Von Sigrid Löffler
Der deutsche Titel ist eine leichte Verharmlosung. Der türkische Originaltitel lautet: MÜLL. Und gemeint sind nicht nur die Müllberge am Schmutzrand von Istanbul, sondern auch die Menschen, die im Müll und vom Müll leben, und die selbst zum gesellschaftlichen Müll geworden (vielmehr: gemacht worden) sind. Sie wurden an den Rand gedrängt, oder haben sich selbst über den Rand manövriert, in jeder Hinsicht.
Bauplan des Romans
Zwei Welten, zwei gesellschaftliche Formationen im heutigen Istanbul werden aufgestellt, werden gegeneinander gestellt wie auf einem Schachbrett. Die weiße Formation = die bürgerliche Welt; eine gewalttätige, faschistische Gesellschaft. Die weißen Figuren haben genau definierte Positionen und Kompetenzen und hierarchische Beziehungen: die Diplomatentochter und Schwiegertochter eines Putschgenerals; der weltberühmte Dirigent; die Gesellschaftsdame, die einen Salon führt, und ihre Tochter, die Musikwissenschaftlerin an der Universität. Die schwarze Formation ist das spiegelbildliche und seitenverkehrte Gegenstück zur weißen Formation: die Welt der Müllmenschen, der Obdachlosen und Ausgestoßenen. In der schwarzen Welt gelten genauso unbarmherzige hierarchische Rangordnungen und gnadenlose Machtverhältnisse wie in der weißen Welt. Auch die schwarzen Figuren haben genau definierte Positionen, die sie gegeneinander ausspielen. Sie haben allerdings keine individuellen Namen, sondern Funktions- oder Decknamen. Sie heißen etwa: der Vollstrecker, Dolch, die Königin der Müllberge, der Wolf, oder auch «Meuterei». Erst im Laufe des Romans wird klar, dass die schwarzen und die weißen Figuren zum Teil identisch sind: Die weißen bürgerlichen Figuren landen auf dem Müll und nehmen dort die schwarze Identität an, aber auch umgekehrt.
In zwei Erzählsträngen stellt die 35-jährige Istanbuler Journalistin und Autorin Sebnem Isigüzel zwei Frauen in ihren parallelen und doch seitenverkehrten Schicksalen in den Mittelpunkt ihres Romans, wie zwei Schachfiguren:
Schwarz und Weiß
Zwei hochbegabte junge gutbürgerliche Frauen, Leyla und Yildiz. Beide sind der Gewalt in ihren Familien ausgesetzt, sind unglücklich verheiratet und werden von ihren Familien drangsaliert und unterdrückt. Beide Frauen kehren ihrem gequälten bürgerlichen Leben den Rücken und landen auf dem Müll, mehr oder weniger freiwillig. Leyla, die Diplomatentochter, ist das größte weibliche Schachtalent der Türkei, studiert in St. Petersburg in der Schachschule von Michail Botwinnik, gemeinsam mit Garri Kasparow. Als ihre Eltern sterben, wird sie als Waisenkind in die Türkei zurückgeschickt und gerät ins Unglück. Darf nicht mehr Schachspielen, wird zwangsverheiratet mit dem alkoholsüchtigen Sohn eines Putschgenerals, wird von der Schwiegerfamilie drangsaliert und gequält, verlässt eines Tages das Haus und lebt die nächsten 18 Jahre als Obdachlose auf dem Müll.
Yildiz, die Musikwissenschaftlerin, ist ebenso unglücklich wie Leyla. Sie ist musikalisch begabt, aber sexuell verklemmt und wird von ihrer herrschsüchtigen, tyrannischen Mutter drangsaliert und ihre ganze Kindheit und Jugend hindurch gequält, nicht unähnlich Elfriede Jelineks Roman «Die Klavierspielerin». Als die Mutter eines Tages verschwindet (auf dem Müll verschwindet, wie dem Leser erst allmählich klar wird), führt Yildiz die Bestrafungsrituale weiter, denn sie hat sie inzwischen masochistisch verinnerlicht. Sie arbeitet an einer Biografie eines berühmten Dirigenten, der im Roman den Namen Karacan führt und dessen Vorbild leicht zu erkennen ist. Als diese Biografie scheitert, dreht Yildiz durch, begeht ein paar Verbrechen und flüchtet schließlich ebenfalls auf den Müll. Wie sich herausstellt, ist der Maestro die Verbindungsfigur zwischen beiden Erzählsträngen, zwischen Leyla und Yildiz.
Das brutale Elend unter den obdachlosen Müllmenschen wird drastisch und geradezu hyperrealistisch geschildert: eine schwarze Phantasmagorie, in der Schreckensfiguren, Kannibalen wie «Wolf» oder eine Organ-Mafia, ihr Unwesen treiben. Die Müllmenschen dienen auch als Versuchskaninchen für unerprobte Pharmaka, etc. Aber die Hackordnung entspricht, nur wenig zugespitzt und brutalisiert, der bürgerlichen Hackordnung. Der Roman bricht er ziemlich unvermittelt ab. Die Autorin behauptet, sie habe das Material nicht in den Griff bekommen, weshalb sie nun «Gespräche mit den handelnden Personen» anfügt, die das Missglücken des Romans kommentieren und der Autorin Vorwürfe machen. Tatsächlich folgen 100 Seiten Interviews, aus denen hervorzugehen scheint, dass es sich bei der Schachspielerin Leyla um eine tatsächliche und keine fiktive Figur handelt und dass Yildiz eine verschollene Tante von Sebnem Isigüzel ist. Die Informanten der Autorin geben ihr Zusatzinformationen, beschimpfen sie aber auch, weil sie Tatsachen verdreht oder Figuren ungünstig dargestellt habe.
Die Form des Romans ist ambitioniert, bleibt aber bruchstückhaft. Schlüsselszenen sind oft nur skizziert und nicht ausgeführt, oft aber auch in allen drastischen und grausigen, ekelerregenden Details entfaltet. Die Frage stellt sich, ob die angefügten Interviews das Eingeständnis des formalen Scheiterns sind oder literarische Absicht. Ist das Material nicht bewältigt worden? Oder ist der Roman absichtlich im Ruinenzustand belassen worden?
Sebnem Isigüzel: «Am Rand», Roman. Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann. Berlin Verlag, Berlin 2008. 431 S., 19,90 €