Faire Aufstiegschancen - die neue soziale Frage

Lesedauer: 5 Minuten

29. Januar 2010
Von Ralf Fücks


Über die Bundesrepublik als „Aufsteigerrepublik“ zu reden, hat etwas Antizyklisches. Der Begriff schwimmt sozusagen gegen den Strom des Zeitgeists, der stärker von Abstiegsängsten als Aufstiegshoffnungen geprägt ist, zumal angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise.

Die öffentliche Debatte dreht sich um die Erosion der Mittelschichten und die wachsende Armut in einer immer noch wohlhabenden Gesellschaft. „Hartz IV“ ist zum Synonym für soziale Deklassierung geworden, die auch Facharbeiter und Angestellte bedroht. Gleichzeitig haben empirische Studien gezeigt, dass unser Bildungssystem sozial hoch selektiv ist: Bildungserfolg in Deutschland hängt stark von der sozialen Herkunft ab.

Besonders beunruhigend wird es, wenn soziale Randlage, Bildungsarmut und ethnische Herkunft zusammenfallen. Die Tendenz zur Verfestigung eines migrantischen Prekariats birgt jede Menge sozialen und politischen Sprengstoff. Zwar haben wir Zehntausende Erfolgsgeschichten von Menschen mit dem berühmten Migrationshintergrund, aber sie erscheinen immer noch eher als Ausnahme denn als Regel, und oft genug mussten sie sich gegen vielfältige Widerstände, offene und verdeckte Diskriminierungen durchbeißen.

Es beißt die Maus keinen Faden ab, dass der soziale Fahrstuhl nach oben bei uns wie in den meisten europäischen Ländern nicht gut funktioniert. Für eine Einwanderungsgesellschaft ist das fatal. Denn Integration kann nur funktionieren, wenn sie mit der Chance zum sozialen Aufstieg aus eigener Kraft verbunden ist. In vielen Großstädten kommt bereits die Hälfte der Kinder aus Migrantenfamilien. Welche Ziele sie sich setzen, welche Erwartungen sie hegen, mit welcher Haltung sie ihr eigenes Leben angehen, ist eine Schlüsselfrage nicht nur für ihre eigene Zukunft. Auch der künftige Wohlstand der Bundesrepublik hängt davon ab, wie viele Forscher, Unternehmer, Experten aus ihren Reihen hervorgehen.

Wir sollten uns nicht einbilden, den Bedarf an Hochqualifizierten in nennenswertem Umfang aus anderen Ländern anwerben zu können. Die größte und wichtigste Talentreserve haben wir im eigenen Land, bei den Kindern und Jugendlichen, die hier geboren wurden und werden. Um ihnen eine reelle Aufstiegsperspektive zu bieten, muss das gesamte Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Universität auf den Prüfstand; ebenso die Einstiegs- und Aufstiegschancen von Migrantinnen und Migranten in Unternehmen und öffentlicher Verwaltung.

Es wäre aber zu kurz gesprungen, das Problem - und die Verheißung – sozialen Aufstiegs auf eine Migrationsfrage zu verkürzen. Es war und ist das große Versprechen der „sozialen Marktwirtschaft“, die Klassengesellschaft zu überwinden, indem sie soziale Aufstiegschancen für alle gewährleistet. Ludwigs Erhard Parole vom „Wohlstand für alle“ war ja nicht in erster Linie ein staatliches Umverteilungsprogramm. Es ging – und geht immer noch – darum, dass der Staat die Einzelnen dabei unterstützt, eine möglichst gute Bildung und Ausbildung zu erwerben und beruflich erfolgreich zu sein, und zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.

Eine Sozialordnung, die Lebenschancen an die Herkunft bindet und Kindern aus der Unterschicht den Weg nach oben verstellt, verliert zu Recht an Zustimmung. Das gilt erst recht angesichts der zunehmenden sozialen, kulturellen und ethnischen Vielfalt. Je heterogener eine Gesellschaften ist, desto wichtiger wird erlebte Chancengerechtigkeit für ihren Zusammenhalt. Chancengleichheit ist eine republikanische Errungenschaft. Sie erweitert den rechtlichen und politischen Gleichheitsanspruch der Demokratie auf die soziale Sphäre.

Damit keine falschen Gegensätze aufgebaut werden: Soziale Aufwärtsmobilität macht eine armutsfeste Grundsicherung nicht überflüssig. Nicht alle werden ihren Weg nach oben machen und für sich selbst sorgen können. Aber das soziale Auffangnetz, das Schutz vor den Wechselfällen des Lebens bieten soll, muss ergänzt werden durch die Aussicht für jeden einzelnen, aus eigener Kraft erfolgreich zu sein. Wenn wir den Sozialstaat zukunftsfest machen wollen, müssen wir soziale Solidarität und Leistungsorientierung kombinieren, statt sie gegeneinander auszuspielen.

Wir werden diese Fragen in einer neuen Reihe der Stiftung verhandeln, die sich mit Chancengerechtigkeit und Aufstiegsmobilität befasst. Diese Themen sind zu wichtig, um sie rechts liegen zu lassen. Es ist eine plumpe Verballhornung, wenn etwa die FDP das Prinzip Leistungsgerechtigkeit auf den Schlachtruf „Mehr Netto vom Brutto“ verkürzt. Uns jedenfalls geht es um die Erneuerung der sozialen Demokratie.

Dass wir damit nicht ganz schief liegen, zeigt nicht nur das Buch des Integrationsministers von NRW- Armin Laschet „Die Aufsteigerrepublik. Zuwanderung als Chance“. Fast gleichzeitig veröffentlichte die Vodafone-Stiftung einen Band mit dem Titel "Zwischen Illusion und Verheißung: Soziale Mobilität in Deutschland"; das Roman Herzog Institut gab eine Studie zum "Recht auf Aufstieg" heraus; und aus den Reihen der SPD haben Klaus Wowereit und Michael Müller ein Strategiepapier "Arbeit, Bildung, soziale Gerechtigkeit" verfasst, in dem es um Chancen zum sozialen Aufstieg geht.

In Großbritannien wurde eine Independent Commission on Social Mobility eingerichtet, und in den USA hat sich Präsident Obama die Erneuerung des „amerikanischen Traums“ auf die Fahnen geschrieben. Die Frage nach fairen Aufstiegschancen ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist!

Veranstaltungsreihe "Was ist der deutsche Traum?"

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.

Zum Warenkorb hinzugefügt: