Album mit Unschärfen

Dr. Habbo Knoch

Von Habbo Knoch

Thesen zum "kollektiven Bildhaushalt" der Bundesrepublik

Im zweiten Band von Gerhard Pauls "Bilderatlas" zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts werden 60 "Schlüsselbilder" oder "Medienikonen" mitsamt vielfältiger visueller Querbezüge analysiert, die Politisches, Kulturelles oder Soziales aus den ersten sechs Jahrzehnten der Bundesrepublik repräsentieren. Schon die beeindruckende Fülle der Leitbilder und der korrespondierenden Abbildungen zeigt: So einfach ist es mit dem "kollektiven Bildhaushalt" (der Bundesrepublik – inzwischen auch: welcher?) nicht. Zumal empirische Studien dazu weitgehend fehlen und der Schritt von der Medien- zur Mentalitätsanalyse noch nicht getan ist.

Ohne systematischen Anspruch habe ich deshalb einmal im (westdeutsch geprägten) Familien- und Freundeskreis gefragt: "Welche fünf Bilder fallen Euch spontan zur Geschichte der Bundesrepublik ein?" Einige Ergebnisse:

  • Manche der Befragten hatten bereits Schwierigkeiten, mehr als drei oder vier Bilder (oder überhaupt: "Bilder" unabhängig von "Erinnerungen"“) zu nennen.

  • Ältere Befragte, die in der Kriegs- oder Nachkriegszeit aufgewachsen sind, nannten zwar politische Momente oder Themen wie Flucht und Vertreibung, die Gründung der Bundesrepublik oder den Mauerbau, erinnerten dabei jedoch an individuelle Erfahrungen, die keinem bestimmten Medienbild zugeordnet werden konnten.

  • Am meisten genannt, und dies über die Generationen hinweg: Willy Brandts Kniefall an der Gedächtniswand des Warschauer Ghettos (unter den Kürzeln "Brandt in Warschau" oder "Brandt in Polen") und jubelnde Menschen auf der Berliner Mauer am Tag des Mauerfalls. Bei letzterem war nicht immer eindeutig, ob eine Fotografie (und welche) oder eine Fernsehsequenz erinnert wurde.

  • Generationell unterschiedlich wurden weitere Leitbilder genannt: Kennedy bei seiner Rede in Berlin, Armstrongs Mondlandung, das "Spiegel-Titelbild" des entführten Hanns-Martin Schleyer, Joschka Fischer in Turnschuhen bei seiner Vereidigung.

Daraus möchte ich für das "Bildgedächtnis" der Bundesrepublik Folgendes thesenartig ableiten:

  • Von mir gestellte offene Frage evozierte vor allem Bildeindrücke in Verbindung mit politischen Daten der Bundesrepublik. Weder eine globale, transnationale Wahrnehmung noch soziale oder kulturelle Themen spielten eine nennenswerte Rolle. Vielleicht spiegelt das tiefgründige Assoziationen mit der (alten) "Bundesrepublik" wider.

  • Die "alte" Bundesrepublik hat nicht viele eigene Bildeindrücke nachhaltiger Art hinterlassen. Latente Prägungen dürften deutlich ausgeprägter sein. Es ließe sich vermuten, dass bei einem umgekehrten Verfahrenstext zur Bekanntheit der bei Paul versammelten Bilder weit höhere Kenntniswerte erzielt würden. Die Macht der Bilder gehörte nicht vordringlich zum politischen Spektrum oder zur aktiven Identitätsbildung. Insofern ist - anders als in "Propagandakulturen" – von einer eher unscharfen Bildlandschaft und einer wenig konturierten Prägung der politischen Bürgerlichkeit durch "Schlüsselbilder" oder "Medienikonen" auszugehen.

  • Art und Bilder der Erinnerung sind zum guten Teil generationsabhängig, und selbst die (wenigen) verallgemeinerten Medienikonen stehen oft noch in biographischen Prägungszusammenhängen. Das gilt beispielhaft für die "68er"-Bewegung mit einer hohen postidentifikatorischen Prägung durch das Bild vom Tod Benno Ohnesorgs; es trennt zwischen Zugehörigkeit und Betrachtung. Je weiter das erinnerte Momentum in die eigene Lebensgeschichte zurückreicht, desto stärker werden persönlich damit verbundene Erfahrungen und desto verschwommener erscheinen Medienbilder selbst.

  • Nicht zufällig stammte die Mehrzahl der erinnerten Bilder aus den 1960er Jahren: der Hochphase des politischen Bildjournalismus in der Bundesrepublik, noch vor der Durchsetzung des Fernsehzeitalters, also aus einer Phase, als die Reportagefotografie sich gerade durch ambitionierte Aufnahmen gegen die "laufenden Bilder" zu profilieren versuchte.

  • Manche Ereignis-Bild-Komplexe können generationsübergreifende Referenzräume schaffen, so Brandts Kniefall und der Berliner Mauerfall. Sie müssen über ihre lebensgeschichtlich sozialisierende Funktion eine mnemische Energie aufweisen, die auch anderen Medienstrukturen standhält.

  • Die Mehrzahl der genannten Bilder zeigte als Einzelne oder Gruppe erkennbare Menschen, meist bekannte Personen. Identifizierbarkeit und "Humanum" dienen als Erinnerungstrigger, nicht selten verbunden mit Emotionsgesten, Grenzüberschreitungen, Regelverletzungen oder Leidensmomenten, die für das Ereignishafte des Moments stehen. Konkretes, Menschliches, Bewegendes hat sich medial im Gedächtnis festgesetzt.

  • Je mehr die Erinnerung sich der Gegenwart nähert, desto verschwommener werden die Bildeindrücke hinsichtlich der Frage, ob es sich um fotografische oder filmische - zu ergänzen auch: semidokumentarische oder fiktiv-narrative - Bilder handelt. Die Randschärfe von "Medienikonen" wird durch die Vielfalt und Fülle laufender Bilder und der Verschiebung medialer Dispositive undeutlich und selbst für die Erinnernden bisweilen bis zur Unkenntlichkeit überschrieben.

  • Die genannten Beispiele endeten etwa zwei Jahrzehnte vor der Gegenwart. Gerade die seit der Jahrtausendwende im Zeichen einer wachsenden medialen Bildanalyse diskutierten Ereignisse wie "9/11" oder "Abu Ghraib" wurden offenkundig nicht zur Geschichte der "Bundesrepublik" dazugerechnet. Die Globalisierung, Beschleunigung und Pluralisierung der Berichtswelt durch die sofortige Verfügbarkeit von Bildern jeglicher Art im "digital age" ist in Verbindung mit "Bildgedächtnis" und "Bundesrepublik" noch nicht angekommen.

Das hat Folgen für die Betrachtung des Verhältnisses von Bildgedächtnis, kollektiver Erinnerung und Repräsentation:

  • Jede kritische Analyse von öffentlichen und, seltener noch, privaten Bildhaushalten, wie sie nun vermehrt im Zeichen des "iconic turn" durchgeführt werden, produziert ihr eigenes Gedächtnisarchiv und stellt (wie Gerhard Paul im Übrigen auch konstatiert und methodisch reflektiert) eine subjektive oder intersubjektiv im Kollegenkreis begründete Auswahl dar. Hinsichtlich ihrer medialen Breiten- und Tiefenwirkung korrespondiert sie nur eingeschränkt mit dem kollektiven Bildgedächtnis, das sich eher als Abbild einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft darstellt. Es ist akzidentieller, generationeller, biographischer, sozialer und damit individueller geprägt, als es das mediale Bildgeflecht erscheinen lässt.

  • Es gibt Bilder, die eine mnemische Energie derart entfalten, dass sie über generationelle, soziale oder sogar kulturelle Grenzen hinweg wirken und über verallgemeinerbare Stilelemente auch Sehweisen prägen. Einen für die Jahrzehnte der Bundesrepublik bis in die globale Gegenwart prägenden Stil hat die "humanitäre Fotografie" etabliert, der ein auf emotionale Parteinahme und Identifikation zielender medialer Raum entspricht. Der Begriff "Ikone" sollte für Aufnahmen dieser Art reserviert bleiben, um Beliebigkeit zu vermeiden und alles zur Ikone zu (v)erklären, was im Zuge der massenmedialen Intensivierung von Publikations- und Abbildungsmöglichkeiten zum Populärbild geworden ist.

  • Mediale und kollektive Bildhaushalte sind eng verwobene, aber bei weitem nicht deckungsgleiche Gebilde, die jeweils eigene Regeln und Dispositive aufweisen. Insbesondere verändern sie sich für sich und zueinander diachron - durch Aufschichtungen und Verschiebungen in den medialen Strukturen (mehr "Film" statt "Foto", "digitale" statt "papierner" Verbreitung) oder durch die variierende Valenz von autobiographischen Erinnerungen.

  • Je stärker Ereignisse der Frühgeschichte der Bundesrepublik (und der DDR) historisiert werden, desto prägender dürften nichtdokumentarische Bildeindrücke werden, gerade was emotionale (nicht selten ins Melodramatische gehende) Subtexte der historischen Erinnerung angeht.

  • Mediale Bildhaushalte sind durch bestimmte Häufungen, komplexe Vernetzungen und vielfältige Abstufungen organisiert, in denen sich Stile, technische Möglichkeiten, politische und ökonomische Setzungen, zum gewissen Teil auch Rezeptionsgewohnheiten niederschlagen. Für die kollektive Erinnerung an die Bundesrepublik ist eine eher schwache Prägung durch politische Leitbilder kennzeichnend - Ausdruck einer nie wirklich bis zum "Mauerfall" beendeten Identitätssuche und einer korrespondierenden politischen Sachlichkeit.

  • Nicht in den politischen Ereignissen oder Momenten der Bundesrepublik, sondern in der ungleich dichteren, aber breiter angelegten und damit unschärferen Bildkultur der ökonomischen Wirtschaftswundergesellschaft und sozialen Überflusskultur kommen sich medialer und individueller Bildhaushalt der Gesellschaft zumindest zwischen 1949 und 1989 am nächsten. Die Ausstattung des eigenen Bilderalbums mit den Zeugnissen von Konsumerfahrung und Reiseglück hat die Sicherheitsreserve der "Volksgemeinschaft" in die lange Zeit so bieder wirkende Bundesrepublik mitgenommen und das optische Nest für den politischen Höhenkamm zumindest bis in die 1990er Jahre gewährleistet. Vereinigung, Globalisierung und Digitalisierung haben diese Projektionsfläche bundesrepublikanischer Vergemeinschaftung zu einem immer unschärfer werdenden Gedächtnisrelief werden lassen, während die neue Formation selbst noch keine klaren Konturen angenommen hat.


PD Dr. Habbo Knoch
Geschäftsführer
Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten

Autor von Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur