Ljiljana Heise, Freie Universität Berlin
Als am 5. Dezember 1946 der erste britische Ravensbrück-Prozess eröffnet wurde, war das öffentliche und mediale Interesse groß. Mit Faszination, Neugierde, Abscheu und Irritation blickte man vornehmlich auf die sieben weiblichen Angeklagten. Sie wurden neben neun Männern zur Führungselite des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück gezählt und mussten sich als Hauptkriegsverbrecherinnen vor einem britischen Militärgericht verantworten. Bis Juli 1948 standen 22 weitere Personen – acht Männer und vierzehn Frauen – in sechs Folgeprozessen vor Gericht.
Die Tatsache, dass auch Frauen angeklagt waren, verantwortlich für Misshandlungen und Morde zu sein, galt als Abweichung von der „Normalität“ des Krieges und der Geschlechterrollen, als Ausnahme- und exzeptioneller Sonderfall des Kriegsverbrechertums – ein Urteil, das auf die damals wie heute vorherrschende Auffassung zurückzuführen ist, Krieg sei eine männliche Domäne, mit der Frauen nur gemäß der ihnen zugeschriebenen Geschlechterrolle in Verbindung zu bringen seien. So erschienen sie lange lediglich in der Rolle der Opfer, eine aktive NS-Täterschaft von Frauen wurde vielfach kritiklos ausgeschlossen.
Während der erste britische Ravensbrück-Prozess die zeitgenössische öffentliche Aufmerksamkeit erregte und das wissenschaftliche Interesse wecken konnte, stellt die Untersuchung der fünf Folgeprozesse ein Forschungsdesiderat dar. Diesem und der Tatsache, dass Geschlechterforschung noch immer überwiegend als Frauenforschung begriffen wird, begegnet meine Dissertation. Durch die Untersuchung ausgewählter Prozessverläufe männlicher und weiblicher Angeklagter wird geprüft, inwiefern die Kategorie Geschlecht in der Anklageerhebung, der Urteilsfindung, den Be- und Entschuldungsstrategien und somit in der Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung der Täterinnen und Täter sowie in der Prozessberichterstattung eine Rolle spielte. Die notwendige Kontextualisierung der Aussagen wird darüber hinaus nähere Kenntnisse über Aufgabenverteilung, Machtbefugnisse, Rekrutierungsarten, Motivationen und Machtspielräume der Konzentrationslager-SS und des „SS-Gefolges“ ergeben.
Die in den Prozessen entworfenen NS-Täter/innen/schaftsbilder wirkten über die juristische Bedeutung hinaus in die unmittelbare Nachkriegsgesellschaft hinein. Die Analyse einer die zeitgenössische Medienlandschaft repräsentierenden Auswahl britischer und deutscher Zeitungen wird Aufschluss geben, welche Profile der NS-Täter und -Täterinnen durch die Medien der Öffentlichkeit vermittelt wurden, wie es um die Akzeptanz dieser Prozesse stand und inwiefern die britischen Ravensbrück-Prozesse einen Grundstein für den gesellschaftlichen Umgang mit NS-Täter/innen/schaft legten.
Vorliegendes Promotionsprojekt wird nicht allein bisherige Forschungslücken in der Thematik „Ravensbrück-Prozesse“ schließen, sondern auch einen erheblichen Beitrag zur noch immer defizitären Erforschung der Beteiligung und Rolle von Frauen im Konzentrationslagersystem sowie zur Aufarbeitung justizieller Ahndung von Kriegsverbrechen leisten und sieht sich somit als Dissertation interdisziplinärer Provenienz, angesiedelt zwischen Geschichtswissenschaft, Rechtshistorie und Geschlechterforschung.