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Urteil gegen Chodorkowskij und Lebedew: "Ein politischer Prozess, ein politisches Urteil"

Lesedauer: 3 Minuten

27. Dezember 2010

Zum Schuldspruch gegen Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew erklärt Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung:

"Heute wurden in Moskau Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew schuldig gesprochen, das Öl ihres eigenen Konzerns gestohlen zu haben. Die Anklage war abstrus, der Prozess eine Farce, das Urteil absehbar. Die öffentliche Vorverurteilung durch Ministerpräsident Wladimir Putin war ein deutlicher Hinweis auf den Ausgang des Verfahrens. 

Die gegenwärtige Haftstrafe der beiden Angeklagten läuft im Herbst 2011 ab. Kurz darauf finden Parlamentswahlen in Russland statt, im März 2012 wird der Präsident neu gewählt. Da Chodorkowskij im Kreml als potentieller Gegenspieler gilt, durften er und Lebedew nicht vorher frei kommen. Deshalb wurde eine neue Anklage konstruiert, die das Gericht pflichtgemäß abgearbeitet hat. Wer je als Beobachter an dieser Verhandlung teilgenommen hat, konnte sich des Eindrucks eines Schauprozesses nicht erwehren.

Der Chodorkowskij-Prozess straft die Reformrhetorik von Präsident Dimitri Medwedew Lügen. Der von ihm beklagte "Rechtsnihilismus" gehört zum System der "gelenkten Demokratie", das seit der Machtübernahme Putins ausgebaut wurde. Im heutigen Russland sind Steuerbehörden und Strafjustiz bewährte Instrumente der Staatsmacht, um unliebsame Zeitgenossen aus dem Weg zu räumen und Unternehmen unter Kontrolle zu bringen. 

Ungewissheit besteht noch beim Strafmaß für Chodorkowskij und Lebedew, das erst am Ende der Urteilsverlesung verkündet wird. Folgt das Gericht der Staatsanwaltschaft und verurteilt die Angeklagten zu 14 Jahren Haft, müssten Chodorkowskij und Lebedew bis zum Herbst 2017 in Haft bleiben. Ein Urteil von 9 Jahren würde eine Freilassung im Herbst 2012 bedeuten. Das wäre zwar noch immer Unrecht, gäbe den beiden Angeklagten aber immerhin eine Perspektive. 

Wenn es noch eine kleine Chance gibt, auf das Strafmaß Einfluss zu nehmen, dann müssen Bundesregierung und Europäische Kommission jetzt laut und deutlich ihre Kritik an diesem Verfahren äußern. Auch der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft ist aufgerufen, sein opportunistisches Schweigen zu beenden. Wer sich unter Berufung auf die "Unabhängigkeit der Justiz" der Stimme enthält, legitimiert damit ein Verfahren, das keinen rechtsstaatlichen Maßstäben standhält. Die vielbeschworene Modernisierung Russlands wird scheitern, wenn sie nicht mit Rechtsstaatlichkeit und einer demokratischen politischen Kultur einhergeht."


Interviews: 

Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, steht für Interviews zur Verfügung. 

Kontakt über Pressestelle der Heinrich-Böll-Stiftung: 

Karoline Hutter, Pressesprecherin, Heinrich-Böll-Stiftung, 

Schumannstraße 8, 10117 Berlin-Mitte, T 030-285 34 - 202 

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