Möglich, nötig und dringlich
Aussichten auf das nächstes Weltsozialforum 2009 in Belém do Para
„Zum Glück sind wir im brasilianischen und nicht im biblischen Belem“, sagt Salete vom Paulo-Freire-Institut. Die Mitglieder des Internationalen Rats des Weltsozialforums nicken. Eine ruhige Atmosphäre hier, scheint’s. Belem heißt auf portugiesisch Bethlehem. Zweifellos ist das brasilianische Bethlehem auf den ersten Blick im Alltag weniger gewalttätig als der gleichnamige Ort im Westjordanland. Aber eine Wiege des Friedens ist die Stadt deswegen noch lange nicht. Genau deswegen soll dort im Januar 2009 das nächste, nämlich achte Weltsozialforum stattfinden. Zu dessen Vorbereitung war der Internationale Rat des WSF Ende Oktober in der nordbrasilianischen Stadt zusammengekommen.
Von Gaby Küppers
Amazonien besteht nicht nur aus Fauna und Flora, Botanik und Bestien.“ Geraldo von der Landlosenbewegung MST macht eine wirkungsvolle Pause und sieht seine ZuhörerInnen eindringlich an. Er sitzt an einem saalfüllenden Tischhufeisen mit rund 120 Mitgliedern und BeobachterInnen des Internationalen Rates (IR) des Weltsozialforums. Die MST hat gleich mehrere, rhetorisch immer ähnlich geschickte und geschulte VertreterInnen entsandt, um für ihren politischen Ansatz zu werben. Amazonien sei eine strategische Region für multinationale Unternehmen. So ähnlich formuliert es auch die Forschungs- und Bildungsorganisation FASE in ihrem WSF-Papier. Im Namen des Fortschritts seien Großunternehmen dabei, die Lebensgrundlagen der Region zu zerstören: „Amazonien lädt uns ein, die Entwicklungsideologie zu demaskieren.“ Damit ist die Grundausrichtung vorgegeben, die den IR orientieren wird. Amazonien soll beim WSF nicht nur ein physischer, sondern auch ein thematischer Ort sein.
„Mit dem Slogan des damaligen Präsidenten Medici, ‚Menschen ohne Land für Menschen’ begann unter der Militärdiktatur die Kolonisierung und Plünderung eines Gebiets, das keineswegs menschenleer war. Nur, die Indios im Regenwald zählten nicht“, sagt Aldalice Otterloo vom brasilianischen NR-Dachverband ABONG. Für den Bau der Panamericana, einer Straße durch den ganzen Kontinent, wurden riesige Schneisen in den Urwald geschlagen. Ökologisch war das höchst problematisch, mit Siedlern und Arbeitern wurden Krankheiten, Kriminalität und Prostitution eingeschleppt, umgekehrt vereinfachte und beschleunigte sich die Ausplünderung der Rohstoffe. Amazonien mit neun Anrainerstaaten verwandelte sich in eine höchst konfliktive Region. Um das Mündungsgebiet des Amazonas herum liegt der Bundesstaat Pará mit einem Sechstel der Gesamtfläche Brasiliens und einem guten Viertel Amazoniens. Pará hat die größten Eisenerzvorkommen der Welt und den meisten Bergbau in Brasilien, ein Rohstoffvorratslager, aus dem sich die Welt bedienen kann: traditionelle Energieträger wie Holz und Wasser ebenso wie die neuen Agrotreibstoffe, dazu Aluminium, Eisen, Lebens- und Futtermittel, Kühe. Amazonien ist zudem geostrategisches Gebiet mit US-Militärbasen in Kolumbien und Ecuador und einer französischen Militärbasis in Französisch-Guyana. Verwüstung und Verseuchung wachsen täglich.
Die den Bundesstaat Pará regierende PT (Arbeiterpartei) stellt sich als Retter dar. Auf den Konferenztischen liegen morgens Broschüren aus, mit dem sie für ihren Wirtschaftspfad wirbt. Auf der Grundlage eines Dreijahresplans soll der Übergang vom Extraktivismus (Rohstoffausbeutung) zu nachhaltiger Entwicklung mit einer wirtschaftlichen Diversifizierung gewährleistet werden. Problematisch ist allerdings, dass sich der Dreijahresplan als Teil von Lulas Wirtschaftsplan PAC versteht, dessen erklärtes Ziel Wachsen, Wachsen, Wachsen ist, was die Dimensionen der einzelnen Projekte erklärt. Die TeilnehmerInnen blätteren die Broschüre eher lustlos durch. Schulterzucken. Lula ist längst nicht mehr der Hoffnungsträger des ersten WSF. So meldet sich auch niemand im IR, um den Plan anzugreifen oder zu verteidigen. Und Ana Júlia, die PT-Gouverneurin, die eigentlich zu einem gemeinsamen Frühstück mit dem IR eingeladen hatte, war in die Schweiz geflogen, um mit Lula zusammen die Entscheidung zu bejubeln, dass Brasilien die Fußballweltmeisterschaft 2014 austragen wird.
Dafür ist der Bürgermeister von Belem erschienen, der der PT-abtrünnigen Psol angehört. Er will das WSF zum Anlass nehmen, die Stadt großflächig zu sanieren. „Für den Papst wurden anderswo auch schon mal Bretterzäune als Sichtblenden vor die Slums gestellt“, unkt ein Tischnachbar. „Mal sehen, was im Januar 2009 hier passiert ist.“ Die Powerpointpräsentation lässt Gigantomanie vermuten. Ein etliche Kilometer langer Korridor, an dem entlang saniert werden soll, soll als WSF-Laufsteg zwei Universitäten miteinander verbinden und bis zu einem als Konferenzzentrum ausgebauten Hangar und von dort in die Stadt führen. Die IR-Mitglieder schütteln den Kopf. Ein Unicampus reicht völlig für die erwarteten 100-150 000 TeilnehmerInnen. Wenn praktisch ganz Belem zum WSF wird, ist das Wir-Gefühl verloren. Niemand läuft zwei Kilometer bis zum nächsten Workshop, noch dazu in der Regenzeit Januar.
Noch ist nichts entschieden, viel kommt auf das lokale Vorbereitungskomitee an – sofern man Mitglieder aus neun Amazonasanrainerstaaten als lokal bezeichnen kann. Sie sind nach einer Reihe von Panamazonischen Treffen viel besser vernetzt als entsprechende lokale Gruppen in den vorherigen WSF-Schauplätzen. Ihr Vorschlag: Das WSF soll mit einem Panamazonischen Tag beginnen, vom Lokalen zum Globalen fortschreiten. Sie bleiben die einzige Gruppe, die Inhalte präsentiert. Die meiste Zeit geht es um technische Fragen und Zustandsberichte aus den WSF-Ausschüssen, vom Finanz- bis zum Methodologieausschuss. Der IR hat sich im Laufe der Jahre in eine Reihe von Kommissionen aufgespalten, was für eine zum großen Teil auf Freiwilligenarbeit basierende und vom Ansatz her der Transparenz und Horizontalität verpflichtete Unternehmung sicher eine richtige Entscheidung ist. Die Folge ist aber auch eine Zersplitterung, die in Zukunft von einem noch zu wählenden Liaisonkomitee wieder gekittet werden soll. Derzeit fehlen die großen Debatten und damit glücklicherweise auch manch ellenlanger, nervtötender Auftritt von Selbstdarstellern. Andererseits bedarf die wiederholt gefallene Mahnung, Erfahrungen aus sieben Jahren ernst zu nehmen und lebendig zu halten, mehr als einiger Gespräche am Mittagstisch. Denn das WSF soll kein MEE werden, kein Multinational Enterprise of Events.
Seit den Anfängen im Jahre 2000 hat sich an der Rahmenkonstellation viel geändert. „Damals ging es zentral um die Absage an das Einheitsdenken, das ‚pensamento único’, symbolisiert im Davoser Weltwirtschaftsforum“, sagt Gustavo Cobas vom brasilianischen Gewerkschaftsdachverband CUT. „Heute, im Zeitalter des Friedensnobelpreises an Al Gore, brauchen wir eine zweite Generation des Nachdenkens. Die Multis haben dazugelernt. Nächste Woche findet hier ein Kongress zum Thema ‚Nachhaltiges Amazonien’ statt, gesponsert von der Stiftung des Stahl¬giganten Vale do Rio Doce, von Banken und mitgetragen von einer Reihe NRO. Es wird über die soziale Verantwortung von Firmen (Corporate Social Responsibility) geredet werden, die Unternehmen werden sich als Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel und die Zerstörung Amazoniens präsentieren. Der PR-Arbeit der Multis haben wir eine neue Phase der Kolonisierung der Köpfe zu verdanken. Wie positionieren wir uns da?“ Gustavo Cobas Nachbar nickt und erinnert an das Plakat, das die eingeflogenen TeilnehmerInnen in der Gepäckausgabe des Flughafens großflächig begrüßte. Es ruft zum Kampf gegen Sklavenarbeit auf, unterzeichnet ausgerechnet von Vale do Rio Doce, in dessen Betrieben man eher das Gegenteil anprangert.
Ein gutes Jahr ist noch Zeit, um diese „zweite Generation des Nachdenkens“ in Gang zu bringen. „Eine andere Welt ist möglich, nötig und dringlich“, wird der WSF-Slogan von manchen erweitert. Im Januar 2008 wird es kein WSF geben, sondern einen weltumspannenden Aktionstag um den 26. Januar herum. Danach geht es neben dem Nachdenken auch um praktische Lehren aus dem letzten WSF in Nairobi, das weder ökologisch noch frei von zweifelhaftem Firmensponsering war. Und bei dem sich ein Fundamentalismus eingeschlichen hatte, an den bei der Formulierung der WSF-Charta 2001 noch niemand gedacht hatte, denjenigen nämlich der „Lebensschützer“, die zum Staunen vieler TeilnehmerInnen Antiabtreibungsdemonstrationen auf dem WSF-Gelände organisierten. Solch ein Angriff auf Frauenrechte ist mit dem Geist des WSF vollkommen unvereinbar. Aber vorstellbar in Belem, wo an jeder Straßenecke eine evangelikale Kirche steht.
aus: ila 311, Dezember 2007, Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika