist meine Heimat, das Land, in dem mein Gedächtnis und meine Erinnerungen sich geformt haben. Deswegen habe ich auf jeden Fall vor zurückzukehren, wenn das Regime gestürzt ist und meine Träume von einem demokratischen Staat, der das Recht seines Bürgers auf ein Leben in Würde verwirklicht und ihm sein Recht in allen Lebensbereichen – sozial, politisch und kulturell – garantiert, wahr geworden sind.

An welchem Projekt arbeiten Sie zurzeit in Langenbroich?
Ich arbeite an einer Studie, von der ich oben bereits berichtet habe, nämlich an einem Buch über doppelte Identität. Außerdem an verschiedenen Artikeln über das syrische Problem und an mehreren literarischen Texten.

 

Zu den auffälligsten Merkmalen der syrischen Revolution gehört die starke und aktive Beteiligung der Frauen. Welche Rolle würden Sie den Frauen in der Transition zuschreiben?
Das Regime hat das ganze Leben in Syrien blockiert, davon war auch die Rolle der Frau betroffen. Es befand sich dabei im Einklang mit der vorherrschenden Kultur, in der die Frau zur Hausfrau und Dienerin des Mannes gemacht wird. Die Frau gilt als schwach und unmündig und auf männlichen Schutz angewiesen. Die von den Revolutionen transportierten Werte jedoch widersprechen dem Mainstream, der das Leben – und die Frau als aktiven und lebendigen Teil des Lebens – blockiert hat. So erhielt die Frau eine führende Position und gewann etwas von ihrem Glanz zurück, indem sie gegen die herrschende Kultur aufbegehrte, die sie ihrer Rechte beraubt hatte. Ihre Jubelschreie erklangen neben denen des Mannes, und sie kämpfte sogar in den militärischen Verbänden mit, um ihr Leben und das ihrer Familie zu verteidigen. Die Frau ist also bereits ihrer gesellschaftlich festgelegten Rolle entwachsen und hat zu handeln begonnen, und nun wartet noch eine neue Rolle auf sie: Sie soll aus dem Rahmen von Erziehung und Hausarbeit ausbrechen und an der Leitung der Gesellschaft mitwirken. Dabei soll sie administrative und politische Aufgaben übernehmen wie den Aufbau einer ausbalancierten Gesellschaft mit richtigen Gesellschaftsverträgen, damit die breiten Massen von den Errungenschaften der Revolution profitieren. Dies gilt besonders für die Phase, die auf den Sturz des Regimes folgt, denn sie wird unruhig und voller Ungewissheiten sein. Daher muss man alle Anstrengungen bündeln, und die Frau muss eine größere Rolle spielen als eben nur in der arabischen Region Frau zu sein.

Nach fast 50 Jahren Alleinherrschaft einer Familie und einer Partei gibt es in Syrien keine Kultur des kritischen Austausches, der gesellschaftlichen Debatte und der privaten Initiativen – das politische Leben war nahezu tot. Wie groß ist der Einfluss von Schriftstellern und Kulturschaffenden auf die Demokratisierung Syriens?
Meiner Meinung nach war das öffentliche Leben in dieser Zeit vollkommen überschattet von der Alleinherrschaft der einen Familie und der Umwandlung Syriens zu einer Zucht- und Brutanlage für das Kapital der einflussreichen Leute aus der Herrscherfamilie und ihrer räuberischen Anhänger. Zudem war es einem totalitären Geheimdienstregime unterworfen, das mit der Behauptung, es bemühe sich um ein strategisches Gleichgewicht mit einem mutmaßlichen Feind, mit der Gewalt des Militärstiefels seine Widerstandsparolen unter den Menschen verbreitete. Aus dieser Besorgnis (oder diesem Wahn) heraus erfand es Gesetze, darunter das Ausnahmezustandsgesetz und darauf aufbauend das Gesetz zur Terrorbekämpfung, um gegen jeden, der ihm nicht passte, unspezifische Beschuldigungen zu erheben und ihn ohne Prozess oder Verhör ins Gefängnis zu sperren, wo manche zwanzig Jahre ausharren mussten.

Dieses Mundtotmachen würgte jede Kritik ab und beschränkte jede Initiative auf die jeweilige Person und die ihr Nahestehenden, also auf ein ganz enges Umfeld. Wir alle wissen, dass man Erfinder und wissenschaftliche Impulsgeber in finstere Kerker warf, statt sie zu belohnen und zu unterstützen; dass man die Kapitel über die Schwer- oder Waffenindustrie aus den Lehrbüchern der Universitäten tilgte; dass Geheimdienste und die Arabisch-Sozialistische Baathpartei, die man zur Führerin von Staat und Gesellschaft erklärt hatte, dem politischen Leben in Syrien enge Grenzen setzten. Unterstützt wurden sie dabei von der sogenannten „Nationalen Progressiven Front“. Diese bestand aus Parteien, deren Führung man unter Kontrolle hatte und die so in Wirklichkeit nur Zerrbilder von Parteien (die doch eigentlich eine Führungsrolle in Staat und Gesellschaft innehaben sollten) darstellten. Im Schatten dieses Aneignungsprozesses wurde auch der Bereich der Kultur ausgeschaltet.

Der Schriftsteller war das häufigste Opfer gewaltsamer Unterdrückung und Verfolgung, und es konnte sich in Syrien keine Intellektuellenszene herausbilden, auf die er sich hätte stützen können. Besonders schlimm war, dass einige Schriftsteller von Kunstschaffenden zu Profiteuren und Spitzeln mutierten, die ihre Schriftstellerkollegen denunzierten, wenn diese das Regime kritisierten und es, um Reformen anzustoßen, als ungläubig brandmarkten. Heute jedoch, nach der revolutionären Bewegung, gilt der Schriftsteller als derjenige, der die Initiative zur Veränderung anführen und die kommende Phase theoretisch untermauern soll. Die Phase nämlich, die sich mit der wichtigsten Änderungsforderung befasst: der Demokratisierung als freiem Willen des Volkes und hinreichender Bedingung für den Aufbau eines zivilen pluralistischen Staates, der allen ihre Rechte sowie die Gleichheit ihrer Rechte und Pflichten garantiert.

Unter welchen Bedingungen kann die Demokratiebewegung in Syrien siegen?
Das syrische Volk ist seinem Charakter nach zivil, nicht sehr fromm, es neigt eher dem Säkularismus zu und ist in seinen Bekenntnissen gemäßigt. Dies bedeutet, dass Dinge, die in einer anderen Gesellschaft die Entwicklung und den Verlauf des Demokratisierungsprozesses beeinträchtigen könnten, sich hier nicht durchsetzen werden. Das Regime hat sich sehr angestrengt, die syrische Gesellschaft zu deformieren und rassische, konfessionelle und ideologische Schranken und Grenzen zwischen den einzelnen Bevölkerungsteilen zu errichten. Aber immer stand ihm dabei das Bewusstsein des Syrers im Wege, der stets dafür eintrat, sein Leben weiterzuführen und seine guten Beziehungen zu seiner Umwelt aufrechtzuerhalten. Wer den Verlauf der Proteste in den ersten Monaten verfolgt hat und sich die Parolen und Spruchbänder ansieht, erkennt sofort, wie sehr sich die Syrer nahezu fünfzig Jahre lang bemüht haben, sich ihr Wesen zu erhalten und es gegen die Maßnahmen des Assad-Regimes zu immunisieren.

Heute, während der Revolution, spricht man von einer „gestohlenen Revolution“, und das mag stimmen oder nicht. Aber dass die Krise, das Töten, die Gräueltaten und Übergriffe durch das Regime sich so in die Länge ziehen, muss einfach zu Gegengewalt führen. Sie ist eine Folge der Taten des Regimes selbst, das der Welt weismachen will, die Gewalt sei wechselseitig, um sie damit auf seine Seite zu ziehen. Und diese Welt sieht gefühllos und mit abgestumpfter Moral der Tragödie zu und wirkt auf effektive Weise an der Ermordung der syrischen Kinder mit, der Generation der Zukunft und der Hoffnung des Landes für einen kommenden demokratischen Staat. Dabei hat die Welt eine Verantwortung für die Demokratisierung Syriens. Sie sollte die Bedingungen schaffen, die nötig sind für diesen Wandel – besonders nach dem besorgniserregenden wirtschaftlichen Niedergang –, für die Rettung von Menschenleben und für die in der Vergangenheit völlig zerschlagene Infrastruktur. Stabilität in diesem Land bedeutet Stabilität in den umliegenden Ländern, und damit eine Dezimierung der Spannungsherde in der Welt insgesamt.

Das syrische Regime herrschte mit dem größtmöglichen politischen Autoritarismus, der sich auf die Geheimdienstapparate und die Kontrolle von Gedanken, Medien und Kommunikationsmitteln stützte. Woher nimmt der Protest in Syrien den langen Atem?
Trotz der Gewalt, die das Regime im Laufe seiner Herrschaft angewandt hat, hat der syrische Mensch nie aufgehört, Ideen zu produzieren, der Welt in kreativer und gedanklicher Hinsicht etwas zu schenken und kulturelle und gesellschaftliche Visionen zu entwickeln, die den Grundstein für regelrechte Brutstätten der sogenannten „Optionen der Opposition“ legten. Auch wenn diese äußerst geheim waren und ihre Gedanken in Form verbotener Veröffentlichungen verbreitet wurden, bewiesen sie doch klar, dass da etwas zur Unterstützung der reinen weißen Werte – wenn der Ausdruck erlaubt ist – heranwuchs, die immer weiter ans Licht drängten, trotz aller Blockaden und aller Trägheit, und obwohl einem manchmal nichts mehr einfiel als Jammern und Wehklagen. Denn nun ließ man die Wehklagen hinter sich und schritt zur Tat.

Verschiedene Leute und charismatische Persönlichkeiten erschienen auf der Bildfläche, an die die syrische Jugend sich anlehnte und die sie sich zum Vorbild nahm. Von den Protesten in Syrien ist bekannt, dass sie gleich in den ersten Tagen mit gewaltsamer Unterdrückung, Mord und Verhaftungen beantwortet wurden. Aber die Syrer gingen nicht von ihren Forderungen ab, sondern begannen, das Regime und seine lächerlichen Irrtümer zu verspotten. Die Welt braucht sich nur einmal die Spruchbänder von Kafranbel im Gouvernement Idlib oder in Amude im Gouvernement al-Hasaka anschauen, um zu sehen, wie bewusst und kenntnisreich die Syrer der Grausamkeit des Regimes entgegentreten. Ja, Zerstörung und Mord haben unvorstellbare Ausmaße angenommen, aber der Syrer kann nicht mehr zurück. Und zwar nicht, weil er sich verirrt hätte, sondern weil ein Zurück Selbstmord und den Sieg des Tyrannen bedeuten würde, der nicht zu Syrien gehört und den der syrische Bürger nicht als solchen betrachtet, denn für ihn lautet die Gleichung einfach: Herr und Diener. Das ist die Grundlage seiner Beziehung zu seinem Volk.

Welche Errungenschaften der neu erwachten Zivilgesellschaft sehen Sie als besonders hoch an?
Es ist bekannt, dass das Regime in Syrien den Syrern vor dem Konzept der Zivilgesellschaft Angst gemacht hat, denn dieses hätte die Aufsichtsfunktion Staates in Frage gestellt. Hätte sich dieses Konzept weiter durchgesetzt, dann hätte dies seine Existenz als besonders besorgtes und mit Hilfe der Geheimdienste Sicherheit verbreitendes Regime bedroht. Deshalb betrachtete man die Frage nach einer Zivilgesellschaft als eine Art Ketzerei. Und was das Konzept einer islamischen Gesellschaft betrifft, so war der, der daran glaubte, in den Augen des Regimes ein ganz und gar unmoralischer, fast schon tierischer Mensch ohne jegliche Tabus.

Zivilgesellschaft bedeutet bekanntermaßen, nach der Beziehung zwischen Rechten und Pflichten zu suchen. Und sie regelt die gegenseitige Einflussnahme von Gesellschaft und Regierungsinstitutionen mit Hilfe strenger Gesetze. Diese Gesetze messen Begriffen wie „Jugend“, „Frau“, „Entwicklung“, „Staat“ und „staatliche Institutionen“ größtes Gewicht bei und betrachten sie als Grundlage dafür, dass man in einer durch das Volk und zivil legitimierten Gesellschaft aktiv sein kann und das Recht genießt, sein Leben zu führen und mit gültigen Werten und Gesetzen zu schützen. Sie bilden damit einen Rahmen für politische Vielfalt und verhindern so, dass es zu einer weiteren Willkürherrschaft kommt. In Syrien, das aus vielen Bevölkerungsteilen bzw. Minderheiten besteht und wo es keinerlei politischen Pluralismus gibt, sind auch die Rechte kaum wahrnehmbar. Ich meine hier religiöse, ethnische und kulturelle Rechte, die völlig außer Kraft gesetzt sind. Das Problem beginnt schon damit, dass man diesen Rechten keine Beachtung schenkt. Dabei sollte man gerade ihre Vielfalt als gesund betrachten und etwaige Probleme im Rahmen der Einheit angehen, nicht jedoch mit „Nationalismus“ oder dem Konzept von einem „Nationalstaat“, wie ihn das Regime zu seiner Devise erhoben hat, hinter der es sich aus Furcht vor den Ansprüchen der Zivilgesellschaft verschanzen konnte.

Hier sind besonders die Minderheiten zu nennen, die danach streben, sich durch verschiedene Zeichen abzuheben und ihre Kultur zu leben, wie Ghassan Salamé sagt: „Es gibt politisch aktive und unterwürfige Minderheiten, Minderheiten, die danach streben, das ‚minderheitliche‘ Bewusstsein und ihre eigene Identität zu wahren, und andere, die eher bereit sind, sich in starker Weise gesellschaftlich und politisch zu integrieren.“ Ob die Institutionen der Zivilgesellschaft in Syrien ihre Rolle übernehmen, ist meiner Meinung nach abhängig von der Beendigung der Krise zwischen einem Regime, das, selbst über die Leichen von 23 Millionen Syrern hinweg, an seinem Stuhl festhält, und einem Volk, das in der Befreiung von der Diktatur die Erfüllung seiner Sehnsüchte und die Garantie seiner Rechte sieht. Deshalb richtet es sich sein Haus wieder ein und erschafft seine Institutionen neu, darunter auch die Zivilgesellschaft mit ihrem Konzept, das offen ist für einen gesunden Dualismus zwischen Regierendem und Regiertem – nachdem man die Bürokratie zur Ader gelassen hat.

70 Prozent der Syrer sind unter 30 Jahre alt, sie sind der Motor der Revolution. Sehen Sie einen Generationenkonflikt? Wie kann man die politische Teilhabe der jungen Träger/innen der Revolution sichern?
Als sich die Revolution in Syrien erhob, und davor in Tunesien, Ägypten und, in geringerem Maße, in Libyen, waren wir der Ansicht, die jungen Leute dieser Altersstufe beschäftigten sich nur mit Mode und Technik und deren Triumphen, viele Angelegenheiten jedoch lägen außerhalb ihres Interesses. Aber zu unserer Überraschungen waren sie kulturell sehr aktiv – sie schrieben, waren künstlerisch tätig und komponierten Lieder – und vergegenwärtigten sich die menschliche Geschichte, um das Erfahrene zu verstehen.

Wenn sie für diesen Wendepunkt in der Geschichte ihrer Völker viel leisten, kann man – dies zum Generationenkonflikt – schon aufgebracht darüber sein, dass diejenigen, die davon profitieren, aus den anderen Generationen kommen, die sich selbst wohl als Anführer der Bewegung bezeichnen würden. Sie würden die Überraschung, die wir bei der Jugend erlebt haben, nicht teilen, sondern den vor der Revolution geltenden Ansichten treu bleiben. Denn diese Ansichten rechtfertigen jetzt, dass in den Gruppierungen der politischen Opposition das jugendliche Element fehlt. Sonst sehen wir die Jugend meist in vorderster Front, sei es bei den friedlichen Demonstrationen oder, nachdem sich die Revolution aufgerüstet hat, im Kampf. Wenn ich all dies auch erwähne, so bin ich dennoch in gewisser Weise optimistisch, dass die Jugend, die zu Beginn der Revolution einen solch unerwarteten Heldenmut bewiesen hat, fähig ist, sich zum Zeitpunkt des endgültigen Sieges der Revolution ihre Rechte zu sichern. Und damit sichert sie sich nicht nur ihr Recht, sondern sie kämpft auch dafür, dass die Errungenschaften der Revolution legalisiert werden und dass aus dem gestohlenen Staat ein echter Staat gemacht wird – als Konzept mit allen erforderlichen Komponenten.

Der revolutionären syrischen Intellektuellen- und Kunstszene ist vorgeworfen worden, den immer stärkeren Konfessionalismus der Auseinandersetzungen zu ignorieren. Wie sehen Sie das?
Vielleicht ist dieses Ignorieren – einmal angenommen, dass es eine Konfessionalisierung wirklich gibt – auf die Abwesenheit des Intellektuellen und Künstlers in einer Phase zurückzuführen, in der nur der Politiker und Intellektuelle zum Zuge kam, der der Macht und ihren vorherrschenden Projekten nahestand. So konnte sich keine kulturelle Elite herausbilden, die fähig gewesen wäre, etwas zu verändern oder Veränderungen zu verlangen. Die Intellektuellen blieben vereinzelt, es gab keine Koordinierung zwischen ihnen. Damit liegt dieses Ignorieren entweder daran, dass die Intellektuellen historisch gesehen keine Rolle spielten, oder aber an der zeitweiligen Unordnung und den unklaren Konturen dieses Kampfes. Und es stellt sich nun die Frage: Ist dieser Konfessionalismus in der syrischen Gesellschaft grundlegend und fest verwurzelt? Und sieht dieses Problem dadurch, dass es nicht wie andere Probleme angegangen und gelöst wird, aus der derzeitigen Randposition des Intellektuellen heraus zu schwarz und bedrückend aus? Denn der Intellektuelle steht am Rande, wo er mal ängstlich auf seinen Vorteil bedacht erscheint und mal, als dünke er sich erhaben über die gegenwärtige Bewegung, die ihn nur insoweit beschäftigt, dass er elende Theorien über Allgemeinheiten anstellt, ohne in die Tiefe zu dringen und ohne Lösungen und mögliche Vorgehensweisen zu benennen.

Eine der großen Chancen der syrischen Gesellschaft liegt in dem Potential der vielen Menschen, die aktiv geworden sind und sich am Aufbau eines demokratischen Staates beteiligen wollen. Wie kann eine internationale Unterstützung hier aussehen? Was kann eine Organisation wie die Heinrich-Böll-Stiftung tun?
In der gegenwärtigen syrischen Krise trägt die Welt ohne Zweifel eine moralische Verantwortung. Außerdem hegt sie zusammen mit den syrischen Menschen den dringenden Wunsch nach einem demokratischen System und staatlichen Strukturen. Und danach, diese Strukturen (Justiz, Bildungswesen, Bürgerrechte, Gewaltenteilung usw.) zu verteidigen, denn sie sollen dem Syrer garantieren, dass der nach Baschar al-Assad zu errichtende Staat ein demokratischer wird.

Dies wird nicht durch Zauberei geschehen, sondern nur, wenn die Welt sich in den Aufbauprozess einbringt und den Syrern hilft, ihr gesamtes öffentliches Leben neu zu strukturieren. Die humanitären Organisationen und die Organisationen der Zivilgesellschaft sind aufgerufen, diesem neu entstehenden Staat zur Seite zu stehen, der einen sehr hohen Preis für das bezahlt hat, was man in einem demokratischen Staat braucht. Die Heinrich-Böll-Stiftung, die zur Zeit eine bedeutende Rolle dabei spielt, Kräfte zu fördern, die die Werte von Recht und Demokratie gewährleisten, kann dabei helfen, diese Werte die Oberhand gewinnen zu lassen. Sie kann jugendliche Kräfte aus dieser spannungsgeladenen Region dabei unterstützen, eine führende Rolle in der Gesellschaft zu spielen und damit einen zivilisatorischen, aufklärerischen und humanitären Einfluss auszuüben. So schafft man eine gewisse kulturelle Verbundenheit zwischen Deutschland und diesen Staaten, die eine Neuordnung für sich anstreben, wie sie die freie und zivilisierte Welt, u. a. Deutschland, propagiert.

Was erwarten Sie für den Fall, dass Assad gestürzt wird?
Ich verfüge trotz all der Übergriffe, die ich in Syrien auf allen Seiten sehe, über eine gehörige Portion Optimismus. Ich bin der Meinung, dass der Sturz Assads das Ende einer langen Zeit weltweit einzigartiger Willkürherrschaft, Unterdrückung und Korruption bedeutet. Die Grausamkeit, mit der erst der Vater und dann der Sohn das syrische Volk behandelt haben, wird gewiss zu Krisen führen und zahlreiche Krankheiten zum Vorschein bringen, gleichzeitig aber wird der verwundete, gequälte und hungrige Syrer sich danach sehnen, sein Unglück zu überwinden, nicht aber danach, neue Krisen heraufzubeschwören. Dies wird vielleicht seine Zeit brauchen, aber, wie ich glaube, keine allzu lange Zeit.


Aus dem Arabischen von Christine Battermann

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