Mut zum Wandel. Plädoyer für eine Agenda 2020

11. Juli 2008
Von Ralf Fücks
Von Ralf Fücks
Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Ein Gespenst geht um in Deutschland, das Gespenst vom Linksdrall der Republik. Worin manifestiert sich dieses Phänomen? In der Dominanz der «sozialen Frage», den immer neuen Hiobsbotschaften über Armut in einem wohlhabenden Land, in den steigenden Umfragewerten der «Linkspartei» oder in der Selbsteinschätzung einer Mehrheit der Bevölkerung?

Fühlt man dieser Entwicklung auf den Zahn, stellen sich Zweifel an einer Linksverschiebung der politischen Achse ein. In Wahlergebnissen lässt sich ein solcher Trend jedenfalls nicht messen, wenn man die kumulierten Stimmen für die Parteien links von Union und FDP als Maßstab nimmt. Aus dem öffentlichen Übergewicht sozialer Themen lässt sich erst recht nicht ableiten, dass die Republik nach links rückt. Die «soziale Frage» lässt viele Antworten zu, sie mündet nicht per se in eine emanzipatorische Politik. Das gilt auch für das beliebte Manager-Prügeln und die Wut auf die «Gier der Reichen». Es gibt linken und rechten Antikapitalismus, und es gibt autoritäre und libertäre Linke. Man muss also genauer hinsehen, ob der Zeitgeist tatsächlich von links weht – und um welche Art von links es sich dabei handelt.

Wenn links eine zukunftsgerichtete Haltung meint, die von einem Optimismus der Veränderung getragen wird, ist davon in der aktuellen Befindlichkeit der Deutschen recht wenig zu finden. Stattdessen herrscht ein Diskurs der Angst: Angst vor sozialem Abstieg, vor den Folgen der Globalisierung, vor steigenden Gesundheitskosten und Energiepreisen oder, je nach Gemütslage, vor einem allgegenwärtigen Überwachungsstaat. Ein Klima diffuser Ängste befördert aber nicht die Bereitschaft zu Reformen, sondern führt eher zur Verhärtung und Abschottung. Das zeigt sich bis in die vorherrschende Einstellung zu Migrationsfragen, die nach wie vor von Konkurrenzangst und Abwehr geprägt ist. Nicht Aufbruch zu neuen Ufern ist die Devise des Tages, sondern Verteidigung der Besitzstände; nicht Mut zum Wandel, sondern Abwehr von Veränderungen. Auch die Auslandseinsätze der Bundeswehr werden unter dem Blickwinkel beurteilt, möglichst keine Risiken für andere zu übernehmen – ein eng definiertes «nationales Interesse» schlägt die Bereitschaft, internationale Verantwortung zu übernehmen.

Eine strukturkonservative Linke...

Im politischen Spektrum repräsentiert – und verstärkt – ausgerechnet jene Partei diese Haltung, die sich selbst «Die Linke» nennt. In Wahrheit ist sie von allen die strukturkonservativste. Ihre Botschaft heißt: Vorwärts in die Vergangenheit, in die vermeintlich heile Welt der achtziger Jahre, als der westdeutsche Sozialstaat noch nicht von den Unbilden der Globalisierung, des demographischen Wandels und der Überschuldung der öffentlichen Hand angefochten war. Sie will zurück in die Zeit, als die Aufgabe der Bundeswehr darin bestand, im Windschatten der Amerikaner das Gleichgewicht des Schreckens zu sichern; als der internationale Wettbewerb noch überschaubar war und China ein schlafender Riese. Für die Linke sind die rot-grünen Reformen der letzten Jahre schlicht überflüssig. Von der Einführung des demographischen Faktors in die Rentenformel bis zur Reform der Grundsicherung, die unter dem abstrusen Titel «Hartz IV» so schlecht wie möglich verkauft wurde: alles nur mutwillige Demontage des Sozialstaats. Das Mantra dieser Linken ist die Rückkehr zum Status quo ante. Sie appelliert an die niedrigsten Instinkte der Massen: den Hass auf «die Reichen», das Ressentiment gegen «die da oben» und den Rückzug auf die nationale Wagenburg. Niemand verkörpert diesen linken Nationalismus skrupelloser als Lafontaine, wenn er der Bundesregierung vorwirft, sie ziehe mit der Entsendung deutscher Truppen nach Afghanistan den Terror ins Land.

… und eine reformmüde Große Koalition

Die Abkehr von einer Politik, die sich den Herausforderungen der neuen Zeit stellt, ist aber kein Monopol der «Linkspartei». Die SPD ist davon ebenso erfasst wie die Union. Kaum hatten die rot-grünen Weichenstellungen erste positive Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt und bei den öffentlichen Finanzen gezeitigt, wechselten die Regierungsparteien wieder in den Verteilungsmodus. Sie sind dabei, die Reformrenditen bei Renten, Arbeitsmarkt und Staatsfinanzen zu verspielen, die Rot-Grün so mühsam auf den Weg gebracht hat. Dabei ist keiner der Gründe verschwunden, die einen Umbau des Sozialstaats und eine andere Arbeitsmarktpolitik erfordern.

 Wer der Bevölkerung vermittelt «Alles kann so bleiben, wie es war», verkennt die Zeichen der Zeit. Die Exporterfolge der deutschen Wirtschaft sind kein Ruhekissen. Tatsächlich sind sie teuer erkauft, nämlich mit einem anhaltenden Rationalisierungsdruck, mit dem die Unternehmen die hohen Arbeitskosten kompensieren. In der Industrie sind Wachstum und Arbeitsplätze weitgehend abgekoppelt. Sie lebt von der überdurchschnittlichen Produktivität und Innovationskraft der Betriebe. Für die Zukunft ist dieser «Vorsprung durch Technik » aber keineswegs gesichert. Forschung und Entwicklung, hochqualifizierte Arbeitskräfte, innovative Produkte sind kein Monopol Westeuropas, der USA und Japans mehr. China bildet inzwischen mehr Ingenieure aus als jedes andere Land, Indien forciert massiv seine Software-Industrie, und auch die anderen Schwellenländer wechseln längst von billiger Massenproduktion auf hochwertige Produkte und Dienstleistungen.

Wenn Deutschland und die EU ihren hohen Lebensstandard halten wollen, müssen sie erheblich mehr in Bildung, Forschung und Innovation investieren als das gegenwärtig der Fall ist. Und sie müssen sich stärker für die Einwanderung talentierter, leistungsbereiter Menschen aus anderen Kulturen öffnen. Es ist ein Alarmsignal erster Güte, dass die deutsche Wanderungsbilanz für qualifizierte Arbeitskräfte negativ ist: Es wandern mehr Wissenschaftler, Akademiker, gut ausgebildete Facharbeiter aus als ein. Das gilt mittlerweile auch für junge Deutsch-Türken der zweiten und dritten Generation, die hier den hürdenreichen Weg durch das höhere Bildungssystem zurückgelegt haben und jetzt in die Türkei auswandern, weil sie dort bessere berufliche Perspektiven für sich sehen.

Die Proportionen zwischen Sozial- und Bildungsausgaben stimmen nicht. Der Bund zahlt allein für die Bezuschussung der Renten jährlich rund achtzig Milliarden Euro an Steuermitteln; dagegen nehmen sich die öffentlichen Ausgaben für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung geradezu kümmerlich aus. Der Ausbau der frühkindlichen Erziehung geht viel zu langsam voran, ebenso der Aufbau von Ganztagsschulen. Die Universitäten sind unterfinanziert. Aber die öffentliche Debatte wie die Ankündigungen der Parteien sind nach wie vor auf die Erhöhung von Sozialleistungen fixiert, statt die Prioritäten auf Bildung und Innovation zu setzen. Dabei hängen die Lebenschancen von Kindern aus sozial benachteiligten Familien vor allem davon ab, ob sie in einem gut ausgebauten Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Hochschule optimal gefördert werden.

Auch die Alterung der Gesellschaft und der Rückgang des Erwerbstätigen-Potentials wirken in diese Richtung. Nach einer kurzen Hochkonjunktur ist der demographische Wandel wieder weitgehend aus der öffentlichen Debatte verschwunden; als politisches Querschnittsthema kommt er nicht vor. Ein klassischer Fall von Verdrängung. Nähme man die Herausforderungen ernst, die damit auf die Gesellschaft zukommen, würde der Reformdruck auf das Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem sowie auf die Einwanderungspolitik weiter steigen. Stattdessen werden sogar die bereits beschlossenen Umbaumaßnahmen im Rentensystem wieder verwässert, und die Gesundheitsreform ist in einem ebenso teuren wie ineffizienten Kompromiss zwischen den Regierungsparteien gestrandet. Derweil steigen die Krankenkassenbeiträge munter weiter. Damit nicht genug, will die SPD den Unsinn der subventionierten Frühverrentung wieder aufblühen lassen. Dabei ist es genau das falsche Signal, Unternehmen für die Aussteuerung älterer Arbeitnehmer noch zu belohnen, statt die innerbetriebliche Personalpolitik so zu verändern, dass die Leistungsfähigkeit und Kompetenz von Mitarbeitern möglichst lange erhalten bleibt. Angesichts des bereits heute bestehenden Fachkräftemangels in ganzen Branchen und Regionen und der wachsenden finanziellen Lasten des Rentensystems ist die Verkürzung der Lebensarbeitszeit ein teurer Irrweg. Daraus folgt nicht «schuften bis ins Grab», sondern Verknüpfung von altersgerechter Arbeit, familienfreundlichen Arbeitszeiten und lebenslangem Lernen, wie es vor allem in skandinavischen Ländern bereits geschieht.

Kaum ein Sozialdemokrat (den legendären Franz Müntefering ausgenommen), der noch die rot-grüne Reformpolitik im Grundsatz verteidigt – bei aller Kritik an der konkreten Umsetzung und der Art und Weise, wie diese Reformen erarbeitet und kommuniziert wurden. Dabei war die «Agenda 2010» eines der mutigsten und wichtigsten Reformvorhaben, denen sich eine Bundesregierung seit den achtziger Jahren gestellt hat. Wo der Bundespräsident recht hat, hat er recht: Wir brauchen keine Abkehr von dieser Politik, sondern einen neuen Reformanlauf, eine «Agenda 2020». Wer sollte die Rolle des Vorreiters für eine solche Politik in der deutschen Parteienlandschaft übernehmen, wenn nicht die Grünen? SPD und Union wollen nicht; die FDP kann es nicht, weil sie das soziale Vertrauen verspielt hat; die «Linkspartei» verteidigt den Status quo von gestern.

Aufbruch zu neuen Ufern

Den Grünen fällt die Rolle des Reformmotors auch deshalb zu, weil sie wie niemand sonst mit der ökologischen Frage verbunden sind. Noch mehr als die rauhen Winde der Globalisierung und die demographischen Umwälzungen erfordern Klimawandel und Ressourcenkrise eine Politik der Erneuerung. So bedrohlich die Szenarien eines außer Kontrolle geratenen Klimas auch sind, so fatal wäre es, vor allem Katastrophenangst zu verbreiten. Eine Inflation von Horrorszenarien lähmt eher, als dass sie zum Handeln ermutigt. Wir werden die Gefahren des Treibhauseffekts und eines darwinistischen Kampfs um knapper werdende Ressourcen nur eindämmen können, wenn der Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise nicht als Notprogramm erscheint, sondern als Aufbruch zu neuen Ufern.

«Going green» bedeutet nicht das Ende des Wohlstands, sondern einen großen Sprung aus der Kohlenstoffzeit ins Solarzeitalter. Im Abschied von Öl und Kohle liegen jede Menge Chancen – für neue Technologien, neue Märkte, neue Jobs und für ein besseres Leben. Vierzig Prozent weniger Kohlendioxid-Emissionen bis 2020, neunzig Prozent weniger bis zur Mitte des Jahrhunderts, das ist nichts weniger als eine neue industrielle Revolution. Wir stehen vor einer Zeit großer Erfindungen und rascher Innovationen in allen Bereichen – eine großartige Gelegenheit für junge Menschen, die die Welt von morgen mitgestalten wollen.

Wir dürfen weder die Herausforderung noch die Chancen kleinreden, die in einer solchen Transformation liegen. Es gilt, dafür eine Sprache des Aufbruchs zu finden, wie sie auf ihre Weise John F. Kennedy, Willy Brandt, Petra Kelly, der späte Al Gore und jetzt Barack Obama gefunden haben. Politik, die den Bürgern nichts abverlangt, ist Politikversagen. Die Kunst besteht darin, den Mut zum Wandel zu mobilisieren. Er kann nur entstehen in einem Klima des demokratischen und sozialen Vertrauens. Reformpolitik, die sich nicht auf die aktive Mitarbeit der Gesellschaft stützen kann, ist zum Scheitern verurteilt. Diese Bereitschaft zu mobilisieren, den notwendigen Wandel mit Mut und Augenmaß anzugehen, dafür sollten wir die Wahlen des kommenden Jahres nutzen.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.

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