Atomkraft nach Fukushima: Was bleibt?

Im nicht gerade für seine Demonstrationsfreude bekannten Japan ist eine breite Protestbewegung entstanden. Hier eine Demo in Kouenji im November 2011. Foto: SandoCap Lizenz: CC-BY-NC Quelle: Flickr

9. März 2012
Mycle Schneider
Es war wie ein Trompetenstoß: „Amerikanische Sicherheitsbehörde gab heute den Startschuss für den Bau zwei neuer Atomkraftwerke“ am Standort Vogtle in Georgia, ließ das Lobbyorgan World Nuclear News verlauten. Die Nachricht ging um die Welt. Dies war am 9. Februar 2012. Die Tatsache, dass der Chef der amerikanischen Aufsichtsbehörde NRC (Nuclear Regulatory Commission) nicht mit seinen vier Kollegen stimmte, da er „die Genehmigung nicht unterstützen konnte, als wäre Fukushima nie passiert“ (World Nuclear News vom 9. Februar 2012), machte erheblich weniger Wirbel. Ein historischer Moment ist dieser Vorgang freilich allemal. Seit 1973 wurde in den USA kein Atomkraftwerk mehr geordert, das auch gebaut wurde. Denn mehr Bestellungen wurden annulliert als erfüllt.

Fukushima, nur ein Zwischenfall?

Schon zwei Monate nach dem Ereignis, das im englischen Sprachraum als 311 (three-eleven analog zu 911) in die Geschichte eingegangen ist, erklärte Hans Blix, ehemaliger Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO): "Fukushima is a bump in the road...", nur ein Holperstein auf dem Weg der Atomkraftentwicklung. Diese erstaunliche Äusserung erinnert fatal an jene Stellungnahme des Morris Rosen, damaliger Leiter der IAEO-Abteilung Atomsicherheit unter Blix, der vier Monate nach Tschernobyl seiner Überzeugung als Atomfanatiker in „Le Monde“ am 28. August 1986 kraftvoll Ausdruck gab: "Selbst wenn sich ein derartiger Unfall jedes Jahr ereignete, würde ich Atomkraft für eine interessante Energiequelle halten."  

Es scheint heute wenig verwunderlich, dass ein "IAEO Experten-Team" jüngst im Januar 2012 nur gerade eine Woche brauchte, um den japanischen Behörden – auf deren Anregung und als vermeintlicher Meilenstein für die Wiederinbetriebnahme gestrandeter Meiler – die Qualität ihrer "AKW-Stress Tests" zu bestätigen.

Dennoch, im März liefen nur noch 2 der 54 japanischen Reaktoren. Und bis April 2012 müssen auch die letzten Meiler fürs Nachladen und für Inspektionen vom Netz.

Meine letzte Reise im Januar 2012 nach Tokio, Yokohama und Fukushima hat mir deutlich gezeigt, wie stark die Bevölkerung durch die Dreifachkatastrophe Erdbeben-Tsunami-Atomkrise traumatisiert ist. Die Regierung unter Premier Yoshihiko Noda scheint fest entschlossen, möglichst bald möglichst zahlreiche Reaktoren wieder ans Netz zu bringen und der Segen der IAEO soll dabei eine wichtige Rolle spielen. Die Zivilbevölkerung, laut Umfragen mit nunmehr drei Viertel für den Atomausstieg, ist ebenso entschlossen, verbissen gegen jede einzelne Wiederinbetriebnahme zu kämpfen. Noda hat sich auf einer Pressekonferenz persönlich dazu verpflichtet, die Meinung der lokalen Bevölkerung zu respektieren. Ein erbitterter Meinungskampf ist entbrannt. Das Land ist gespalten.

Die Atomkritiker haben mit einer Mega-Veranstaltung am 14.-15. Januar 2012 in Yokohama beeindruckend gezeigt, dass sie nunmehr in allen Kreisen der Gesellschaft mobilisieren können. Über zwei Tage haben sich insgesamt 11.500 Experten, Künstler, Umweltbewegte, Bauern, Abgeordnete aus Stadt, Präfektur, Land und Europaparlament (darunter Delegationen aus 30 Ländern) zu der zweifellos auch international größten atomkritischen Konferenz der Geschichte versammelt.


Die Katastrophe hat in einigen Staaten die Tendenz zum Atom-Ausstieg gestärkt


In Italien haben sich in einem Referendum 94 Prozent der Menschen gegen den von Staatspräsident Berlusconi geplanten Wiedereinstieg ausgesprochen. In Frankreich ist der parteipolitische Atomkonsens der großen Parteien gebrochen. Während der konservative Noch-Präsident Nicolas Sarkozy von einem Atomstandort zum nächsten eilt, um seine totale Unterstützung der Atombranche zu bekräftigen und sich damit demonstrativ von seinem in Umfragen weit vorne liegenden sozialistischen Mitbewerber François Hollande absetzt, befürwortet die französische Bevölkerung nunmehr laut diverser Umfragen zu drei Viertel den Ausstieg. Während Hollande noch zögerlich das Absenken des Atomstromanteils von über 75 Prozent auf 50 Prozent bis 2025 plant – sensationell im Atomland Frankreich – fordern seine Parteichefin Martine Aubry und ihr Stellvertreter Harlem Désir schlicht den Ausstieg. Die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen am 6. Mai 2012 werden zu Atomwahlen.

In der Zwischenzeit geht es den französischen Atomfirmen sehr schlecht. Die Aktie des staatlichen Stromgiganten EDF (Electricité de France) und grösstem Atombetreiber der Welt hat seit 2007 fast 80 Prozent ihres Wertes verloren, kaum besser als der dramatische Absturz des japanischen Kollegen TEPCO (Tokyo Electric Power Company), der allerdings ein gewisses Ereignis in Fukushima zu verkraften hat. Für unvollendete Abenteuer in Italien und den USA mußte EDF Verluste von 1 Milliarde Euro plus 1 Milliarde Dollar verkraften. Industriepartner AREVA, weltweit Nummer Eins der Atomkonzerne und ebenfalls zu über vier Fünfteln in der Hand des französischen Staates, verlor immerhin 75 Prozent des Aktienwertes seit 2007. Schlimmer noch, AREVA hat 2011 einen Verlust von etwa 1,5 Milliarden Euro eingefahren. Eine Woche nach Bekanntgabe des katastrophalen Ergebnisses im Dezember 2011 stufte Standard & Poor’s AREVA’s Kreditwürdigkeit auf BBB- herunter, gerade noch ein Grad über dem spekulativen „junk bond“-Niveau. AREVAs Einstufung in der Kategorie SACP (stand alone credit profile), die Bewertung der Unternehmensleistung ohne Einbeziehung der als besonders hoch eingeschätzten staatlichen Unterstützung, liegt allerdings bereits weit im spekulativen Bereich, knapp über dem „hoch spekulativen“ Level. Wer wird dieser Firma für Investitionen Geld leihen und zu welchem Zinssatz?

Die Bilanz der harten Wintertage der vergangenen Wochen ist nicht gerade ein Fanal für die Brillanz der französischen Energiestrategen. Hatten Industriekapitäne und Regierungspolitiker fast hämisch vorausgesagt, das aussteigende Deutschland müsste sich bald mit französischen Atomstromexporten helfen, mussten sie nun zähneknirschend eingestehen, daß Frankreich massiv Strom aus Deutschland importieren musste (wie übrigens seit vielen Jahren). Ein Drittel der französischen, extrem schlecht isolierten Wohnungen werden mit Strom beheizt. Sinkt das Thermometer um ein Grad Celsius, steigt der Kapazitätsbedarf schlagartig um 2300 MW. So kletterte die Spitzenlast dieser Tage auf über 100000 MW. Da durften dann deutsche Kohle- und Windkraftwerke mit mehreren Tausend Megawatt einspringen.


Und dann ist da noch China

China ist das einzige Land, das massiv Atomkraftwerke baut. 26 der 63 atomaren Baustellen in der Welt befinden sich in China. Die öffentliche Meinung habe die Atomenergie erst durch Fukushima entdeckt, sagte mir unlängst ein chinesischer NGO-Vertreter. Er ist zu jung, um sich an die anderthalb Millionen Unterschriften zu erinnern, die chinesische Bürgerinitiativen in den achtziger Jahren innerhalb von drei Monaten gegen den Bau der ersten importierten Atomkraftwerke in Daya Bay in der Provinz Guangdong gesammelt hatten.

Die chinesischen Regierungsstellen waren zweifellos höchst schockiert vom japanischen Desaster. Wenn auch 2011 drei neue Atomkraftwerke in China in Betrieb gegangen sind, so sind alle neuen Projekte erst einmal storniert worden. Entgegen allen Planungen wurde 2011 nicht eine einzige neue Baustelle eröffnet. Es gibt Anzeichen für eine Reihe von Maßnahmen und Ereignissen, die den weiteren Ausbau der Atomkraft in China erheblich bremsen könnten. Dazu zählen die Begrenzung von Blöcken pro Standort, die Infragestellung der gesamten Reaktorserie CPR1000 (der sogenannten zweiten Generation, die fast alle heute in der Welt betriebenen Anlagen umfasst), die Forderung nach teuren, zusätzlichen Sicherheitsmassnahmen und eine zunehmend kritische Bevölkerung. In der östlichen Provinz Anhui hat Anfang Februar 2012 sogar die lokale Behörde in einem offiziellen Dokument gegen den Bau des Atomkraftwerks Pengze protestiert. Die größte Bedrohung für das chinesische Atomprogramm kommt allerdings von den Wettbewerbern. Die chinesische Regierung steckt etwa das Fünffache der Ausgaben für Atom in die Erneuerbaren. Und es geht billiger und schneller. So wurden im Jahre 2011 allein etwa 18.000 MW Windkraftwerke hinzugebaut, mehr als das Zehnfache der neu in Betrieb genommenen Atomkraftkapazität.


Die Altersschwäche der Atomindustrie wird offensichtlich

Die Vorstellung, erst die dramatischen Ereignisse in Japan hätten einer wundersamen "Renaissance" der Atomenergie einen Strich durch die Rechnung gemacht, ist abenteuerlich. Wie wir seit Jahren mit dem World Nuclear Industry Status Report zeigen, ist die Atomindustrie schon lange nicht einmal mehr in der Lage, die wegen Altersschwäche oder Unfällen ausgeschiedenen Anlagen zu ersetzen.

Der historische Höchststand wurde mit 444 Reaktoren bereits 2002 erreicht. Im Januar 2012 sind es statistisch noch 429 Anlagen. Diese Zahl geht davon aus, dass alle 10 Fukushima-Reaktorblöcke nicht wieder in Betrieb gehen. Offiziell hat die japanische Regierung bisher zwar nur vier Reaktoren der Anlage Fukushima Daiichi definitiv "stillgelegt". Doch ist eine Wiederinbetriebnahme auch bei vielen anderen japanischen AKW höchst zweifelhaft. So waren die drei Onagawa-Blöcke dem Epizentrum des 311-Bebens viel näher als Fukushima. Drei Hamaoka-Reaktoren wurden auf Anweisung des ehemaligen Premiers Naoto Kan vom Netz genommen, nachdem neue Berechnungen die Wahrscheinlichkeit eines Jahrhundertbebens auf über 80 Prozent bis 2030 bezifferten. Die Tokai-Anlage ist nur etwa 100 km von Tokio entfernt und gilt deshalb als besonders problematisch. Rechnet man nur diese sieben Reaktoren den stillgelegten Fukushima-Anlagen hinzu, dann sind weltweit heute weniger Reaktoren in Betrieb als Ende der achziger Jahre. 1989 war übrigens auch in der EU bereits der Höchststand mit 177 AKW erreicht, und dieser ist seither um 43 auf 134 Blöcke geschrumpft. Der zähe Abstieg wandelt sich immer mehr zum Absturz.

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Mycle Schneider wirkt als unabhängiger internationaler Energie- und Atompolitikberater. Er ist Mitglied des an der amerikanischen Princeton University angesiedelten International Panel on Fissile Materials (IPFM) und Initiator und Hauptautor des World Nuclear Industry Status Report. Mycle Schneider erhielt 1997 den Alternativen Nobelpreis zusammen mit dem japanischen Wissenschaftler Jinzaburo Takagi für ihre Arbeit zum Thema Plutoniumwirtschaft.

Dieser Text erschien zunächst in der Aargauer Zeitung, am 03. März 2012. Für die Veröffentlichung auf dieser Seite wurde er redaktionell berarbeitet.