Simone Schröder, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Der Naturessay im 19., 20. und 21. Jahrhundert: Untersuchungen zur Poetik und epistemologischen Funktion einer Gattung zwischen Wissenschaft und Kunst

Mit Jean-Jacques Rousseaus "Les Rêveries du promeneur solitaire" entsteht zwischen 1776 und 78 in der europäischen Literatur ein Textkomplex, der für eine neue Form der schreibenden Auseinandersetzung mit der Natur steht. Rousseau erkundet auf seinen Streifzügen die Botanik und verbindet in seinen Aufzeichnungen Überlegungen zur systematischen Erfassung der Natur mit abschweifenden, dem Rhythmus des Spaziergangs gewissermaßen folgenden, Gedankengängen. Naturessays, wie sie seit etwa 1800 auch breitenwirksam in Europa erscheinen, unterscheiden sich von den Bestiarien des Mittelalters durch ihre empirische Fundierung und von wissenschaftlichen Abhandlungen durch ihre subjektive Perspektivierung. Sie stellen eine produktive Synthese zwischen faktualer Wissensvermittlung und kreativer Sprachgestaltung mit einer subjektiven Sicht her, indem sie naturhistorische Informationen mit Erfahrungsberichten und Reflexionen verbinden. Der Kunst steht die Essayform insofern nahe, als sie Gedanken, Thesen und Erkenntnisse nicht systematisch, sondern assoziativ ordnet. Oft werden statt Argumenten Metaphern und bildliche Ausdrucksweisen verwendet, die auf eine andere Art des Verstehens abzielen, das eher emotional als rational zu nennen ist. Bereits für die großen Forschungsreisenden des 19. Jahrhunderts (Darwin, Bates, Humboldt, Chamisso) gilt, dass sie empirisch arbeiten, zugleich jedoch auf literarische Mittel wie Perspektivwechsel, Beschreibungen, Dramatisierungen und literarische Topoi wie das Naturschöne rekurrieren. Bildliche Schreibweisen und insbesondere Narrationen übernehmen dabei die Funktion einer ‚anderen Wissensvermittlung‘ und sind nicht zuletzt literarische Sinngebungsmodelle.

Systematische Untersuchungen zum Naturessay gibt es bislang noch nicht. Der anglistisch-amerikanistische Ecocriticism hat Naturessays unter dem Sammelbegriff Nature Writing subsummiert und unter ökologischen Gesichtspunkten analysiert, dabei aber hauptsächlich englischsprachige Texte berücksichtigt. In der deutschsprachigen Komparatistik setzen sich literaturökologische Perspektiven zunehmend auch durch. Das Dissertationsprojekt will anhand eines Textkorpus von 20-30 Essays des 19., 20. und 21. Jahrhunderts zeigen, dass sich in Europa ein kontinuierlich bestehendes literarisches Feld nachweisen lässt, für das in der deutschsprachigen Literatur u.a. Autoren wie Alexander von Humboldt, Adalbert Stifter, Ernst Jünger, Peter Handke und W.G. Sebald stehen. Die Arbeit situiert diese und andere Essayisten in einem internationalen Kontext und liest ihre Werke im Vergleich mit der englisch-, französisch- und spanischsprachigen Literatur. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei methodisch zum einen auf narratologischen und diskurstheoretischen Analysen, zum anderen geht die Arbeit den Erkenntnismöglichkeiten der naturessayistischen Ästhetik nach.