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Laudatio auf Ingrid Betancourt von Marie Nagy, Senatorin Grüne Partei "Ecolo", Belgien

Lesedauer: 5 Minuten

Übersetzung aus dem Französischen

31. Juli 2008
Liebe Freunde,

Kolumbien ist ein Land der traurigen Rekorde: weltweit die meisten ermordeten Gewerkschafter und Journalisten, die meisten wegen Lösegeld oder aus politischen Gründen entführten Personen. Und Kolumbien ist ein Land mit tagtäglicher Gewalt, ein Land im Kriegszustand, in dem die Armee nur einen Teil des Territoriums kontrolliert. Die Sozialstruktur ist vom Drogenhandel zerrüttet. Die ökonomischen Ungleichheiten, das Versagen des Staates beim Erfüllen der für das Überleben der Bevölkerung unverzichtbaren Voraussetzungen wie die Garantie, in Sicherheit leben zu können oder über ein Gesundheits- und Bildungssystem zu verfügen, schaffen weitreichende Ungerechtigkeiten und erlauben der Mehrheit der Bevölkerung nicht, unter annehmbaren Bedingungen zu leben. Kolumbien ist ein Land, das denen ausgeliefert ist, die über Waffen verfügen: den kriminellen Banden, den Drogenhändlern, den Paramilitärs, der Guerilla, der kolumbianischen Armee. Das kolumbianische Volk, Geisel der sich Bekämpfenden, konnte bis zum heutigen Tag keine Alternative entwickeln. Die neue Regierung versucht, eine Lösung zu finden, doch macht sich niemand Illusionen, jeder weiß, dass es einer grundlegenden Veränderung bedarf.

Schwer zu ermessen ist das Maß an Opfer, das Journalisten, Juristen, Politiker, Kämpfer für Menschenrechte, Gewerkschafter, führende Vertreter der Indios und andere erbrachten, die zu Tausenden starben, weil sie es wagten, sich gegen diese Zustände zu erheben. Ich möchte daran erinnern, um den Mut zu betonen, den das kolumbianischen Volk aufbringt, trotz der schier unlösbaren Situation, in der es sich befindet. Es ist fast überflüssig zu sagen, dass die Straffreiheit für die Mehrheit der Täter das dramatische Bild des heutigen Kolumbien noch krasser zeichnet und die Schwierigkeit der Aufgabe veranschaulicht.

Zu den bedeutenden Gestalten, die Kolumbien in den letzten Jahren prägten, gehört jene, die, obwohl heute Abend physisch abwesend, im Mittelpunkt unserer Begegnung steht: Ingrid Betancourt, Senatorin, grüne Kandidatin bei den letzten Präsidentschaftswahlen in Kolumbien.

Was kann man über Ingrid Betancourt sagen? Sie kennen gewiss ihren persönlichen Werdegang. Was mich besonders berührt ist ihr Mut, ihre Entschlossenheit, die Stimmigkeit ihrer Vorschläge.

Ihr Mut: In einem Land, zweimal so groß wie Frankreich, von Gewalt geschüttelt, und in dem sie selbst Gegenstand von Todesdrohungen war, wird sie nicht müde, sich überall hin zu begeben, um den Menschen mit ihren Problemen zu begegnen. Sie tut es, weil sie der Ansicht ist, dass dies zu ihrer Arbeit als Abgeordnete und als Kandidatin für das Präsidentenamt gehört, trotz des Bewusstseins ständiger Gefährdung.

Ihre Entschlossenheit: Ingrid Betancourt hat den Kampf mit dem Übel aufgenommen, das sie als Hindernis für die Lösung aller Probleme Kolumbiens betrachtet – die Korruption. Sie entlarvt die Skandale, die Verbindungen ihrer eigenen Kollegen mit der Welt des Drogenhandels, sie führt Jahr um Jahr denselben Kampf, zunächst in der Kammer, dann als Senatorin, schließlich als Präsidentschaftskandidatin. Das bringt ihr Spott, Beschimpfungen, Drohungen, aber auch die Unterstützung ihrer Wähler ein.

Die Stimmigkeit ihrer Vorschläge: Ingrid Betancourt begnügt sich nicht damit, die Probleme zu benennen, sie entwickelt auch ein politisches Programm, das mit der notwendigen politischen Reform beginnt, um die Beauftragten von den großzügigen Spendern von Fonds in den Wahlkampagnen weniger abhängig zu machen, um sie vom Filz zu befreien, der das kolumbianische Parlament aushöhlt.

Ingrid Betancourt besaß ferner die politische Klugheit, ihre Bewegung zu verbinden mit der internationalen politischen Kraft, die am meisten auf Neuerungen setzt, die die nachhaltige Entwicklung, den vernünftigen Umgang mit den Ressourcen in den Vordergrund stellt, das heißt mit der internationalen politischen Ökologie. Die Entwicklung eines Landes wie Kolumbien, das reich an Rohstoffen, an biologischer Vielfalt ist und gegen ernste Umweltprobleme kämpft, die mit der Verwendung von Pestiziden verbunden sind, im Rahmen der Ökologie zu denken, ist vielversprechend für die Zukunft.

Ihr politisches Programm ist ferner auf die notwendige Umverteilung der Reichtümer gerichtet, und zwar sowohl des Bodens als auch der Einkommen. Ingrid Betancourt wollte durch einen notwendigen Dialog mit den FARC und den anderen bewaffneten Bewegungen in Kolumbien den politischen Akteuren ihre Verantwortung bewusst machen. Sie war davon überzeugt, dass ein Ende der gewalttätigen Auseinandersetzungen in Kolumbien nur durch Verhandlungen und Dialog zu finden wäre.

Doch den größten Eindruck, den man aus der Begegnung mit der Persönlichkeit Ingrid Betancourts gewinnt, ist die Kraft, die sie ausstrahlt, und ihre Vision, dank der sie sich allein oder fast allein in diesen schrecklichen Kampf stürzt. Sie will überzeugen, erklären, bloßlegen. Zu sehen wie sich diese Frau der Herausforderung stellt, ist eine Lektion über Mut und Sinn für das Gemeinwesen.

Der Kampf Ingrid Betancourts muss fortgesetzt werden, zunächst um ihre Befreiung und die der anderen Geiseln zu erzwingen. Sie riskiert jeden Tag ihr Leben. Wir müssen uns dessen bewusst sein und die kolumbianischen Behörden dazu bewegen, alles zu tun, damit Entführungen als politische Waffe verhindert werden. Ferner gilt es, ihren Kampf fortzusetzen, weil alle Probleme, die sie herausgestellt hat, alle Lösungen, die sie vorgeschlagen hat, nach wie vor aktuell sind.

Gestern erst gab es wieder 25 Tote in Kolumbien, als Folge eines in die Luft gesprengten Autos und eines Attentats gegen den Präsidenten.  Die vom Kolumbienplan vorgeschlagenen Wege – Militarisierung mit amerikanischer Hilfe und Zerstörung des Coca-Anbaus durch Ausräucherung – sind keine dauerhaften Lösungen. Sie werden nicht zu Frieden und Gerechtigkeit führen. Kolumbien braucht Männer und Frauen wie Ingrid, die in der Lage sind, eine politische Antwort anzubieten und sie ehrlich, im Interesse der Menschen, durchzusetzen.

Gestatten Sie mir den Wunsch auszusprechen, dass dieser Preis ebenso wie die große Solidaritätsbewegung, die Ingrid Betancourt zur Ehrenbürgerin vieler Städte und Gemeinden gemacht hat, der Sache ihrer Befreiung sowie der der anderen Geiseln der FARC dienen möge.