Bei den erstmals zu einer Präsidentschaftswahl abgehaltenen Vorwahlen am vergangenen Sonntag (30. Juni 2013) erzielte Ex-Präsidentin Michelle Bachelet für die Sozialistische Partei rund 73% der Stimmen. Damit setzte sie sich gegen ihre drei Mitbewerber Andrés Velasco, Claudio Orrego und José Antonio Gómez als Kandidatin des Oppositionsbündnisses Concertación für die Präsidentschaftswahlen im November durch.
Eine Überraschung war es allerdings nicht: Dass Michelle Bachelet fast dreiviertel der Stimmen auf sich vereinigen würde, übertraf zwar die Erwartungen zahlreiche Beobachter, außer Frage stand dennoch, dass sie als Kandidatin des Concertación-Lagers gewählt werden würde.
Spätestens mit ihrer lang ersehnten und triumphal inszenierten Rückkehr aus New York im März 2013, wo sie nach dem Ausscheiden aus ihrem Präsidialamt 2010 als Unter-Generalsekretärin die UN-Women (UN-Behörde für Geschlechtergleichstellung und Empowerment) leitete, wurde klar, dass die zuvor von ihrer Partei mehr oder weniger unter der Hand formulierten Erwartungen auf eine erfolgreiche erneute Kandidatur sowohl durch Umfragen wie wohl auch durch interne Absprachen mehr als gedeckt sein würden. Schon 2010 hätte Bachelet, wenn die Verfassung dies zulgelassen hätte, bei einer erneuten Kandidatur das Amt gehalten.
Der Vorlauf zur Bachelet-Rückkehr
Die als historische Zäsur wahrgenommene Abwahl der Concertación und der Wahlsieg des konservativen Sebastian Piñera 2010 hatte den Charakter einer Abrechnung des Wahlvolkes mit einer in 20 Regierungsjahren verbrauchten Reformregierung: Seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 hatte die Concertación, vor allem ab der Jahrtausendwende, gefühlt und tatsächlich zu wenige Reformen für die Demokratisierung und gegen die frappierende Ungleichheit der Gesellschaft angestossen. Bis heute ist Chile das Land mit einer der spektakulärsten Reichtumskonzentrationen und den höchsten Einkommensdifferenzen in der Region und weist, trotz kontinuierlicher Reduzierung der offiziellen Armutsraten, einen der größten Niedriglohnsektoren des Kontinents auf. Deshalb ist in der konsequent durchprivatisierten und monopolartig organisierten sozioökonomischen Realität Chiles für viele Bürger/innen ein angemessenes Bildungsangebot, eine bezahlbare Gesundheits- oder eine akzeptable Altersvorsorge kaum oder nur unter einer sich immer schneller drehenden Schuldenspirale zu finanzieren.
Bachelet als Antidot zur Reformresistenz
Bei den Wahlen 2010 blieben denn auch viele Anhänger/innen des Concertación-Lager resigniert schlicht zu Hause, während viele Wähler/innen dem auf die politischen Mitte fokussierten Kandidaten Piñera eine Chance gaben. Die Reaktion der Concertación auf diese Wahlschlappe war bemerkenswert kurzsichtig: Nach einem Moment der Ungläubigkeit und des Entsetzens, verfiel das traditionelle Parteienspektrum des links-progressiven Lagers in eine Art reformresistente Lethargie, die nicht nur eine personelle, sondern auch die programmatische Neuaufstellung verhinderte. Ermutigt von den abstürzenden Umfragewerten des neuen Präsidenten und der anhaltend hohen Zustimmung für die verfassungsgemäß scheidende Bachelet, zogen sich die Concertación-Parteien in ihren oppositionellen Elfenbeinturm zurück und bauten vor allem auf eine Rückkehr und Wiederwahl ihrer Präsidentin vier Jahre später.
Der Effekt der Protestbewegungen
So ist es nicht verwunderlich, dass die Concertación selbst ebenso wie die konservative Regierung von der Intensität der großen Protestbewegungen ab 2011 überrascht wurde und gleichfalls zur Zielscheibe des wachsenden Unmutes großer Bevölkerungsteile mutierte. Während die Piñera-Regierung sich einerseits sichtlich schwer tat, die Forderungen nach einer Bildungsreform zu verstehen und in der Sache aufzugreifen, reagierte sie andererseits – trotz einiger maßloser Polizeiübergriffe und sehr zum Ärger eines Teils ihrer konservativen Gefolgschaft – verhältnismäßig gelassen, wenn auch unnachgiebig. Das Concertación-Lager wiederum bewies seine Geschicklichkeit darin, sich mit zahlreichen Ideen und kurzfristig entwickelten Vorschlägen rhetorisch an die Spitze der Protestbewegung zu stellen und tiefgehende Reformen einzufordern sowie, für den Fall ihrer Wiederwahl, anzukündigen.
Umwerben der Studentenbewegung
Zu den Kommunalwahlen im vergangenen Oktober war das Bündnis sogar noch bereit, mit offenen Vorwahlen und der Einbeziehung studentischer und Bürger/innen-Kandidaturen ihre Bürgernähe und ihren Reformwillen zu unterstreichen – was auch prompt zur Abwahl eines historischen, rechten Bürgermeisters in der Santiaguiner Kommune Providencia führte.
Einige der unabhängigen Studentenführer und auch Akteure aus dem Spektrum sozialer Bewegungen machten sich infolgedessen mit Blick auf die nun abgehaltenen Vorwahlen Hoffnungen auf eine Wiederholung des demokratisierenden Experimentes. Insbesondere einer der Köpfe des Studenten-Protestes von 2011, Giorgio Jackson, hatte sich mit seiner Plattform Revolución Democrática bereits Ende 2012 der Concertación genähert und deutlich für eine Parlamentskandidatur in Santiago-Stadt positioniert. Er warb um eine Teilnahme bei den Vorwahlen der Concertación als unabhängiger Kandidat. In den ersten Wochen nach ihrer Rückkehr aus New York schien Michelle Bachelet denn auch in zahlreichen Ankündigungen und Formulierungen direkt oder indirekt auf die Bewegung zuzugehen – etwa, als sie ihre ersten Aussagen zur fokalisierten Bildungsfinanzierung für Arme korrigierte und ein universelles Recht auf Bildung zum zentralen Kern ihrer Bildungsreform definierte.
Die Absage an studentische Kandidaturen
Im April allerdings erteilten die Parteigranden der Concertación Giorgio Jacksons und anderen Bürger/innen-Kandidaten dann eine deutliche Absage. Offenkundig hatten die ersten Wochen der landesweiten Bachelet-Tournee und Umfragen bereits in aller Deutlichkeit ihren guten Chancen unterstrichen. Wenn auch für einige Beobachter/innen nicht ganz unerwartet, kam damit das Demokratie-Experiment zu einem abrupten Ende. Giorgio Jackson tritt nun, ebenso wie Gabriel Boric, Daniela Lopez und Francisco Figueroa – also weitere Exponent/innen der unabhängigen Studentenbewegung, mit der die Böll-Stiftung zum Teil auch zusammenarbeitet – als unabhängiger Kandidaten/innen an. Dies tun sie jedoch mit ziemlich wagen Erfolgsaussichten.
Privilegierte Kommunisten
Weitaus besser stellen sich da die Studentenführer/innen der Kommunistischen Jugend Camila Vallejo, Karol Cariola und Camilo Ballesteros auf. Nachdem die chilenische KP und die Concertación im März einen Wahlpakt und damit die Unterstützung der Concertación-Kandidaten durch die KP unterzeichnet hatte, wurden alle drei als Kandidat/innen für die Parlamentswahlen im November auf einigermaßen aussichtsreichen Plätzen aufgestellt. Im Gegenzug riefen sie unlängst in einem heftig diskutierten Videospot auch zur Unterstützung von Michelle Bachelet in den Vorwahlen auf. Besonders schwer wird dies Camila Vallejo gefallen sein, die noch vor nicht allzu langer Zeit derartige Wahlkampfhilfe für Bachelet und die Concertación kategorisch ausschloss. Doch nun gehe es um ein gemeinsames Projekt der Concertación (inklusive KP) für ein neues Bildungssystem, mehr Arbeitnehmerrechte und eine neue Verfassung.
Die Grenzen des Reform-Enthusiasmus
Doch wie weitreichend und tief dieses gemeinsame Reform-Projekt gehen wird, ist die zentrale Frage nach den gestrigen Vorwahlen: Bestätigt wurde innerhalb ihres Lagers nicht nur Bachelet mit überwältigender Mehrheit. Auch der konservativ-wirtschaftsliberale Andres Velasco, ihr ehemaliger Finanzminister, erzielte als Gegenkandidat unerwartet üppige 13%, während der ansonsten recht überzeugende, christlich-sozial orientierte Christdemokrat Claudio Orrego nur enttäuschende 8,8% und der linksprogressive Radikale Jose Antonio Gómez gerade einmal knapp 5% erreichten. Damit ist schon innerhalb des Concertación-Lagers eine politische Richtungswende offenkundig. Bachelets Reform-Rhetorik wird in den nächsten Wochen noch einen gewissen Feinschliff hin zur vermuteten politischen Mitte erhalten.
Rechte Gegenkandidaten
Verstärkt wird dieser Effekt gewiss durch die Wahl des rechten Präsidentschaftskandidaten: Auch die „Alianza“ aus rechter, zum Teil noch pinochetistischer Bewegung UDI (Unión Demócrata Independiente) und liberalerer RN (Renovación Nacional), bot am Sonntag erstmalig die Möglichkeit einer Vorwahl und zwei konkurrierende Kandidaten auf. Andrés Allamand, Kandidat von Präsident Piñera und seiner RN, präsentierte seine Kandidatur mit eher sozial-liberalen Nuancen und erzielte tatsächlich vor allem in den entlegeneren Regionen des Landes und den ärmeren Kommunen des Großraums Santiago deutliche Erfolge. Sein UDI-Konkurrent Pablo Longueira gewann jedoch mit einem klar rechtskonservativen Profil und knapp 20.000 Stimmen Vorsprung vor allem in den drei reichsten Kommunen des Landes im Osten von Santiago: Vitacura, Las Condes und Lo Barnechea. Dort lebt die ökonomische Elite beinahe physisch abgeschottet von den Realitäten Chiles in einem bemerkenswerten Wohlstand.
Einerseits verbessert die Wahl des rechteren Longueiras im aktuellen politischen Moment Chiles Bachelets Chancen selbstredend, andererseits wird sie nun deshalb auch ihren Reformdiskurs auf die Wähler in der Mitte einstimmen müssen. Damit ist klar, dass eine wie auch immer geartete Bildungs-, Gesundheits- oder Rentenreform kaum den vollmundigen Versprechungen ihres eigenen Lagers vor noch wenigen Monaten entsprechen wird und sie ihre Strategie bereits in den kommenden Wahlkampfmonaten daran anpassen muss.
Die Kampagne „Marca tu Voto“
Besonders interessant werden die kommenden Monate und Bachelets mögliche Strategie mit Blick auf die Bemühungen um eine Verfassungsreform via verfassunggebender Versammlung, die seit April in der Kampagne „Marca tu Voto – Por una Asamblea Constituyente, AC“ ("Markiere Deinen Stimmzettel – Für eine Verfassunggebende Versammlung AC") von einer breiten und medial außerordentlich erfolgreichen Bürger/innen-Bewegung auf die politische Agenda gehievt wurde.
Diese Kampagne, unter anderem von Partnern aus dem Umfeld der Heinrich-Böll-Stiftung ins Leben gerufen, hat mittlerweile zahlreiche zum Teil namhafte Unterstützer/innen aus Politik, Wissenschaft, Kunst, Kultur, sozialen Bewegungen und auch der Studentenbewegung. "Marca tu Voto" ruft nach dem Vorbild der kolumbianischen Initiative von 1991 ebenfalls dazu auf, bei den Wahlen im November neben der Kandidat/innenpräferenz auch den Wunsch nach einer Asamblea Constituyente mit einem „AC“ auf dem Stimmzettel zu markieren. Laut geltendem Wahlrecht haben Stimmzettel bei eindeutiger Erkennbarkeit der Präferenz Gültigkeit, müssen aber gesondert gezählt werden.
Damit ließe sich den institutionellen Blockaden für eine Verfassungs-Reform und eine verfassunggebende Versammlung zumindest ein eindeutiges politisches Signal seitens des Wahlvolkes entgegensetzen, das von der politischen Elite nicht länger ignoriert werden könnte. Im bürgerkriegsgeschüttelten Kolumbien führte diese Initiative ab 1991 dann tatsächlich unter politisch deutlich komplizierteren Bedingungen zu einer verfassunggebenden Versammlung und einer neuen, bis heute gültigen Magna Charta, die dem Land die fortschrittlichste Verfassung seiner Geschichte verlieh.
Wie sehr sich der Veränderungswille mittlerweile in Chile in vielen politischen Feldern manifestiert, wird an der Erfolgsgeschichte dieser Kampagne deutlich. Während sich das erste Kampagnenkomitee noch Anfang April in kleiner Runde etablierte, wuchs die Zahl der Unterstützer/innen in wenigen Wochen über Mund- und Social-Media-Propaganda auf über tausend an. Dies mobilisierte sowohl bekannte Schauspieler/innen und Künstler/innen, einige der Kandidaten aus verschiedenen politischen Lagern, die Studentenbewegung wie auch mittlerweile über 150 Verfassungrechtler, die ihrerseits beinahe im Tagesrythmus weitere Unterstützer/innenkreise und Events organisieren. Auf Fernsehkanälen, in Radios, in Zeitungen wie auch im Netz sind zahlreiche Exponenten der Kampagne seit Wochen deutlich über die eigenen Erwartungen hinaus präsent und zwangen das politische Spektrum, sich im Vorwahlkampf zu dieser Frage zu verhalten. Eine vor wenigen Wochen veröffentlichte, repräsentative Umfrage ergab, dass rund 64% der Chilen/innen eine verfassunggebende Versammlung für notwendig erachten. Noch im November konnte der Senator der sozialistischen Partei Camilo Escalona diese Forderungen als politischen „Opium-Rausch“ abtun – ein derartig kaltschnäuziges Abbürsten war Bachelet nicht mehr möglich.
Wohlfühlbotschaften und Legitimitätskrise
Sie hatte seit ihrer Rückkehr im März eine klare Aussage dazu vermieden und, wie in vielen anderen Politikfeldern auch, eher diffusere Gerechtigkeits- und Wohlfühl-Botschaften verbreitet. Nach dem Ergebnis der Vorwahlen und mit dem Start des regulären Wahlkampfes wird sie, über kurz oder lang, eine eindeutige Positionierung nicht vermeiden können. Diese wird vermutlich auf eine Absage an eine verfassunggebende Versammlung sowie andere Wunschprojekte hinauslaufen. Das wird einen Großteil der reformhungrigen Wähler/innen des Mitte-links Spektrums vor den Kopf stoßen.
Für die Überwindung der Legitimätskrise des Parteiensystems insgesamt kein gutes Omen – das scheint dies beiden Lagern bewusst zu sein. So wurden bereits Wochen vor den Vorwahlen die eigentlich rein parteiinterne Kandidatenauswahl zu einer Art regulären Vorentscheidung stilisiert, und schließlich Bachelets 73%-Sieg entsprechend bejubelt – auch die Tatsache, dass mit nicht ganz 3 Millionen abgegebenen Stimmen die Wahlbeteiligung fast doppelt so hoch ausfiel wie zunächst prognostiziert. Doch bei genauerer Betrachtung fällt selbst nicht-routinierten Beobachtern sofort auf, dass es dabei um gerade einmal 22% aller Wahlberechtigten geht. Insgesamt fast 80% aller Wahlberechtigten blieben zu Hause und ignorierten die Vorwahlen.
Andere Kandidaturen mit wenig Erfolgsaussichten
Das Rennen bleibt also insofern offen, als mit den Vorwahlen vor allem der harte Kern der traditionellen Wähler/innen mobilisiert wurde, und nicht klarer ist, wie sich nach der bereits zur Kommunalwahl erfolgten Wahlrechtsreform mit automatischer Einschreibung ins Wahlregister der Großteil der Neu- und Erst-Wähler/innen verhalten wird.
Dies gibt auch den kleineren, weniger bekannten Kandidaturen zumindest bis zum ersten Wahlgang im November noch eine Sichtbarkeit. Neben dem bereits 2009 angetretenen Marco Enriquez-Ominami, der sein damaliges Protestwahlpotentional von immerhin rund 20% der Stimmen im Moment bei weitem nicht erreicht, treten wieder eine Vielzahl von unabhängigen Kandidaten aus dem linken und rechten Spektrum an, die jedoch nur wenig Aussicht auf Erfolg haben werden.
Der Kandidat der grünen Partei Chiles
Auch die grüne Partei Chiles, der Partido Ecologista Verde, hat überraschend einen eigenen Präsidentschafts-Kandidaten aufgestellt: Alfredo Sfeir Younis. Sfeir ist ein in Harvard graduierter Wirtschaftswissenschaftler und mittlerweiler pensionierter Weltbank-Experte, der bei der internationalen Organisation schon in den siebziger Jahren Umwelt- und Nachhaltigkeitsaspekte in Politiken und Programmen integrierte. Mit Pferdeschwanz und in traditioneller Hindu-Bekleidung will er auch spirituell-geistige Impulse setzen, sorgte aber im eher konservativen Chile bei seinen ersten Auftritten für einige hochgezogene Augenbrauen. Doch Wirtschaftswissenschaftler haben im Land einen Bonus und somit konnte er bei einigen TV-Auftritten mit relativ klaren und rationalen Ansichten zu Fragen wie einer ökologische Steuerreform eigene Akzente setzen und punkten.
Nach nur rund 2 Monaten ist Sfeir nun beinahe wöchentlich in einem der großen Print-Medien und TV-Programmen zu sehen. Auch die grüne Partei profitiert von einem stark gewachsenen Interesse neuer Zielgruppen aus einem urbaneren, professionellen Spektrum. Selbst wenn Sfeir wohl im November kaum Chancen hat, steht er doch als beinahe einziger für eine tatsächlich neue Option und neue Ansichten, die im für Umweltfragen seit den Protesten 2011 einigermaßen sensibilisierten Chile auffallen. Für die Partei jedenfalls hat diese Kandidatur einen Zweck bereits erfüllt: Die notwendigen Unterschriften neuer Mitglieder für die Einschreibung als Partei konnten im vorgeschriebenen Zeitrahmen in aller Gelassenheit erreicht werden.