Allianz der Demokratien

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Von Ralf Fücks, Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung, für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 20.04.2003

19. März 2008
Der transatlantische Konflikt um den Irak-Krieg markiert eine Zäsur, einen Wendepunkt im Verhältnis Europas zu den USA. Ob man den mentalen und politischen Riss zwischen "Old Europe" und der globalen Hypermacht als Geburtsstunde der Emanzipation Europas begrüßt oder als Gefährdung der Grundkoordinaten deutscher und europäischer Politik bedauert – ein Zurück zum status quo ante gibt es nicht. Die aktuellen Erschütterungen in den transatlantischen Beziehungen reflektieren eine tieferliegende politische und kulturelle Entfremdung zwischen den Gesellschaften diesseits und jenseits des Atlantik. Sie folgen mit der Verspätung eines Jahrzehnts der politischen Eruption von 1989/90, die das alte, bipolare Weltsystem einstürzen und die USA als alleinige Weltmacht übrig ließ.

Bis zum 11. September 2001 war unklar, wie die Vereinigten Staaten ihre neue Rolle interpretieren würden. George Bush begann seine Präsidentschaft mit der erklärten Skepsis gegenüber der globalen Ordnungsfunktion der USA und der Politik des "nation building" in den Krisenregionen an der Peripherie des Weltmarkts. Die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon veränderten diese Haltung schlagartig, und die neue Nationale Sicherheitsstrategie vom Herbst 2002 kodifiziert diesen Wandel. Der Rückzug auf die Festung Amerika ist keine Option mehr. Stattdessen herrscht die Doktrin der Vorwärtsverteidigung – weltweit und mit wechselnden Allianzen. Man muss es nicht als demagogische Verschleierung lesen, wenn Bush vor Veteranen im Weißen Haus erklärt: "Amerika hat keine territorialen Ambitionen. Wir wollen kein Imperium werden" – jedenfalls, muss man dazufügen, kein Imperium der alten Art. Der Schlüsselbegriff für die Strategen in der Administration und den konservativen think tanks ist "national security" – mit einem sehr weit gefassten Sicherheitsbegriff. Er schließt die Sicherheit der Rohstoffversorgung, von der nicht nur die amerikanische Ökonomie abhängt, ebenso ein wie die weltweite Bekämpfung terroristischer Netzwerke und eine aggressive Politik gegenüber Bestrebungen despotischer Regimes, die Verfügung über ABC-Waffen zu erlangen. De facto haben sich die USA damit zu einer weltweiten Stabilitäts- und Ordnungspolitik entschlossen. Darin steckt zugleich die Wahrnehmung globaler Verantwortung wie die Gefahr der Hybris: zu verkennen, dass selbst die USA mit dieser Aufgabe überfordert sind und umso stärkere Gegenkräfte mobilisieren, wie sie ihre Interessen zum Maßstab der Weltordnung erheben.

Der 11.09. hat die latent bereits vorhandene sicherheits-psychologische Diskrepanz zwischen den USA und Westeuropa vertieft. Bei uns ist der Schock über die Attacken auf New York und Washington rasch wieder verdrängt worden. Er hat das vorherrschende Weltbild nicht erschüttert, dass wir nach der Implosion des sowjetischen Imperiums nur noch "von Freunden umzingelt" sind und die Welt reif ist für eine Periode friedlicher Zusammenarbeit, die allenfalls noch von anachronistisch anmutenden lokalen Gewaltausbrüchen gestört wird. In den USA hat der 11.09. dagegen die Vorstellung befeuert, dass "die Welt da draußen" nach wie vor ein gefährlicher Ort ist, voller gewaltträchtiger Konflikte, die nur mit einer überlegenen Militärmacht im Zaum gehalten werden können: Hobbes statt Kant. In den USA ist der Albtraum einer Wiederholung der Anschläge des 11.09. mit Massenvernichtungswaffen lebendig – er tauchte noch am gleichen Tag auf und bestimmt bis heute das sicherheitspolitische Denken.

Öl und Politik

In Europa halten das viele für eine bloße Schutzbehauptung, hinter der die "eigentlichen" Triebkräfte amerikanischer Machtentfaltung versteckt werden. Vom SPIEGEL bis zu MTV herrscht Übereinstimmung, dass es "in Wirklichkeit" nur um eines gehe: Öl. Es wäre arg blauäugig zu behaupten, dass dieser Rohstoff keine Rolle für die Irak-Intervention spielt. Aber die Zusammenhänge sind etwas komplexer, als es "Kein Blut für Öl" behauptet. Zum einen ist die Abhängigkeit Japans und Europas von Ölimporten aus dem Nahen Osten deutlich höher als die der USA. Zum zweiten waren es die russische und französische Ölindustrie, die lukrative Kontrakte mit Saddam Husseins Regime abgeschlossen haben, was vermutlich nicht ohne Einfluss auf die Haltung ihrer Regierungen war und auch heute wieder eine Rolle spielt, da sich Russland und Frankreich über den Sicherheitsrat wieder Einfluss auf den Nachkriegs-Irak sichern wollen. Schließlich sind die Zeiten vorbei, da sich einzelne Nationen mit Hilfe ihres Militärs exklusiven Zugriff auf die Rohstoffe und Märkte anderer Länder sicherten: der Imperialismus wurde von der Globalisierung abgelöst, die auf dem Prinzip offener Märkte basiert. Weder wird das irakische Öl künftig von Exxon und Texaco monopolisiert noch wird es für den Energiehunger amerikanischer Klimaanlagen und SUV’s reserviert werden.

Inwieweit also geht es um Öl? Zu verhindern, dass die Ölstaaten am Persischen Golf von antiwestlichen Bewegungen übernommen werden, die aus dem Öl eine Waffe machen könnten, gehört zum Kern der amerikanischen Sicherheitsdoktrin. Gleichzeitig geht es um die begründete Gefahr, dass die Einnahmen aus dem Ölexport für die Entwicklung von ABC-Waffen eingesetzt werden. Die Aussicht, dass despotische, radikal antiisraelische Regimes wie der Irak Saddam Husseins oder der Iran der fundamentalistischen Mullahs über Mittelstreckenraketen mit atomaren und biologischen Gefechtsköpfen verfügen, sollte allerdings nicht nur die USA beunruhigen. Weil es wohl wahr ist, dass die Antwort auf diese Bedrohung nicht in einer Serie von "Entwaffnungskriegen" liegen kann, ist es umso dringlicher, eine konzertierte Initiative Europas und der USA für eine effektive Rüstungskontrollpolitik im Nahen und Mittleren Osten auf den Weg zu bringen. Zumindest diese Lektion sollten beide Seiten aus dem diplomatischen Desaster des Irak-Kriegs lernen.

Welche Rolle kann UNO spielen?

Eine Voraussetzung für eine Wiederbelebung der transatlantischen Allianz ist also ein ernsthafter Sicherheitsdialog, in dem sich beide Seiten über Krisenherde und Bedrohungspotentiale der kommenden Jahrzehnte und über eine angemessene zivile und militärische Strategie zur Eindämmung dieser Risiken verständigen. Eine zweite liegt in der Auseinandersetzung über die künftige Rolle der Vereinten Nationen. Auch hier gibt es auf beiden Seiten Bewegungsbedarf. Es liegt auf der Hand, dass die neu entdeckte flammende Liebe Frankreichs und Russlands zum UN-Sicherheitsrat machtpolitisch motiviert ist: es geht darum, die eigene weltpolitische Rolle aufzuwerten und die USA an die Kandare zu nehmen. Bei den Deutschen liegt der Fall etwas anders: hier glaubt man tatsächlich sehr viel mehr als in Paris und Moskau an die "Herrschaft des Rechts" und eines suprastaatlichen Regimes, das nach dem Beispiel der EU die Souveränität der Nationalstaaten zunehmend beschränkt und ersetzt – eine Idee, die Chirac und Putin jenseits taktischer Spiele ziemlich fremd sein dürfte.

Wir neigen dazu, die Rolle des Sicherheitsrats zu idealisieren. Er ist aber kein unparteiischer Sachwalter des Völkerrechts und der Menschheitsinteressen, sondern ein Gremium, in dem die Interessen von Groß- und Mittelmächten den Gang der Entscheidungen bestimmen. Kommt es zu Interessenkonflikten zwischen den Vetomächten, ist der Sicherheitsrat handlungsunfähig. Das war er über lange Strecken des Krieges auf dem Balkan wie während des sowjetischen Afghanistan-Krieges, und der allen rechtlichen Normen hohnsprechende russische Feldzug in Tschetschenien wird erst gar nicht Gegenstand des Rats, weil es sich ja völkerrechtlich um eine "innere Angelegenheit eines souveränen Staates" handelt, der zugleich über das Veto verfügt. So richtig es ist, dass es keine Alternative zum Sicherheitsrat als Organ globaler Krisen- und Konfliktbewältigung gibt, so fragwürdig ist es, ihn zur alleinigen Quelle der Legitimität militärischer Kriseninterventionen zu machen: war die Kosovo-Intervention, die der Beendigung großangelegter "ethnischer Säuberungen" diente, "völkerrechtswidrig", weil sie ohne explizites UN-Mandat stattfand? In der UN gelten alle Staaten gleich. Tatsächlich ist ihre demokratische Legitimation und ihre Hingabe an rechtsstaatliche Prinzipien äußerst verschieden. Das gilt selbst für den Sicherheitsrat. Die Berufung auf die UN ersetzt deshalb nicht eine eigenständige politische und völkerrechtliche Beurteilung von richtig und falsch, legitim und illegitim.

Europäische Einigung und Transatlantische Allianz

Es führt kein Weg daran vorbei, die USA dafür zu gewinnen, ihre Interessen innerhalb der UN und des Sicherheitsrats zu verfolgen und sich nicht auf einen "selektiven Multilateralismus" zurückzuziehen. Das wird nicht funktionieren, wenn die "Achse Paris-Berlin-Moskau" vor allem versucht, dem Riesen USA über den Sicherheitsrat Hände und Füße zu binden. Das Ergebnis einer containment-Strategie gegenüber den USA wäre eine Lähmung der UNO, ganz zu schweigen von den Kollateralschäden für die NATO und für die EU selbst. Eine der zentralen Lehren des Irak-Konflikts bleibt, dass der Versuch, Europa zum weltpolitischen Gegenspieler der USA zu verwandeln, schnurstracks zur Spaltung Europas selbst führt. Weder wird sich Großbritannien für eine solche Politik gewinnen lassen noch die ost-mitteleuropäischen Staaten, die hellhörig werden, wenn sie einem neuen französisch-deutsch-russischen Hegemonieanspruch gegenüberstehen. Außerdem erinnern sie sich noch zu genau an die Gefahren des Totalitarismus, um der Illusion zu erliegen, sie könnten auf das transatlantische Bündnis verzichten. Wer Europa politisch zusammenhalten will, darf die europäische Einigung nicht als strategische Abkopplung von den USA anlegen.

Umgekehrt kann die transatlantische Allianz kein Gefolgschaftsverhältnis sein. Wenn der Wille zur Zusammenarbeit klar ist, können auch alle Konflikte in der Sache ausgetragen werden, ohne jedes Mal eine Krise heraufzubeschwören. Es hilft allerdings nicht viel, gleichberechtigte Partnerschaft zu reklamieren, wenn sie nicht durch eine annähernd gleiches politisches – nicht unbedingt militärisches – Gewicht Europas gedeckt ist. Ökonomisch ist das bereits der Fall. Deshalb hat die EU in handelspolitischen Fragen schon heute ein gewichtiges Wort mitzureden – sofern sie sich einig ist. Ohne Fortschritte in der Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik hat das transatlantische Bündnis keine Zukunft. Europa muss nicht nur in der Lage sein, für Frieden und Sicherheit im eigenen Haus zu sorgen. Es muss seinen Blick stärker auf die Welt richten – nicht nur auf den Weltmarkt. Dazu gehört auch, dass die EU es nicht allein den USA überlässt, sich mit den konfliktgeladenen Themen der internationalen Sicherheitspolitik zu befassen: dem internationalen Terrorismus, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Beförderung eines demokratischen Regimewandels in despotischen Staaten.

Bisher lagen "Demokratie" und "Stabilität" in der Außenpolitik sowohl der USA wie der europäischen Staaten immer wieder im Widerspruch. Es waren nicht nur die Vereinigten Staaten, die im Interesse vermeintlicher Stabilität autoritäre Regierungen gestützt haben. Und es gab immer zwei Linien in der amerikanischen Außenpolitik: die Überzeugung, dass letztlich die weltweite Ausbreitung von pluralistischer Demokratie und Marktwirtschaft den globalen Interessen der USA am besten entspricht und die ‚realpolitische‘ Beurteilung von Regierungen allein anhand ihrer Nützlichkeit für die ökonomischen und militärischen Interessen der westlichen Vormacht. Jetzt ist vielleicht zum ersten Mal ein transatlantischer Konsens möglich, dass globale Stabilität am besten durch die Globalisierung der Demokratie erreicht werden kann. Darauf ließe sich eine neue transatlantische Partnerschaft aufbauen.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.

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