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Das afghanische Trauma der Ungerechtigkeit zu heilen braucht Zeit

20. Januar 2010
Das Interview führte Johannes Kode.
Herr Rafiee, 2009 sagten Sie, die deutsche Aufstockung der finanziellen Hilfe für Infrastruktur und Governance-Projekte sei nicht effektiv, da die eingesetzten Provincial Reconstruction Teams kontraproduktiv seien*. Wie könnte die finanzielle Unterstützung besser genutzt werden?

Aziz Rafiee: Politisierung und Militarisierung von Hilfe in Afghanistan sind kontraproduktiv. Je mehr wir die finanzielle Hilfe von der militärischen und politischen Perspektive trennen, desto effektiver können die Gelder genutzt werden; denn so stehen sie direkt den Menschen zur Verfügung. Wir sollten hier die afghanische Zivilgesellschaft und NGOs für Entwicklung, Wiederaufbau und Sanierung einspannen. So ließen sich die Mittel produktiver einsetzen. Die Afghanen würden direkt profitieren.

Sie argumentierten seinerzeit, dass ein kluger Einsatz der derzeit für das Militär eingesetzten finanziellen Mittel für die Entwicklung von Infrastruktur verhindern würde, dass nach dem Abzug der ISAF-Truppen das Land im Chaos versinke. Wer schützt Afghanistan vor einem Rückfall in ein Regime mit eingeschränkten Menschenrechten?

Aziz Rafiee: Ich rechne nicht mit einem Abzug in den kommenden Jahren. Afghanistan hat derzeit keine militärische Lösung. Das Land leidet unter drei Problemen, die wir angehen müssen, damit das Land kein verlorener Fall wird. Das erste ist Gerechtigkeit. Wir haben keine Gerechtigkeit. Menschen, die Gesetze gebrochen und anderen Gewalt angetan haben, die in Drogendelikte, Straftaten und Kriegverbrechen involviert waren, sind immer noch an der Macht. Wenn wir keine funktionierenden rechtlichen Institutionen errichten, werden wir die Probleme für die Zukunft nicht angehen können. Aber auch die Frage nach der Macht im Land muss gestellt werden.

Die internationale Gemeinschaft sagt: “Stabilität ist die Voraussetzung für den Wiederaufbau in Afghanistan.” – Ich denke dagegen, Recht und Gerechtigkeit sind die Voraussetzungen für alles. Wenn wir den Menschen dies nicht und zudem keine Versöhnung bieten, ist Stabilität nicht möglich.

Für mich ist es nicht rechtens, wenn Menschen exekutiert werden und noch mehr Menschen ihr Leben verlieren. Gerechtigkeit ist in erster Linie das Eingeständnis der Greueltaten. Gerechtigkeit muss das afghanische Trauma der Ungerechtigkeit heilen – 30 Jahre voll Gewalt und Krieg. Wir brauchen ein Wort der Entschuldigung von jenen, die töteten und all die Verbrechen begingen.

Was muss eine solche Gerechtigkeit enthalten?
 
Aziz Rafiee: Die Gerechtigkeit muss von einer sozialen Perspektive aus gedacht werden. Schritt für Schritt sollte zudem das Konzept der Transistional Justice umgesetzt werden. So schließen wir niemanden von der Gesellschaft aus. Wir haben hier ernsthafte Probleme durch Ungerechtigkeit. Als Beispiel zitiere ich ein Mitglied der Zivilgesellschaft: “Der Chef eines Polizeihauptquartiers in einer der Provinzen, der eine Straftat gegen meine Familie begangen hatte, wollte das ich gegen das Hauptquartier klage. Das ist aber unmöglich. Ich kann nichts gegen ihn machen. Er ist nach wie vor an der Macht. Ich kann ihn nicht verklagen.” Solche Situationen können wir nicht akzeptieren.

Wenn wir Recht und Gerechtigkeit hergestellt haben, müssen Armutsbekämpfung, Wiederaufbau, Entwicklung und Sicherheit durch gute Politik angegangen werden.

Was kann die Zivilgesellschaft tun, um diese Probleme anzugehen?

Aziz Rafiee: Die Zivilgesellschaft ist ein wichtiger Bestandteil bei der Verbreitung von demokratischen Werten. Wir müssen sicherstellen, dass die Menschen die Werte internalisieren und dabei verstehen, dass sie die Eigentümer des Landes sind. Auch die bestärkenden Erfahrungen von Capacity Building sind sehr wichtig. Wenn die Bevölkerung nicht sieht, dass die Projekte die eigenen sind, werden sie nicht geschützt und langfristig erhalten. Die Zivilgesellschaft ist Wegbereiter für funktionierende Aufbauprozesse.

Was könnte Deutschlands Beitrag für die Aufbauprozesse sein?

Aziz Rafiee: Zuallererst sollte Deutschland die Aufbauarbeit intensivieren und dabei den Aufbau der afghanischen Polizei und des Militärs beschleunigen, so dass sie die Führung beim Aufbau übernehmen können. Zweitens sollten die Deutschen, in enger Kooperation mit anderen NATO Nationen, den Afghanen helfen, ihre Sicherheit auf lokaler, nationaler und regionaler Ebene selbst in die Hand zu nehmen.

Wir leiden unter einem Defizit an Koordination zwischen verschiedenen Akteuren und Nationen. Die Mehrheit der Akteure kennt nicht die Pläne der anderen. Es gibt ein Defizit, was die Koordination zwischen den ausländischen und der afghanischen Regierung angeht. Dies verursacht ein Desaster. Teilweise sind dabei die Konsequenzen so gravierend, dass wir alle die Opfer sind.

Der letzte Vorschlag betrifft eine tragfähige regionale Kooperation zwischen Afghanistan und den Nachbarstaaten, einschließlich einer umfassenden diplomatischen Anerkennung der Afghanen auf regionaler und internationaler Ebene.

Welche Rolle spielen die Medien für die Arbeit der Zivilgesellchaft?

Aziz Rafiee: Medien betreffen sämtliche Bereiche. Sie sind Teil der Bewusstwerdung, Fürsprecher für Forderungen, Teil öffentlicher Einflussnahme. Sie beeinflussen Politik und den Aufbau. Sie helfen, Werte, Prinzipien und demokratische Prozeduren zu verstehen – was sehr wichtig ist. Die afghanischen Medien haben sich gut entwickelt. Ich muss aber sagen: noch nicht genug. Wir müssen weiterhin Fortschritte erzielen.

Es muss sichergestellt werden, dass die afghanische Regierung sich längerfristig zur Meinungsfreiheit bekennt. Diese darf nicht, wie gegenwärtig, missachtet werden, da wir auf die London Conference zugehen und über ein Aussöhnungsprogramm sprechen.

Wir wissen noch nicht, was wir auf der Konferenz für die Aussöhnung opfern werden - entweder die Frauenrechte, Meinungsfreiheit oder Demokratie. Ansonsten werden die Taliban sich nicht mit uns an einen Tisch setzen.

Was erwarten Sie von dem Ergebnis der "London Conference on Afghanistan"?

Aziz Rafiee: Ich bin sehr optimistisch. Zumindest werden wir dort über wichtige Themen sprechen. Eines davon wird die Kooperation zwischen den Akteuren sein, was ich sehr positiv sehe. Das zweite Thema ist Aufbau und Sicherheit im Land. Ich hoffe auch hier, dass Ergebnisse erreicht werden. Drittens wird es um die Aussöhnung gehen. Wir wissen aber noch nicht, in welcher Form dies den Afghanen bezüglich zukünftiger Solidarität und Frieden helfen wird.

Die deutsche Bischöfin Frau Käßmann schlug unlängst vor, dass "religiös motivierte Akteure in Konfliktsituationen vermitteln" sollten. Sie unterrichten Afghanen in Mediation. Welches Potenzial steckt in solch’ einem Bestreben?

Aziz Rafiee: Mein Argument zu Verhandlungen, Aussöhnungen, Debatten und Gesprächen: Man kann nur Themen mit Menschen verhandeln, mit denen man fundamentale Werte teilt. Es ist sehr wichtig für uns, zu verstehen, mit wem wir sprechen. Wenn sie gleiche Werte wie wir vertreten, ja, dann können wir mit ihnen zusammenarbeiten.

Eines der Probleme innerhalb der afghanischen Opposition, insbesondere mit Al Qaida und der Mehrheit der fundamentalistischen Gruppierungen, ist, dass wir keine gemeinsamen Werte haben. Unsere Diskussionen und Verhandlungen führen nicht zu einem gemeinsamen Fazit oder gar einem Ergebnis.

Wir glauben an Meinungsfreiheit, wir glauben an Demokratie, wir glauben an Frauenrechte und die Mobilität der Frauen. Die anderen tun dies nicht. Der Krieg in Afghanistan ist eine Frage der Legitimität und Werte.

…Sie plädieren für militärische Stärke, wenn es um Bedrohungen durch Fundamentalisten geht?

Aziz Rafiee: An diesem Punkt ist es ein Erfordernis, ja – aber nicht in der Zukunft. Zu dem Zeitpunkt, wo die Afghanen mehr Stärke gewonnen haben, können wir zu einem nächsten Schritt in Sachen Verhandlungen kommen.

Gehen Sie also davon aus, dass die Taliban letztlich verhandeln werden und dabei Meinungsfreiheit, Menschenrechte und Demokratie als feste Werte akzeptieren?

Aziz Rafiee: Ich zweifle daran.

Wann wird Afghanistan selbst in der Lage sein, Sicherheit für die Bevölkerung zu gewährleisten?

Aziz Rafiee: Ich glaube, das wird noch eine längere Zeit dauern. Gestern sagte ich gerade in einer Diskussion, dass es eventuell noch 30 Jahre dauern wird; die derzeitige Entwicklungsgeschwindigkeit vorausgesetzt. Letztlich hängt es von der Kraft der Afghanen ab und von den Kapazitäten und Fähigkeiten der afghanischen Armee und Polizei.
 
Wo sehen Sie Afghanistan 2013?

Aziz Rafiee: Afghanistan wird in sehr viel besserem Zustand sein. Es regiert dann das zweite gewählte Parlament. Afghanistan wird den Aufbau für die Bevölkerung ausweiten und es wird eine neue demokratische Bewegung geben.

Könnten die internationalen Militärkräfte bis dahin das Land verlassen haben?

Aziz Rafiee: Nicht alle, aber einige, ja.

* PRT sind in den Provinzen Afghanistans operierende Einheiten für Wiederaufbau. Sie unterliegen entweder dem Kommando der ISAF oder des Combined Forces Command-Afghanistan (CFC-A).

Das Interview führte Johannes Kode, Heinrich-Böll-Stiftung.

Dossier

London 2010: Erneute Chance für Afghanistan?

Beiträge, Analysen und Kommentare aus Afghanistan, Pakistan, Indien und Deutschland zur aktuellen Lage und den Entwicklungschancen Afghanistans anlässlich der internationalen Afghanistan-Konferenz Ende Januar 2010 in London.