Mexiko: Forscher*innen suchen die Wahrheit über den "Schmutzigen Krieg"

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Mexikos Wahrheitskommission will aufdecken, wie der Staat von 1965 bis 1990 systematisch Folter, Entführungen und Morde organisierte. Ihr jüngster Bericht erhebt Anspruch auf historische Gerechtigkeit – doch die Aufarbeitung stößt bis heute auf Widerstand.
 
Ein Foto der so genannten mexikanischen Wahrheitskommission, die auf einer Bühne versammelt ist

Im Dezember 2021 errichtete die mexikanische Regierung  die Kommission für den Zugang zur Wahrheit, die historische Aufklärung und die Förderung der Gerechtigkeit bei schweren Menschenrechtsverletzungen zwischen 1965 und 1990 (CoVEH)1.Die CoVEH widmete sich in ihrer Amtszeit bis September 2024 der historischen Aufklärung schwerster Menschenrechtsverletzungen während des so genannten "Schmutzigen Krieges" in Mexiko.

Während dieser Zeit bekämpfte die mexikanische Regierung unter der Herrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) linke Bewegungen, Guerillagruppen, Studierende, Intellektuelle und andere kritische Stimmen. Die Regierung setzte systematisch Gewalt ein, darunter Folter, illegale Verhaftungen, Verschwindenlassen und außergerichtliche Hinrichtungen. 

Die CoVEH ist der bisher umfassendste Versuch, die Ereignisse dieser Zeit historisch aufzuklären. 

Obwohl viele Verbrechen während dieser Zeit dokumentiert sind, wurde lange Zeit keine umfassende juristische Aufarbeitung betrieben. Erst im 21. Jahrhundert begann eine offizielle Anerkennung der Verbrechen. Die CoVEH ist der bisher umfassendste Versuch, die Ereignisse dieser Zeit historisch aufzuklären. 

Die CoVEH arbeitete entlang von fünf Achsen: "Wahrheit", "Gerechtigkeit", "Wiedergutmachung", "Suche" und "Erinnerung". Die letzten vier Achsen fielen in die Zuständigkeit von Beamten der föderalen Regierung. Die Achse der "Wahrheit" bearbeitete der Mechanismus für Wahrheit und historische Aufklärung (MEH). Im MEH hatten vier unabhängige Kommissare die Hauptaufgabe, einen Abschlussbericht zu verfassen.

Ein Bericht für die Bevölkerung Mexikos

Der Bericht "Es war der Staat 1965-1990" besteht aus sechs Bänden aus insgesamt viertausendachthundert Seiten (Anhänge nicht mitgerechnet). Nach drei Jahren Forschung mit insgesamt 40 Mitarbeitenden (Historiker*innen, Politolog*innen, Jurist*innen, Soziolog*innen)  stützt sich der Bericht auf mehr als tausend Zeug*innenaussagen und auf die Durchsicht von 126 dokumentarischen Sammlungen aus privaten und öffentlichen Archiven. Er konzentriert sich auf die Untersuchung von Opfergemeinschaften, die bis heute in den offiziellen Diskursen unsichtbar gemacht werden. Dazu zählen unter anderem, aber nicht ausschließlich, Gewerkschaften, Mitglieder politischer Parteien, religiöse Vereinigungen, Bäuer*innenverbände sowie soziale Bewegungen, die sich gegen den Ausbau von Infrastruktur- und Modernisierungsprojekten in Mexiko auflehnten.

Der Bericht zielt darauf ab, das Ausmaß der staatlichen Gewalt während des "Schmutzigen Krieges" zu präsentieren. Er dreht sich um einen zentralen Gedanken: Während des schmutzigen Krieges ging der mexikanische Staat nicht nur illegal und gewaltsam gegen Guerillagruppen oder Gruppen vor, die einer linken Ideologie nahestanden (wie die Partido de los Pobres oder die Liga Mexicana 23 de Septiembre), sondern auch gegen eine Vielzahl von gesellschaftlichen Gruppen, die regelmäßig auf die politischen und wirtschaftlichen Widersprüche des postrevolutionären Staates hinwiesen.

Vor allem linke Gruppen im Visier des gewaltätigen Staates

Zwischen 1965 und 1990 verstand sich der mexikanische Staat als aufstandsbekämpfender, autoritärer und gewalttätiger Staat. In diesem Selbstverständnis und dieser Rolle bestrafte er vornehmlich sozialistische politisch-militärische aufständische Gruppen, aber gleichzeitig wurden auch alle Formen zivilen, sozialen und politischen Protestes bestraft.

Der Bericht zeigt auf, wie die staatlichen Behörden Gemeindevorsteher*innen, die sich dem Bau von Straßen, Staudämmen und anderen Infrastrukturprojekten widersetzten, verschwinden ließen oder ermordeten. Auch katholische Priester (der Befreiungstheologie nahestehend), Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen zugelassener Parteien (wie der PRD) wurden Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen.

Die Unterdrückung, Zerschlagung und Vernichtung politischer und sozialer Dissidenz waren verfassungswidrig:  die Freiheiten, Rechte und das Eigentum der Bürger*innen wurde nicht garantiert.

In erster Linie wurden Bildungs-, Beschaffungs- und Justizinstitutionen in ihrem Funktionsverständnis so aufgebaut, dass sie der politischen Sicherheit des Staates dienten, die Kriminalität bewältigen sollten und die Bevölkerung im Rahmen eines ungerechten und ungleichen Sozialmodells disziplinieren sollten.

Die Suche in den Archiven der Geheimdienste

Die Kommission stand trotz der bedeutenden Erkenntnisse für die historische Forschung vor enormen Schwierigkeiten. Eine der Hauptschwierigkeiten war das mangelnde politische Interesse an der Öffnung und dem Zugang zu historischen Archiven.

Da ein Großteil der Polizei- und Geheimdienstarchive von den zuständigen Behörden verbrannt oder versteckt wurde, wissen wir heute sehr wenig über unsere „jüngste Vergangenheit“.

Eine der Hauptschwierigkeiten war das mangelnde politische Interesse an der Öffnung und dem Zugang zu historischen Archiven.

Im Februar 2019 wies der damalige Präsident López Obrador die gesamte Bundesbürokratie an, alle historischen Dokumente im Zusammenhang mit schweren Menschenrechtsverletzungen (nicht nur für den Untersuchungszeitraum der Kommission, sondern aller verfügbarer Unterlagen) an das Archivo General de la Nación (AGN) zu übergeben.  Ein besonderes Augenmerk lag dabei auf dem Nationalen Nachrichtendienstzentrum (Centro Nacional de Inteligencia CNI, ehemals CISEN), die Nachfolgeinstitution der Direktion für Bundessicherheit (Dirección Federal de Seguridad, DFS, 1947-1985). Hier wurde, so unsere Untersuchungen, jahrzehntelang die politische Repression zentralisiert. Wir haben festgestellt, dass das Nachrichtendienstzentrum dem bis heute nicht nachgekommen ist und damit gegen das allgemeine Archivgesetz (öffentliche Einsichtnahme im Generalarchiv nach 30 Jahren) verstoßen hat. Unterlagen aus dem Zeitraum 1985-1990 wurden nicht übergeben (dem Gesetz nach hätten sie bei den Zweigstellen verbleiben müssen).

Regierung ließ Akten verschwinden

Mehr als zwei Jahre lang lehnte die CNI die Anträge der MEH auf Einsicht in das historische Archiv ab, das noch in ihren Einrichtungen aufbewahrt wird und Material aus der Zeit nach 1989 enthält. Entgegen der Zusage, die der Präsident nach der Gründung des MEH gegeben hatte, bekamen wir, die Forscher*innen des Mechanismus, keinen Zugang zum historischen Archiv der CNI.

Im Jahr 2022 stellten wir MEH-Forscher*innen fest, dass eine Reihe von Akten, die das CISEN (heute CNI) zwanzig Jahre zuvor an das AGN übergeben hatte, aus den Regalen des AGN verschwunden waren. Dazu gehören Akten über politische Gegner*innen, Täter*innen sowie Hunderte von anderen Dokumenten im Zusammenhang mit der Bildung paramilitärischer Gruppen in den 1970er Jahren.

Zu einem bislang nicht genau datierbarem Zeitpunkt, jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit vor dem Regierungswechsel 2018, dürften die Mitarbeitenden des CISEN fast tausend Akten, Hunderte von Blättern und eine unbestimmte Anzahl von Katalogkarten aus dem DFS-Archiv entnommen haben. Zweifellos handelt es sich hierbei um ein Verbrechen gegen das politische Gedächtnis Mexikos, an dessen Aufklärung der mexikanische Staat selbst leider kein Interesse hat. Monatelang sammelte das MEH Beweise für den Diebstahl von Dokumenten und veröffentlichte sie auf seiner Internetseite. Darüber hinaus reichten die Kommissionsmitglieder eine offizielle Klage bei den zuständigen Behörden ein. Bisher jedoch wurde keine strafrechtliche Untersuchung gegen die möglichen Verantwortlichen eingeleitet. Die Straflosigkeit gehört nicht nur der Vergangenheit an; sie ist auch Teil der Gegenwart.

Von passiver Zusammenarbeit zu aktiver Behinderung durch die Armee

Neben den Archiven des Geheimdiensts sind auch die historischen und noch unerforschten Archive der mexikanischen Armee relevant, um die repressive Funktionsweise des Staates während des Schmutzigen Krieges rekonstruieren zu können. In diesem Sinne bildeten die Kommissare gleich nach der Gründung des MEH eine Arbeitsgruppe mit dem Sekretariat für Nationale Verteidigung (Secretaría de la Defensa Nacional, SEDENA) gebildet, um dessen Archive und somit Dutzende von Dokumentensammlungen (insgesamt mehr als 50.000 Dokumente) sowohl in Mexiko-Stadt als auch in anderen Militärzonen des Landes zu untersuchen. López Obrador hatte uns dafür maximalen Zugang versprochen. Die Armeeverantwortlichen kooperierten zunächst mit uns und wir erhielten ab Juli 2022 für einige Monate Zugang zu den Regalen des Zentralen Archivs (Archivo de Concentración), indem vor allem jüngere Dokumente aufbewahrt werden, der Armee in Mexiko-Stadt.  

Das anfängliche Ziel war, ein erstes topographisches Inventar zu erstellen, um relevante Dokumentation für Ermittlungen zu schweren Menschenrechtsverletzungen, die zwischen 1965 und 1990 begangen wurden, zu organisieren.  In den ersten Monaten des Jahres 2023 änderte sich jedoch etwas. Die MEH-Ermittler*innen begannen, sensible Dokumente zu finden und anzufordern, und damit wandelte sich die Haltung von SEDENA von passiver Zusammenarbeit zu aktiver Behinderung. Zu den sensiblen Dokumenten gehörten unter anderem interne Berichte über die Ermordung von Hunderten von Politikern der Partei der Demokratischen Revolution sowie Unterlagen im Zusammenhang mit dem zapatistischen Aufstand.

Enklaven der Macht, die Aufarbeitung verhindern

SEDENA begann, jede Anfrage der MEH-Forscher*innen systematisch abzulehnen: Dienstunterlagen, Pläne, Personalakten, Termine usw. Als Vorwände wurde der Schutz persönlicher Daten und die Gefährdung der nationalen Sicherheit angeführt. In den wenigen Monaten, in denen die MEH-Forscher*innen Zugang zum SEDENA-Konzentrationsarchiv hatten, stellten sie fest, dass das Militärpersonal ihnen nicht nur den Zugang zu Dokumentenserien verweigerte, sondern auch, dass die angeforderten Akten von Militärbeamten manipuliert wurden. Beweise für den Diebstahl verschiedener Dokumente wurden in einem von der MEH veröffentlichten Bericht mit dem Titel "The Forms of Silence" detailliert aufgeführt.

Im September 2023 fassten wir in der Kommission einen drastischen Entschluss: Sie hörten auf, das Archiv zu besuchen. Es hatte keinen Sinn, die Täuschung fortzusetzen.

Die Erfahrung mit den Archiven der Armee und der Bundesdirektion für Sicherheit hat uns gezeigt, dass es in den mexikanischen Institutionen Enklaven der Macht gibt, die weiterhin daran interessiert sind, einen Teil der Geschehnisse während des Schmutzigen Krieges zu verbergen. Bis heute befinden wir uns mit dem Sekretariat für Verteidigung in einem Rechtsstreit um die Öffnung der Archive zu erwirken. Die Erfolgsaussichten sind gering.

Die Vergangenheit ist die Gegenwart

Eine der zentralen Schlussfolgerungen des Berichts ist, dass die derzeitige Gewaltsituation in Mexiko und die Merkmale, die sie aufweist, ihren Ursprung in jenen Jahren der Aufstandsbekämpfung haben. Insbesondere in den 1970er Jahren entstanden Kooptationsprozesse staatlicher Institutionen durch kriminelle Interessen.

Mexiko wurde 2000 zu einer formalen Demokratie, doch viele der Praktiken des früheren Regimes, wie Straflosigkeit, staatliche Gewalt und institutionalisierte Korruption bestehen bis heute fort. Wir werden die heutige Gewalt und Straflosigkeit nicht überwinden, wenn wir nicht die Vergangenheit aufklären können. Die Straflosigkeit der Vergangenheit ermöglicht die Straflosigkeit der Gegenwart.

Für die Zukunft gibt es noch viel zu tun. Der Bericht "Es war der Staat: 1965-1990" leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Ausmaßes des mexikanischen Autoritarismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.  Der mexikanische Staat bleibt den Opfern dieser Zeit jedoch weiterhin etwas schuldig.

Die derzeitige politische Situation in Mexiko und die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit scheint leider keine Fenster für eine neue Politik der Erinnerung, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Wahrheit zu haben.

In den letzten drei Jahren gab es kaum Fortschritte in Bezug auf Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und die Suche nach Menschen. Besonders schmerzhaft ist, dass der mexikanische Staat ein Vierteljahrhundert nach Beginn des demokratischen Übergangs noch immer keine rechtsstaatlichen Mechanismen, um die Täter vor Gericht zu stellen, geschaffen hat. Bis heute wurde lediglich ein ehemaliger Beamter der Bundesdirektion für Sicherheit wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen während des Schmutzigen Krieges verurteilt2 . Dies ist nicht nur eine elementare Frage der Gerechtigkeit, sondern auch eine Frage der Anerkennung der Würde der Opfer.

Die derzeitige politische Situation in Mexiko und die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit scheint leider keine Fenster für eine neue Politik der Erinnerung, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Wahrheit zu haben.

Wir haben gelernt, dass der Kampf dafür langwierig und voller Hindernisse ist, er aber immer von Einzelnen und Gruppen aufgenommen wird. Die Kommission wollte immer Teil des Weges sein, den die Organisationen der Familienangehörigen seit den 1970er Jahren aufgezeigt haben.

Wie wird die neue Regierung unter Claudia Sheinbaum mit den Ergebnissen der Kommission umgehen? Wird die Agenda der Opfer des Schmutzigen Krieges eine ihrer Prioritäten sein?

Es ist noch zu früh, um sagen zu können, wie Sheinbaum sich zur MEH verhalten wird.  Im Moment sieht es für sie leider nicht nach einer Priorität aus. Sollte sich dies bestätigen, würde sie den großen Fehler begehen, den mexikanische Politiker*innen in der Vergangenheit gemacht haben: Der Versuch, ein Thema zu begraben, das früher oder später unweigerlich wieder auftauchen wird. Die Vergangenheit holt uns immer wieder ein.

Fußnoten
  • 1

    Gemeint ist die so genannte "Comisión para Acceso a la Verdad, Esclarecimiento Histórico e Impulso a la Justicia de graves violaciones graves a los derechos humanos de 1965 a 1990" (CoVEH).

  • 2

    Gemeint ist der ehemaligen Agenten der Föderalen Sicherheitsdirektion, Esteban Guzmán Salgado, der für das gewaltsame Verschwinden von Miguel Ángel Hernández Valerio im Jahr 1977 verantwortlich gemacht wird. 2009 wurde Salgado dafür verurteilt. Es ist der bisher einzige Erfolg der inzwischen aufgelösten Sonderstaatsanwaltschaft für soziale und politische Bewegungen der Vergangenheit (FEMOSPP).

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